Zuckerfenster

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Episkopi

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Das Zuckerfenster

Ach, da ist sie wieder die alte Schallplatte aus Kindertagen. Irgendwie taucht sie immer wieder auf.

Dabei räumst du sie immer wieder so ordentlich weg. Weit weg.

Und immer an einen anderen Ort. Damit du eigentlich nicht weißt, wo sie ist.

Damit sie dir nicht dauernd in die Hände fällt.

Hast du dich jemals gefragt, ob deine Art Ordnung zu halten, nicht ein Spiel ist, bei dem du die

Dinge versteckst?

Irgendwann wiederum tauchen die Dinge dann ganz unerwartet wieder auf.

Tu nicht so, als wäre das unerwartet.

Wenn du die Dinge verschwinden lassen willst, dann musst du sie schon wegwerfen!

Der Plattenspieler muss nun zunächst entstaubt werden. Vorsichtig, aber nicht ungeübt,

holst du die schwarze Platte aus der Hülle, es gibt Bewegungen, die verlernt man nicht,

auch nicht das sorgfältige Auflegen einer Schallplatte.

Mach bloß keinen Kratzer auf die Platte!

Und nun vorsichtig den Arm des Plattenspielers auf die lange Rille senken,

Knistern.

Es waren einmal..... zwei Kinder.

Ihr beide

wart auch zwei Kinder, wie Hänsel und Gretel, du warst die Ältere, also nicht wie Hänsel.

Ihr wart zwei Mädchen. Du sitzt auf dem Sofa im Wohnzimmer. Nein, nicht heute, heute hast du gar

kein Sofa, früher, früher hattet ihr ein Sofa in einem, trotz Engpässe recht

geschmackvoll eingerichteten Wohnzimmer, indem ihr bitte sehr nicht toben und spielen solltet,

sondern Schallplatten hören könnt,

und da sitzt du, ach,

im hellblauen Rundstrickkleid mit einer Kette um den Hals und findest dich sehr sehr schön,

und findest dich nicht zurecht.

Hänsel und Gretel dagegen, hörst du, waren bitterarm, weswegen ihre Eltern, besonders die

Stiefmutter, beschlossen hatten, sich ihrer zu entledigen. Hänsel , und das hättest du sein

können, hatte die rettende Idee, Kieselsteinchen , die im Mondlicht schimmern zu streuen,

damit ihr euch im Walde zurecht findet, deine kleine Schwester und du,

eine glänzende Idee, im wahrsten Sinne des Wortes, und er hatte in der zweiten Nacht die Idee,

Brotkrümel zu streuen, eine Idee, die nicht funktionieren konnte, das hättest du auch sein können.

Du hattest öfter Ideen, die nicht funktionieren können, denk nur an deinen Versuch, Kartoffeln unter

einem Kirschbaum anzupflanzen, dem schattigsten und zugleich einzig unbepflanzten Ort des

Familiengartens,

da hast du dich nicht zurechtgefunden, wie auch, du hättest begreifen müssen, das kein Platz für

Feldversuche in diesem Familiengarten ist, stattdessen die Voraussage, dass das höchstens viele

kleine Kartoffeln werden können,eine Voraussage, die sich natürlich bestätigte.

Du wolltest in einem Land, in dem alles zum Engpass werden konnte, außer Kartoffeln und Kohl,

gerne eine Art Selbstversorgung haben, unabhängig von irgendwelchen Engpässen, und

die Stelle auf der Schallplatte, wo Hänsel und Gretel alleine im Wald schlafen müssen,

völlig abgeschnitten von

zuhause, so wenig es auch zuhause sein mag, magst du gar nicht, du spürst förmlich dieses nagende

Hungergefühl, und das magst du so gar nicht.

Aber Schallplatten kann man nicht vorspulen, um sich die schönsten Stellen herauszupicken,

damals musste man ein Märchen noch von Anfang bis Ende hören, wollte man das gute Ende hören,

oder auch die Stelle kurz vor der Mitte des Märchens.

Da wart ihr beiden, du irgendwie Hänsel im hellblauen Rundstrickkleid und deine kleine

Schwester die ganze Nacht durch den Wald geirrt, du warst ganz die Tapfere ,Große,

hast deine kleineeSchwester in das Strickkleid gewickelt, stellt euch vor, du Hänsel ohne

Strickkleid, nur in Hemd und Schlüpfer nachts im Wald, damit die kleine Schwester sich nicht

erkältet,

unglaublich !,

und dann steht ihr vor diesem köstlichen Haus :

ein riesengroßes Haus aus Lebkuchen, du möchtest das nicht Pfefferkuchen nennen, Kuchen

mit Pfeffer kann nicht gut schmecken, Kuchen mit dem ähnlich sämigen Geschmack wie einer gut

gebratenen Kalbsleber, etwas, was du sehr liebtest als Kind, solch ein Kuchen, das geht schon eher,

und was ist das?

Da sind Fenster im Lebkuchenhaus und die sind aus durchsichtigem Zucker.

Deine kleine Schwester hält sich lieber an die Schokolade, aus der die Läden zu den Zuckerfenstern

bestehen. Du aber musst wissen, wie es ist, Fenster aus Zucker zu essen.

Du rüttelst an einem der Fenster, es bricht mit einem schaurig schönen Geräusch heraus.

Mit völlig leerem Magen beißt du in das Zuckerfenster, es knackt und kracht in deinem Mund.

Davon bist du ganz geschockt.

Aber Angst hast du gar nicht.

Armer Hänsel.

Ab da wird es die Geschichte deiner heldenhaften kleinen Schwester sein, wie immer.

Du Hänsel, magst nicht glauben, dass eine Frau, wenn sie auch ganz schön hässlich ist, die solch

herrliche Kalbsleber nur für Hänsel zubereitet, ganz sämig, mit Kartoffelbrei und wunderbar viel

gebratenen Zwiebelringen, so grässlich und gemein sein kann, und du ermunterst kraft deines

Amtes als älteres Kind die kleine Schwester zu bleiben und in diesem herrlich bequemen Bettchen

zu schlafen.

Das war so klar, wird die Jüngere später sagen, dass das eine Falle ist, wie blöd kann man sein!

Gut, dass ich schlau war, gut dass ich mich brav und willig gestellt habe mit der Hexe,

gut, dass ich mir schon gedacht habe, dass die Hexe dich schlachten will, gut, dass ich dir den Trick

mit den Knöchelchen gesagt habe, ohne mich, wird sie sagen, hätte das alles kein so gutes Ende

genommen, so blöd wie du warst!

Danke liebe Schwester, aber die Platte hat echt einen Sprung inzwischen!

Da sitzt du nun auf dem Sofa, im hellblauen Rundstrickkleid und einer Kette um den Hals, und

du findest dich sehr, sehr schön, und du wartest.

Gleich kommt nämlich die allerschönste Stelle, die, wo du immer weinen musst, auch jetzt ohne

Sofa. Die Stelle, wo Hänsel und Gretel an einen Fluss kommen und nach hause wollen, obwohl das

nicht besonders zuhause gewesen ist, mit dieser Stiefmutter und den dauernden Engpässen,

aber es fällt ihnen sonst auch kein anderer Ort ein, wo sie hinkönnten oder hinwollten.

Oder hin gehören.

Knistern.

Entlein, liebes Entlein, da sind Hänsel und Gretelein.

Kein Steg und keine Brücken, nimm uns auf deinen Rücken.

Das gibt jetzt Tränen für einen ganzen Fluss bis hoch zur Ostsee. Hänsel weint bitterlich,

und die kleine Schwester weiß wieder einmal nicht, was das soll und wozu sie eigentlich eine große

Schwester hat.

Hänsel möchte sehr gerne auf den Entenrücken, und sehr gerne auch mit der kleinen Schwester,

lieber als allein, und dann möchte Hänsel von der Ente getragen werden weit,weit und immer

weiter, nur nicht nach hause.

Aber Hänsel muss die kleine Schwester wieder heile nach hause bringen. Wenigstens dass,

wo er sich doch sonst schon nicht besonders schlau angestellt hat. Und er hat sie ja doch lieb, die

kleine Schwester, irgendwie doch.

Ihr beiden,

du und Hänsel,

spürt das Krachen des Zuckerfensters zwischen den Zähnen.

Knistern.

Wenn am Lebkuchenhaus derHexe

der Biss in das Zuckerfensters nicht erschrocken hat, so tut er es jetzt bis ins Mark.

Da findet sich Hänsel nicht zurecht.

Du auch nicht.

Ade Hänsel.

Ade.

Die Ente kann sowieso nur einen tragen. Es ist doch nur eine kleine Ente.

Klar.

Ade Gretel. Machs gut!

Ade Hänsel, bis bald, hörst du?

Machs gut Gretel, machs gut....

und dann verschwindet Hänsel, der sich die Tränen verstohlen aus den Augen wischt, nur nicht

weinen vor der kleinen Schwester, die soll sich doch keine Sorgen machen,

verschwimmt am Ufer, je weiter die Ente schwimmt,

weit weg,

so dass Gretel nur noch hören kann, wie Hänsel nun doch,

da ihn die kleine Schwester nicht mehr sieht,

bitterlich weint!

Machs gut, Hänsel, ich mache mir solche Sorgen um dich.


Ihr beide aber, die ältere ohne Sofa und die jüngere im hellblauen Rundstrickkleid auf dem Sofa

im allen Engpässen zum Trotz sehr geschmackvoll eingerichteten Wohnzimmer von damals,

ihr beide,

seid nun voller Vorfreude, denn Hänsel hin Hänsel her,

jetzt kommt die Stelle, wo die Kinder die ganzen Schätze, die sie bei der scheußlichen, aber

zu guter letzt besiegten Hexe, abgestaubt haben, aus den Taschen kramen und mit den

Perlen und den Goldstücken durch das Zimmer springen!
Und Hänsel....

Du weißt doch. Das Verschwinden ist ein Spiel. Die Dinge verschwinden, weil du sie immer woanders hinlegst.

Wenn du willst, dass die Dinge wirklich verschwinden, dann musst du sie wegschmeißen.

Das hast du doch schon zuhause gelernt.

Also, Gretel, wenn du nicht mehr willst, dass ich Hänsel komme, weil

du

so sehr vor dem Biss in das Zuckerfenster des Hexenhauses erschrickst,

und du nicht mehr erschrecken möchtest,
nie wieder,

dann musst du endlich Ordnung lernen, dass haben wir dir ja schon als Kind dauernd gesagt.

Dann musst du die Schallplatte wegwerfen.
 



 
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