ich weiß, dass ich nichts weiß

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Hagen

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Mein Boss beorderte mich zum Krankenhaus, als ich gerade ins Speakeasy gehen und Kaffee trinken wollte.
Ich verschob das Kaffeetrinken auf später und rollte das Krankenhaus an. Dort humpelte eine junge Dame zum Taxi, und ich bot ihr an, sich auf mich zu stützen. Das nahm sie dankbar an und erzählte mir, als wir im Taxi saßen, ausgiebig von ihrer Knieoperation, und das sie eigentlich noch gar nicht entlassen werden sollte, aber sie hatte solche Sehnsucht nach ihrem Verlobten.
Ich konnte das verstehen, ich brachte sogar tiefes Mitgefühl auf, aber mein Potenzial an Nächstenliebe näherte sich der unteren Grenze als wir bei der angegebenen Adresse hielten. War nicht gerade eine Gegend um Grundbesitz zu erwerben um dort zu wohnen, und neben den Klingeln waren selten Namensschilder zu finden.
„Unterste Klingel links“, sagte die Dame, „mein Verlobter bringt ihnen den Rollstuhl.“
Ich ging los, die Wohnungstür unten links stand offen, Radaumusik scholl heraus. Drinnen saßen drei tätowierte Herren inmitten eines Haufens leerer Bierflaschen am Tisch und spielten Karten, Skat wie ich vermutete.
„Entschuldigung“, machte ich mich bemerkbar, „eine nette junge Dame wartet draußen im Taxi. Wer ist denn der Herr Verlobte?“
„Ich!“
Einer der sympathischen Herren drehte sich halb um, „was wollen sie?“
„Die Dame sagte, dass sie im Besitz eines Rollstuhls sind. Könnte ich den bitte haben? Sie ist noch nicht sonderlich gut zu Fuß.“
„Komm‘ ich im Moment nicht ran, ist im Keller“, sagte der Mann, ohne sich weiter zu bewegen.
„Ich kann die junge Dame aber nicht rein beamen.“
„Nehmen sie doch ihren Rollstuhl.“
„Entschuldigung, aber ich fahre ein ganz normales Taxi, da habe ich keinen Rollstuhl mit.“
„Wie? Sie haben keinen Rollstuhl mit? Sie müssen doch einen Rollstuhl mit haben, wenn sie kranke Leute transportieren.“
„Normalerweise verlassen die Leute das Krankenhaus in derart gesundem Zustand, dass kein Rollstuhl erforderlich ist.“
„Dann soll sie sich nicht so anstellen!“
„Na gut“, ich zuckte die Achseln und ging zum Taxi zurück.
„Ihr Verlobter ist noch etwas beschäftigt“, sagte ich, „wollen wir es noch mal so versuchen?“
Sie nickte, unterschrieb mir den Personentransportschein und quälte sich mühsam heraus, nachdem ich ihr die Tür geöffnet hatte. In dem Moment, in dem ich ihr meinen Arm reichen wollte, schrie einer von hinten:
„Hey, mach‘ meine Alte nicht an, sonst knallt’s!“
Der Herr Verlobte, wutentbrannt.
„Es lag nicht in meiner Absicht, mich in ihre Beziehung einzumischen. Wenn sie der Dame bitte helfen würden?“
„Ach was, die tut nur so! – Los, stell dich nicht so an und mach‘ hin! Wieso bist du denn heute schon da? Du wolltest doch erst nächste Woche...“
Die Dame wankte zum Haus; - war nicht gerade das absolute Traumpaar, wie man sie in den Vorabendserien der Seifenopern bestaunen kann, um eine ähnliche Beziehung anzustreben.
Egal.
Ich fuhr zurück zum Bahnhof und ging ins Speakeasy, Kaffeetrinken, dass heißt ich wollte Kaffee trinken, da rief mich mein Boss wieder an, was ich denn gemacht hätte mit der jungen Dame, sie wäre ja ganz aufgelöst und ihr Verlobter hätte sie rausgeschmissen und sie säße nun in einem Café.
Ich stellte mir nicht vor, was sich abgespielt hatte, sondern fuhr hin.
Die Dame wartete bereits vor dem Café, sie hatte diesmal einen Koffer mit und wollte wissen, wieso es solange gedauert hatte.
„Als ich sie vorhin vom Krankenhaus abgeholt habe, ist mir eine Idee gekommen“, sagte ich, „ich möchte gern eine Niere spenden. Um sicher zu gehen, dass die nicht ein General, ein Werbefritze oder ein Jurist bekommt, wollte ich mich gerade informieren, wie das geht.“
„Geht das denn? Kann man sich das aussuchen?“
„Weiß ich noch nicht. Ich hatte nicht die Zeit, mich zu informieren. – Wo wollen wir denn jetzt hin fahren?“
„In ein Hotel! Am besten zum Rauchfang! – Mein Verlobter will mich umbringen. Ich muss mir noch über einiges klar werden. – Meinen sie, man kann mir auch noch Organe entnehmen, wenn ich umgebracht worden bin?“
„Weiß ich nicht“, sagte ich beim Losfahren, nachdem ich ihren Koffer verladen hatte, und sie eingestiegen war, „aber ich kann ja mal fragen bei der Gelegenheit.“
„Eigentlich müssten sie sowas als Taxifahrer ja wissen.“
Ich war anderer Ansicht, und sie drängte mir erbarmungslos eine Diskussion über Organentnahmen auf, bis ich vor dem Rauchfang angehalten hatte. Ich flüchtete mich zum Eingang, aber ein Schild an der Tür teilte mir mit, dass der Rauchfang Montags Ruhetag hat.
Sie war der Auffassung, dass ich das hätte wissen müssen. Ich schlug ihr vor, das nahegelegene Gästehaus aufzusuchen, wir fuhren hin, nachdem sie es mir großzügig gestattet und drauf verwiesen hatte, wie einsam sie jetzt sei und ob sie vielleicht bei mir...
Das ging gar nicht, weil Anna-Karenina sehr kratzig werden kann, wenn ich jemanden Fremdes mitbrachte. Dass es sich bei Anna-Karenina um meine Salonlöwin handelte, verschweig ich wohlweislich.
Ich klingelte beim Gästehaus, nachdem ich das Taxi auf dem freien Parkplatz gestoppt hatte. Es dauerte ein Weilchen bis die Tür von einem freundlich dreinblickenden Herrn geöffnet wurde. Ich wollte gerade fragen, ob denn noch ein Zimmerchen für eine einsame Dame frei währe, doch die einsame Dame hatte das Taxi von mir unbemerkt zwischenzeitlich verlassen, war herbei gehumpelt und fauchte den Herrn an:
„Wie lange dauert das denn noch, bis hier endlich mal jemand kommt?“
Die Frage nach dem freien Zimmer erübrigte sich, „es tut mir leid, wir sind belegt“, ein bedauernder Blick streifte mich, „ich kann ihnen leider nicht helfen. Versuchen sie es bitte woanders.“
Tür zu.
Half alles nix, ich hielt ihr des Taxis Tür auf, obwohl sie behauptete, dass ich das hätte wissen müssen, und steuerte die Deutsche Eiche an.
„Ja“, sagte die einsame Dame, „die Deutsche Eiche ist gut. Ich würde gern noch ein Bier trinken vor dem Schlafengehen. Was kostet denn da ein Bier?“
„Da bin ich überfragt, gnädige Frau.“
„Das müssen sie aber wissen, als Taxifahrer!“
Bis zur Deutschen Eiche versuchte ich der Dame klar zu machen, das es nicht zum Wissensumfang eines Taxifahrers gehört, über die Bierpreise der hiesigen Hotels und Gaststätten informiert zu sein.
In der Eiche jedenfalls war man hocherfreut, einer einsamen Dame ein Zimmer für die Nacht zur Verfügung stellen zu können. Ich brachte ihren Koffer rein und geleitete die einsame Dame zum Eingang.
Doch wie im richtigen Leben schlug das Schicksal wieder mal gnadenlos zu, immer auf die gleiche Stelle. Der Inhaber der Deutschen Eiche zog die Oberlippe zu einem hämischen Grinsen in die Höhe und meinte:
„Die nehmen sie man wieder mit! Die kenne ich zur Genüge.“
Er brachte sogar den Koffer netterweise wieder ans Taxi, murmelte:
„Nix für Ungut“, schloss die Tür von innen und hängte ein Schild mit der Aufschrift: Sorry Closed ins Fenster.
Damit lag die Vermutung nahe, dass die einsame Dame Hiererorts bereits unangenehm aufgefallen war, zumal sie eine Rechtfertigung von mir verlangte, warum ich nicht gewusst hatte, dass ihr der Hotelier keine überwältigenden Sympathien entgegengebracht hatte.
Meine mit Mühe erworbene tiefenentspannte Gelassenheit näherte sich bereits der Erschöpfungsgrenze, als sie mir an der Baustelle vor der ehemaligen Zuckerrübenkocherei befahl, die Schilder zu ignorieren und auf dem Weg zum nächsten Hotel den kürzesten Weg durch die Baugrube zu fahren, oder diese nötigenfalls zu überspringen, schließlich befand sie sich in einer Notsituation, und der Taxifahrer im Fernsehen neulich hätte das auch so gemacht.
„Auf Befehle reagiere ich nicht mehr, seit ich von der Bundeswehr weg bin“, sagte ich, folgte der ausgeschilderten Umleitung und erklärte ihr dabei, dass derart ungewöhnliche Aktionen nur mit dem für extraordinäre Fälle vorgesehenen, auf dem Wagendach zu montierenden Blaulicht zulässig sind.
„Das hat zur Zeit mein Kollege“, fuhr ich fort, „weil er sich - wie in den guten Fernsehfilmen üblich - die hochschwangere Frau, die plötzlich und unvorbereitet, im Taxi niederzukommen beabsichtigt, zur Frauenklinik der Medizinischen Hochschule in Kürze zu fahren genötigt sehen wird.”
„Wann wird die Frau denn niederkommen?”
„Wie gesagt, heute im Zuge der Nachtschicht bei meinem Kollegen. Deshalb habe ich ihm bereits das Blaulicht überlassen!”
„Ah, ja”, sagte die einsame Dame, „wieso wissen sie das, und nicht das, was wirklich wichtig ist?“
„Was ist schon wichtig? - Für mich ist nur wichtig zu wissen, was es alles soll! – Aber das weiß meines Wissens keiner. Oder wissen sie das?“
„Was?“
„Was es alles soll! - Hier drängt sich wieder mal die Frage nach dem Daseinssinn gnadenlos auf!“
„Das müssen sie doch wissen! Das mit dem Daseinssinn. Sie sind doch Taxifahrer.“
„Ich weiß, dass ich nichts weiß; - um mal meinen Kollegen Sokrates zu zitieren.“
„Dann muss ihr Kollege Sokrates mal die Abendschule besuchen!“
„Gute Idee. Ich werd’s ihm sagen. – Vielleicht gibt es ja auch ein genetisches Wissen, und wir wissen doch etwas, ohne dass wir es wissen“, sagte ich und hielt vor dem Hotel Am Alten Bahnhof.
„Wären sie bitte kurzzeitig so nett, sich von ihrer liebenswürdigen Seite zu zeigen, damit sie problemlos einchecken können?“
„Wie?“
„Bleiben sie einfach sitzen, ich erledige das für sie.“
„Was kostet denn hier ein Zimmer?“
„Das weiß ich nicht. Ich werde aber nachfragen.“
„Sie wissen aber auch gar nichts!“
„Das erwähnte ich bereits.“
Ich stieg aus und ging zur Rezeption.
„Tach auch“, sagte ich zu der freundlichen Dame an der Rezeption, „ich habe gegenwärtig eine ebenso einsame wie extravagante Dame an Bord meines Taxis, die ein Zimmer wünscht.“
„Haben wir. - Was ist an der Dame so extravagant?“
„Ich vermeine eine bekannte Schauspielerin in ihr erkannt zu haben, jedoch bin ich mir nicht sicher. Zudem ist mir soeben ein Wagen auffällig unauffällig gefolgt, aus dem hin und wieder - wie ich mutmaße - das Objektiv einer Fernsehkamera ragte. Ich kann mir vorstellen, dass es sich bei dieser Aktion möglicherweise um einen Beitrag der Fernsehserie ‘Versteckte Kamera‘ oder Ähnliches handelt; - Sie verstehen?“
Die Dame nickt mit geheimnisvollem Gesicht.
„Bitte lassen sie sich nichts anmerken.“
„Nein, nein.“
War eine Freude mit anzusehen, wie ein lächelnder Mann den Koffer der Dame ins Hotel hievte und ein weiterer sie zum Eingang geleitete.
Das war’s für heute. Das Kaffeetrinken verschob ich auf den nächsten Tag.
Irgendwann wird jeder Taxifahrer aufhören zu versuchen seine Fahrgäste zu verstehen.
 
I

Inky

Gast
Rüschtüsch.
Taxifahrer sind auch nur ganz arme Menschen.
Inky bedankt sich für den Lesespaß :)) und winkt voller Mitgefühl.
 

Ironbiber

Foren-Redakteur
Was weißt Du eigentlich?

Hallo Hagen,

wiedermal eine amüsante Story und wenn ich nicht deiner Biografie entnommen hätte, dass Du dich in diesen Dingen auskennst, würde ich sie ins Reich der Fabel und Legende verbannen.

Hut ab vor dem stoischen Gleichmut der Taxizunft. Ich hätte die Dame irgendwo in den Wald gefahren, auf einen Baumstamm gesetzt, ihr Gepäck in die Baumkrone gehängt und mir hernach den verdienten Kaffee gegönnt.

Der gutunterhaltene Ironbiber
 

Hagen

Mitglied
Hallo Inky,
hallo eiserner Biber!

Wenn man vom Kammerjäger oder Kammersänger absieht, ist Taxifahrer doch einer der interessantesten Berufe; - wenn bloß diese nervigen Fahrgäste nicht wären!

Es grüßt herzlich
Euer tiefenentspannter Taxifahrer

_______
mögen die Straßen stets frei und eben sein
 



 
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