Zentraler Computer des Volkes (gelöscht)

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FrankK

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Hallo, Norbert

Eine ziemlich düstere, dystopische Zukunftsvision, die Du anfangs geschickt in hellen und positiven Farben gezeichnet hast. Eine Kurzgeschichte mit dem Basisplot „Widerstand“, welcher allerdings nur sehr kurz auflodert.

Erlaube mir ein paar Anmerkungen:

Einstieg:
[blue]Auf die Sekunde genau[/blue] um 6:00 [blue]westliche Standardzeit[/blue] glitten die Jalousien lautlos in den [blue]wand-integrierten Rollkasten[/blue].
Für meinen Geschmack ist es fast immer der erste Satz (oder der erste kurze Abschnitt einer Geschichte), der darüber entscheidet, ob ich weiterlese oder nicht.
Dein Storystart ist recht kompliziert, etwas „zäh“:
  • Es ist nicht wirklich wichtig, dass es auf die „Sekunde genau“ eine bestimmte Uhrzeit ist. Das kann Anthony sowieso nicht prüfen.
  • Die „westliche Standardzeit“ könnte einfacher durch „Ortszeit“ ersetzt werden, ist aber auch nicht wirklich wichtig. Die örtliche Positionierung ist detaillierter im Gericht definiert.
  • Der „wand-integrierte Rollkasten“ ist ein ziemlich arges Konstrukt.
Einfacher gestaltet könnte der Einstieg so aussehen:
Wie jeden Morgen pünktlich um sechs Uhr glitten die Jalousien nach oben.


Storylauf:
Salopp ausgedrückt: vorhersehbar.
Nein, nicht ganz so schlimm, wie es sich jetzt anfühlt, aber es sind viele „altbekannte“ Muster drin. Von Metropolis über Soilent Green bis hin zur Matrix, unterwegs mit vielen Querabstechern. HAL lässt grüßen.
Ich bin mir sicher, etwas ziemlich Ähnliches schon einmal gelesen zu haben, allerdings ging es da nur um den Computer eines einzelnen Hauses – der Bewohner (Single-Mann) ist von der künstlichen Intelligenz (weiblich) schlichtweg gefangen gehalten worden ...
Zurück zu Deinem Werk.
Nennenswerte Logikfehler sind mir nicht aufgefallen, nur vereinzelte Stolperstellen bei inkonsequent wechselnden Perspektiven:

"Es geht so, Sally."
Kräftig rubbelte sich Mayweather mit den Handflächen das Gesicht.
"Vielleicht zwei oder drei Blue Juice zu viel gestern Abend."
Keine Zeilenwechsel erforderlich, der Blickwinkel bleibt gleich. Ebenso bei:
"Wohin wollen Sie, Anthony?", fragte Sally mit weicher, ausdrucksloser Stimme.
"Ihre Arbeit beginnt erst in dreißig Minuten."
und
"Ein wenig frische Luft schnappen", erwiderte er desinteressiert.
"Ein wenig durch den Park schlendern und den Kreislauf in Schwung bringen."
Etwas arg unstimmig wird es an dieser Stelle:
"Ihre Vitalwerte geben keinen Anlass dazu", konterte [blue]Zecdev[/blue] hatnäckig. "Die menschliche Gemeinschaft kann nur reibungslos funktionieren, wenn jeder seine Pflichten gewissenhaft erfüllt. Alles greift ineinander, Anthony. Wenn die Menschen sich dessen nicht bewusst sind und nach ihrem Gutdünken handeln, wird das System gefährdet. Das kann viele Opfer fordern."
"Ich habe nicht vor, unser Gemeinwesen zu gefährden, [blue]Sally[/blue]. Ich werde mein Pensum erfüllen und länger arbeiten, wenn es sein muss, okay?"
Aus der Erzählebene geht hervor, dass „Zecdev“ spricht, Anthony antwortet in seinem Dialog aber „Sally“.
Mir als Leser bleibt das Unterscheidungskriterium (wann spricht Zecdev, wann spricht Sally) ziemlich verborgen. Hier könnte helfen, die sanfte, virtuell einfühlsame Stimme Sallys immer weder zu betonen, während Zecdev mit schnarrender, unpersönlicher Stimme agiert.
(Schon klar, computertechnisch sind beide gleich ...)


Formulierungen:
Vereinzelt auch liebevoll das notwendige „Techno-Blabla“ genannt.
Hier gibt es nicht viel anzusprechen, weil nicht intensiv auf die Technik eingegangen wird, nur einige wenige Situationen und Begriffe.
Ganz zu Anfang der „wand-integrierte Rollkasten“, wie schon angemerkt, ein ziemlich bizarres Konstrukt und ganz leicht auszumerzen.
Zecdev – der „Zentrale Computer des Volkes“. Ziemlich Deutsch-lastig. SF-tauglicher sind üblicherweise international gebräuchliche Bezeichnungen, entsprechend abgeleitet:
central folks computer (Cefco), daraus abgeleitet (eingängiger): central artificial intelligence (Cai). Inspiriert?
(Anthony Mayweather ist ja such ziemlich „undeutsch“ ;) )

Ganz schlimm finde ich immer die Verwendung derartiger „Vorurteile“:
Ein Rattern in der Wand ließ Mayweather verstummen.
Warum müssen solch moderne Geräte immer ein (für mich als Leser) unerträgliches Geräusch verursachen? Das ist so abgegriffen, wie dass berühmte paar qualmende Stiefel, die nach der Explosion am Ort des Geschehens stehen bleiben. Oder das brennende Rad, welches nach dem Unglück aus den Trümmern herausrollt.
Moderne Geräte müssen nicht rattern, zischen, quietschen, surren oder sonstige Geräusche von sich geben. Das leise klickende Geräusch beim aufspringen der „Abdeckung“ (nicht einfach nur „Klappe“ ;) ) reicht doch völlig aus.

Ihre Temperatur beträgt siebenunddreißig komma acht Grad.
Dies würde ich als „leicht erhöht“ bezeichnen, aber möglicherweise ist die normale Körpertemperatur in dieser Zeit ja auch etwas höher.
Seltsam ist nur, dass „Sally“ zur Ermittlung der Vitalwerte einen „Laserfächer“ benutzen muss, „Zecdev“ bei der Feststellung der Lüge aber darauf verzichten kann.

Die Arbeitspflicht ist eine der höchsten moralischen Pflichten des Menschen.
Vielleicht ist dies ja eine vorprogrammierte Antwort (Ausrede), aber für eine AI mutet es etwas seltsam (und unlogisch) an, im Zusammenhang mit Arbeitsleistung von Moral zu sprechen. Hier wäre der Begriff „Stützpfeiler des Gemeinwohl“ vielleicht angemessener.

Anfangs lief er hektisch in dem sechs mal acht Meter großen Raum auf und ab.
Eine weltumspannende Stadt, Ressourcenmangel, Platznot, Überbevölkerung ... und Zellen mit mehr als großzügigen Abmessungen. Dieser Raum besitzt eine Fläche von 48 Quadratmetern. Manche Familien leben in unserer Zeit schon in Wohnungen, die kleiner sind.


Sonstige Fehler:
Ja ja, die liebe Rechtsschreibung ... ;)

Keine ganze Handvoll Zeitfehlerchen:
Auch das [red]ist[/red] ihm zu einer angenehmen Routine geworden.
...
die wie ein Geschwür den ganzen Planeten [red]umspannt[/red]
...
Er stand nackt vor dem Waschbecken und [red]benetzt[/red] mit beiden Handfflächen sein Gesicht
...
Wie ein wildes Tier kam er sich vor, das [red]fliehen will[/red] oder verzweifelt um sich schlagen.
Tippfehler – immerhin noch eine recht ansehnliche Menge im ganzen Text verteilt.
Nur mal so, exemplarisch:
Sicherheitfenster / gesammte / sechtzehn / Handfflächen / Schlafzimmeer / zwischen beide Orten / gedämpt / Daür / hatnäckig / abgegen / erülle / Gmeinschaft / Potentielle
Die sind mir beim ersten Lesen ins Auge gesprungen. Wenn Du dein Werk überarbeiten solltest, können wir ja anschließend noch mal gemeinsam in die Detailsuche gehen.


Abschluss:
Mir fehlt noch so ein bischen was – der Overkill sozusagen, die Zuspitzung.
Aus der Situation heraus war mein erster, spontaner Gedanke so was wie eine „Rückführung der freiwerdenden Ressourcen“.
Dies könnte Zecdev in seinem Urteil anfügen:

Anthony Mayweather wird zum Tode durch Plasmabeschuss verurteilt. Die dadurch freiwerdenden Ressourcen werden dem Gemeinwohl zugeführt.
Dieses Urteil ist unverzüglich zu vollstrecken.
Es bliebe dem Leser und seiner Fantasie überlassen, welche Ressourcen genau gemeint sind. Angesichts der Problematik, die Ernährung von 102 Milliarden Menschen sicherzustellen ...

Darüber hinaus – der Nachruf:
Offizielle Bekanntmachung
Zecdev Informationscenter
Nachruf 2.272.252/01/1146

Am gestrigen Mittwoch, den 27.01.2196, verließ unser aufrechter und gewissenhafter Mitbürger ...
Ich spekuliere mal:
Todesfall-Nr. 2.272.252
Im ersten Monat (Januar) innerhalb des Bezirks 1146.
Ob das wirklich jeder erkennt? Ob das passt?
Rechnen wir mal – mit runden Zahlen.
Annahme: Insgesamt 1200 Bezirke weltweit.
Annahme: Gleichmäßige Sterberate in allen Bezirken.
Aufgerundet: Es ist ja noch etwas Monat übrig, also vermutlich 2,5Millionen Todesfälle.
Gerechnet:
2,5 Mio. * 12 Monate * 1200 Bezirke macht:
30 Milliarden Todesfälle jedes Jahr.
Um den Status quo der Bevölkerung aufrechtzuerhalten, muss faktisch jede Frau zwischen 16 und 35 Jahren (bei gleichmäßiger demoskopischer Verteilung) jährlich etwa 1,5 Kinder gebären.
(30 Milliarden Tote – 72 Milliarden Überlebende. Davon die hälfte Frauen: 36 Milliarden, davon 3/5 in einem gebärfähigen Alter: rund 21 Milliarden)

Was für ein Irrsinn ...


Freundliche Grüße aus Westfalen
Frank
 
Zecdev

Hallo FrankK,
das war ja recht ausführlich. Nett und lehrreich. Im Moment analysiere ich noch Texte, um neue Erkenntnisse zu gewinnen.
Zunächst die Fehler: bin irgendwann spät abends mit dem Eintippen fertig geworden, Korrektur kommt jetzt.
Die ersten Sätze sollten packen, keine Frage. Behalte ich im Hinterkopf. Rollkasten erscheint mir im Nachhinein auch banal (Ich erkenne halt erst nach und nach, wie vielfältig die Ansprüche des Schreibens sind).
Auf die Sekunde genau bezieht sich auf den Grad der Kontrolle, was aber an dem Punkt noch unklar ist. Sally ist Zecdev, wird aber vom Protagonisten aus persönlichem Empfinden in seinem privaten Bereich eben Sally genannt. Mit zunehmender Konfrontation verliert diese Selbsttäuschung an Bedeutung. Ich dachte, das kommt besser raus.
Story: Ich habe nicht den Anspruch, vollkommen neue Themen zu erfinden. Bei 200 Mio potentiellen deutschsprachigen Lesern halte ich das nicht für unabdingbar relevant. Wer von denen hat schon Soilent Green oder 2001 gesehen? Es geht um Unterhaltung und Aussage. Hier, das der Einzelne nur geduldet wird, solange er funktioniert. Der Bezug sind hier eher Machtgruppen und Geheimdienste, die Gefährdungen des Systems bekämpfen und/oder eliminieren, auch im großen Stil, um Strukturen zu erhalten.

Anmerkung zum Zeilenumbruch ist korrekt. Kenne ich aus Büchern. Fand ich optisch passender, läst aber annehmen, das wieder jemand anders spricht. Wird korregiert.

Temperatur: war aus dem Gedächtnis, hab mich wohl um 1 Grad vertan.
2 Mio Tote: Ist sicher Interpretationssache. Der 2 Mioste im Januar aus Distrikt, nicht im Distrikt X. Also 12 Monate mal 2 Mio. Könnte aber missverständlich sein.

Tschüss Norbert
 

brndmtzk

Mitglied
Interessant

Ich habe die Story anfangs mit Interesse gelesen. Sprachlich routiniert. Auch der Handlungsablauf ist logisch. Bis auf das Ende.
Das hat mir nicht ganz so gefallen. Zwei Gründe dafür:
- Es ist recht düster, obwohl die Story an sich eher gemäßigt optimistisch anfängt.
- Die Bestrafung an sich ist unlogisch. Da Sally alles unter Kontrolle hat hätte Sie Maywether auch irgendwo einsperren und zur Zwangsarbeit verdonnern können. Oder die Rationen kürzen können oder irgend etwas in der Art. So wie das Ende beschrieben ist könnte man annehmen, Sally verspürt so etwas wie Rachegelüste.
 
Freut mich, das dir die Geschichte zumindest ansatzweise gefällt. Aber Sally handelt konsequent, sie unterdrückt jegliche Missachtung der Regeln. Wenn sich einer verweigert, folgt bald der nächste. Das gefährdet das Funktionieren des Systems mit seinen knappen Resourcen. Denken wir dabei an Hitler oder Stalin, die alle anders Denkenden beseitigten oder heute an die Observation und Kontrolle durch Geheimdienste. Das System schützt seinen Fortbestand, auch durch vertuschte Morde, das ist die eigentliche Aussage. Deshalb der letzte Absatz und der bedauerliche Unfall. Der einzelne ist ersetzbar. Eine endgültige Lösung, die zu keinen weiteren Problemen führt.
 

Bernd

Foren-Redakteur
Teammitglied
Wenn man vom Computer absieht, ist die Tradition noch länger. Die Welt erinnert mich stärker an "Wir" von Samjatin als an Soilent Green.
Sie ist aber nur in einer Skizze angedeutet. Die exakten Beschreibungen, zum Beispiel der Uhrzeit, müssen sein, um die "Rationalität" und zugleich Kälte der Welt fühlen zu lassen. Es ist keine komfortable Welt, sondern eine Welt mit totaler Unterdrückung des Einzelnen.
Wie bei "Wir" ist sie in die Zukunft versetzt. Die Rolle der Freundin übernimmt der Computer. Er verrät nicht, sondern handelt nach seinen Instruktionen.
Insgesamt ist die Geschichte interessant geschrieben.

Viele Grüße von Bernd
 

Tula

Mitglied
Hallo Norbert

habe nun diese Geschichte nach ein paar Tagen noch ein zweites Mal gelesen. Sie ist, wie von anderen bemerkt, sehr gut geschrieben. Was den Spannungsaufbau und seine Auflösung angeht, finde ich, dass Du den ganzen gerichtlichen Prozess eigentlich streichen kannst, denn er zieht die Handlung in die Länge, ohne die Story damit entscheidend zu bereichern.

D.h. Dein Held öffnet die Tür und wird festgenommen. Danach kann eigentlich der Nachruf kommen, der Leser kann sich den Rest selbst zusammenreimen. Finde ich besser so, macht das Ende dramatischer und lässt es andererseits ein wenig offen.

Vielleicht ist das Ganze im Kern etwas zu düster, d.h. die Geschichte wird durch die Beschreibung der extremen Diktatur etwas unglaubwürdig. Dahingehend könnte sie auch nach der Festnahme und mit einem letzten verzweifelten Gedanken des Helden enden.

LG
Tula
 
Hallo Tula

Ich sehe nicht, das man hier etwas streichen könnte oder sollte. Der zweite Teil stellt die emotionelle und psychische Belastung von Mayweather recht intensiv dar und ist damit ein wesentliches Element der Geschichte. Die Spannung bleibt meines Erachtens erhalten.
Die Verhandlung ist eine verwaltungstechnische Formsache, denken wir an NS-Prozesse. Durch ein offizielles, wenn hier auch nicht-öffentliches, Verfahren dem Ganzen den Anschein von Rechtsstaatlichkeit geben. Das und die Argumentation sind ja neben der Konsequenz das Erschreckende und deshalb wesentliche Informationen. Aber einen leichten Spannungsverfall sehe ich hier auch.

LG
 
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