pension klarissa

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unica

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Pension Klarissa

Meine Pension am Meer ist immer aufgeräumt. Alle Zimmer sind gediegen möbliert. Akkurat und unaufdringlich. Fast keimfrei. Pauline hat umsichtig gearbeitet. Ich merke das an Kleinigkeiten. Täglich entstaubt sie die Blätter der Anthurien und poliert die versilberten Türklinken.
Die Villa liegt einsam auf einer Anhöhe. Umgeben von weißen Dünen, wilden Rosen und Wacholderbüschen neigt sie sich südseitig dem Wasser zu. Ein Rotbuchenwald verdeckt die Rückfront des Hauses. Den Hügel hinunter schlängelt sich ein steiler Trampelpfad zum schilfgesäumten Strand. In der Saison bevorzugen die Gäste den geteerten Zugang zum Meer.
Um diese Jahreszeit schätze ich die Ruhe, die oft trügerisch ist. Unaufhörlich geht der Wind. Der peitschende Wellenschlag des Wassers, Wind und Möwen erzeugen im Haus ein unheimliches Geräusch. Niemand ist wirklich in der Nähe. Keiner erkundigt sich nach meinem Befinden. Geschweige denn nach mehr. Die Insel ist so menschenleer, dass es mir beinahe Furcht einflösst. Die wenigen Gäste sind leicht zu überschauen: Ein älteres Ehepaar aus dem Taunus, eine junge Frau ohne Gepäck und drei einzelne Stammgäste, die jedes Jahr um diese Zeit hier eintreffen. Zwölf der siebzehn Zimmer sind unbewohnt. Drei Räume bewohne ich, zwei geräumige Kammern unterm Dach gehören bei Bedarf Pauline, der Haushälterin und Josef dem Koch.
Einmal am Nachmittag fährt Herr Konstantin zum Festland. Er muss das Fährboot benutzen, da es auf der Insel weder ein Postamt noch ein öffentliches Telefon gibt. Er überbringt und empfängt die Briefe der Gäste. Die ankommende Post ordnet er in die entsprechenden Schlüsselfächer in der Rezeption ein. Aus einer hübschen Box aus Weidenrohr nimmt er die zu verschickenden Briefe und Karten. Meiner Aufmerksamkeit entgeht keine Nachricht und keine Korrespondenz. In dieser Hinsicht verstehe ich keinen Spaß.
Die Frau ohne Gepäck behält auch zu den Mahlzeiten die Sonnenbrille auf. Ihre Aufmachung passt nicht in diese Gegend, eher in die Stadt. Bei der Anmeldung presste sie unbeholfen ihre Handtasche an den Bauch und rubbelte mit dem Ringfinger gegen ihr Kinn. Ihre langen Beine steckten in schwarzen Schaftstiefeln und sie trug einen eng sitzenden Lackmantel mit Zebrastreifen. Sie gab sich als Studentin aus, die einfach mal Ferien brauche und reservierte für eine Woche. Nervös erkundigte sie sich nach einer Modeboutique wo man Pullover kaufen kann. Nichts einfacher als das, erwiderte ich, hier gibt es nur Kallaukes Laden, da kriegen sie es alles von der Salatgurke bis zum Fahrrad.
Das Ehepaar aus dem Taunus verlässt die Pension stets nach einem Frühstück gegen sieben Uhr und kommt am Abend wieder. Wie eineiige Zwillinge tragen sie die gleichen türkisgestreiften Trainingsanzüge aus Acrylfaser. Ab und zu wirft die Frau eine Ansichtskarte in den Weidenrohrkorb mit nichts sagenden Bemerkungen zum Wetter. Einmal hat sie einen Brief eingeworfen. Darin lag ein ausgefüllter Tippschein. An jenem Morgen belauschte ich ein Gespräch zwischen den Eheleuten. Es verlief schleppend im Flüsterton und drehte sich um den drohenden Konkurs ihres Kurzwarengeschäftes. Wer braucht heute noch Nähseide, Knopfgarn und Reißverschlüsse? Er werde jedenfalls nicht aufgeben, meinte der Mann mürrisch. Die Zeiten kommen wieder, in denen mehr Menschen ihre Kleidung selber nähen müssen.
Inzwischen fühle ich mich heimisch in den Briefen meiner Stammgäste. In einer Ringmappe führe ich Buch über den Postverkehr.
Einer von ihnen ist ein vierzigjähriger Hauptkommissar, dessen Frau vor zwei Jahren mit seinem Volkswagen gegen einen Baum gerast ist. Seitdem, erzählte er mir, quäle ihn eine schlimme Neurodermitis, die er an der Meeresluft lindern wolle. Es stimmt mich traurig, dass er jeden Tag einen Brief an sie schreibt und ihn an seine eigene Adresse verschickt. Er teilt ihr alltägliche Dinge mit, spricht über laufende Mordfälle und fragt wann sie wieder zurückkomme. Aber Herr Konstantin bringt ihm nie einen Brief.
Der Mann von der Polizei hat einen schönen Namen. Elias wie der Prophet. Er wirkt immer unausgeschlafen und etwas gehetzt. Nachlässig und billig gekleidet. Seine Lederjacke ist abgetragen und die verschlissenen Manschetten seiner Hemden hängen aus den Jackenärmeln. Im Kampf gegen seinen Juckreiz verlässt er die Pension nur um einige Stunden zu wandern. Elena, seine tote Frau, hatte blond gelockte Haare und ein ahnungsloses Gesicht. Elias und Elena waren ein makelloses Paar. Im Rucksack des Polizisten habe ich ein Hochzeitsfoto gefunden.
Frau Viktoria Gerstenmeier, eine kleine kapriziöse Dame aus Wien, ist mein zweiter Stammgast in der frühen Jahreszeit. Sie war einmal eine berühmte Opernsängerin und besonders durch das Fernsehen populär geworden. Obwohl sie längst nicht mehr auftritt, ist ihre Garderobe divenhaft. Eine Prise vierziger Jahre Flitter rankt als rauchblaue Federboa um ihren dürren Hals wenn sie in das Frühstückszimmer einmarschiert. Ihr Kopf mit dem dichten weißen Haar steht in einem merkwürdigen Winkel vom Hals ab, was ihr etwas Fröhliches verleiht. Auf ihrem Gesicht ruht eine dicke Puderschicht, die aus der Nähe betrachtet wie von Trockenheit aufgeplatzter Lehmboden aussieht. Daraus glänzen halbgeschlossene, fast schwarze Augen, die das Unsichtbare fixieren. Ihre dunkelviolett schimmernde Lippen spitzt sie zu einem knittrigen Lächeln. Am Tag ihrer Ankunft heftet sie immer einen handgeschriebenen Bitte-Nicht-Stören-Zettel an ihre Tür. Dann kauert sie anmutig in einen Pelzmantel vermummt auf dem Balkon und betrachtet das Meer.
Der Strom der Fanpost, der ihr in den ersten Jahren nachgeschickt wurde, ist vor einiger Zeit versiegt. Ich las das überschwängliche Gesäusel einer Menge Männer, die sie Verehrteste Vicki nannten oder ihr Fotografien schickten, auf denen sie anzüglich posierten. Manchmal versuchte sie mit mir ins Gespräch zu kommen. Zum Piepen diese schmierigen alten Geier, machen einer zahnlosen Alten den Hof und wissen nicht mal wer Falstaff ist. Ihre manikürten Fingerspitzen klackerten auf dem Tisch. Das Beste an einem Künstlerleben ist die Freiheit, das Beste an einem Frauenleben sind richtig ausgebuffte Kerle und das Beste an Kerlen ist ihr Geld wenn sie sterben. Oh, sagte ich und zuckte zusammen, ich hatte nur einen, den ich liebte und der war kreuzbrav und hatte keins.
Herr Konstantin hat mir Klebebuchstaben gekauft. Heute schreibe ich einen anonymen Brief an die Ehefrau meines dritten Stammgastes. Ich habe beobachtet, das Arthur M. sie mit der Frau ohne Gepäck betrügt. Auch früher empfing er Damenbesuche über Nacht, die ich stillschweigend hingenommen habe, da er beim Trinkgeld nicht knauserig war. Er macht keinen Hehl aus seiner neuen Eroberung.
Bei Affären unter den Gästen muss ich mich einmischen.
Arthur M. ist ein erfolgreicher Geschäftsmann mit ungehobelten Manieren. Er schwimmt im Geld. Josef kocht für ihn extra provencialische Menüs und bestellt Bordeaux teurer Jahrgänge. Nachdem sein Kompagnon mit der Concorde verunglückt ist, wurde Arthur M. zum Alleinherrscher einer Firma, die Software für Anti-Aging Programme entwickelt hat.
Auch in diesen Kreisen scheitern die Ehen aus Liebe. Die Liebe zwischen Frau und Mann ist eine Lotterie, auf die die meisten hereinfallen. Ehen von Bestand werden durch Geld zusammengehalten. Was ich immer wieder feststelle, ist die Panik der Menschen vor den gesellschaftlichen Konsequenzen. Mein anonymer Brief wird deshalb wenig ausrichten. Dennoch ist er meine bescheidene Art der Rache.
Ich lache nicht. Meine Miene ist erstarrt. Ich speichere Energie für die Momente, in denen mein Gesicht zum Ausdruck kommt. Regelmäßig trainiere ich meine Gesichtsmuskeln. Ein natürliches Lächeln macht mir am meisten zu schaffen. Mit den Jahren sind meine Mundwinkel heruntergezogen, die vertikalen Fältchen über der Oberlippe schwer zu retuschieren. Der Unterkiefer ist erschlafft und ohne Kontur. Würde man meine Kinnform nachzeichnen reichte eine Linie nicht aus, man müsste die Schraffur einsetzen. Manchmal überfällt mich die Furcht entdeckt zu werden. Dabei trage ich Handschuhe und klebe die von mir über Wasserdampf geöffneten Briefumschläge sorgfältig wieder zu. Vor dem dackelgesichtigen Kommissar von der Mordkommission muss ich auf der Hut sein.
Ich höre das Gras wachsen und stelle keine Fragen. Alles was ich weiß, habe ich aus den Briefen und meinen täglichen kleinen Nachforschungen. Einige Gäste erzählen mir Geschichten. Sie halten mich für eine graue Maus, die aufmerksam zuhören kann. Die Unauffälligkeit in Person. Du lebst nur in der Welt der Anderen, sagte mein Exmann einmal zu mir. Vielleicht lebt die Welt der Anderen nur durch mich, sagte ich. Als ich ein kleines Mädchen war, entschied meine Mutter wie die Dinge auf dem Tisch angeordnet wurden. Wie die Bilder an der Wand hängen sollen. Wie die Gäste im Speisezimmer bedient werden sollen. Ich sehe meine Mutter am Rande der Küche stehen und das Personal dirigieren. Ich war ihre Alice im Wunderland, die nicht richtig hineinpasste in ihr ausgeklügeltes Leben. Während der ersten Monate ihrer Krankheit bemerkte ich wie sie langsam die Übersicht verlor. Kleine Fehler bei den Rechnungen und einzelne verwelkte Blumen waren die ersten Vorboten. Nachdem sie nur noch im Bett lag, blieb nichts wie es war. Die Pension, sagte sie. Du wirst sie verschludern. Aber allmählich eignete ich mir ihren Sinn für Ordnung und Demut an. Die Fähigkeit ein so kompliziertes Gebilde wie eine Pension zu führen.
Meine Pension am Meer ist immer aufgeräumt.
An dem Tag als ich meiner Mutter Klarissa anstelle ihrer blutdrucksenkenden Tabletten die ersten Vitamintabletten gab, ging ein starker Ostwind. Bei Anbruch ihres Todestages blickte sie mich lange an und lächelte. Seit ihrem Tod überfallen mich die Schatten und die Briefe lassen mir keine Ruhe mehr.
 

Retep

Mitglied
Hallo unica,

das ist eine "ruhige" Geschichte, da passiert nichts Großartiges, da gibt es keine Pointe. Trotzdem habe ich sie gerne gelesen.
Du beschreibst alles sehr genau, beim Leser können Bilder entstehen, er kann sich das Ambiente in dieser Pension vorstellen.




Ein paar kleine Korrekturen und Anmerkungen.
(Was ich mit Blau markiert habe, würde ich vielleicht anders formulieren.)


unica
Pension Klarissa

Meine Pension am Meer ist immer aufgeräumt. Alle Zimmer sind gediegen möbliert. Akkurat und unaufdringlich. Fast keimfrei. Pauline hat umsichtig gearbeitet. Ich merke das an Kleinigkeiten. Täglich entstaubt sie die Blätter der Anthurien und poliert die versilberten Türklinken.
Die Villa liegt einsam auf einer Anhöhe. Umgeben von weißen Dünen, wilden Rosen und Wacholderbüschen [blue]neigt[/blue] sie sich [blue]südseitig[/blue] dem Wasser zu. Ein Rotbuchenwald verdeckt die Rückfront des Hauses. Den Hügel hinunter schlängelt sich ein steiler Trampelpfad zum schilfgesäumten Strand. In der Saison bevorzugen die Gäste den geteerten Zugang zum Meer.
Um diese Jahreszeit schätze ich die Ruhe, [blue]die oft trügerisch ist. (Warum?)[/blue] Unaufhörlich [blue]geht[/blue] der Wind. Der peitschende Wellenschlag des Wassers, Wind und Möwen erzeugen im Haus ein unheimliches Geräusch. Niemand ist wirklich in der Nähe. Keiner erkundigt sich nach meinem Befinden. [blue]Geschweige denn nach mehr[/blue]. Die Insel ist so menschenleer, dass [blue]es (sie) [/blue]mir beinahe Furcht einflösst. Die wenigen Gäste sind leicht zu überschauen: Ein älteres Ehepaar aus dem Taunus, eine junge Frau ohne Gepäck und drei einzelne Stammgäste, die jedes Jahr um diese Zeit hier eintreffen. Zwölf der siebzehn Zimmer sind unbewohnt. Drei Räume bewohne ich, zwei geräumige Kammern unterm Dach gehören bei Bedarf Pauline, der Haushälterin [blue], [/blue]und Josef dem Koch.
Einmal am Nachmittag fährt Herr Konstantin zum Festland. Er muss das Fährboot benutzen, da es auf der Insel weder ein Postamt noch ein öffentliches Telefon gibt. Er überbringt und empfängt die Briefe der Gäste. Die ankommende Post ordnet er in die entsprechenden Schlüsselfächer in der Rezeption ein. Aus einer hübschen Box aus Weidenrohr nimmt er die zu verschickenden Briefe und Karten. Meiner Aufmerksamkeit entgeht keine Nachricht und keine Korrespondenz. In dieser Hinsicht verstehe ich keinen Spaß.
Die Frau ohne Gepäck behält auch zu den Mahlzeiten die Sonnenbrille auf. Ihre Aufmachung passt nicht in diese Gegend, eher in die Stadt. Bei der Anmeldung presste sie unbeholfen ihre Handtasche an den Bauch und rubbelte mit dem Ringfinger gegen ihr Kinn. Ihre langen Beine steckten in schwarzen Schaftstiefeln und sie trug einen eng sitzenden Lackmantel mit Zebrastreifen. Sie gab sich als Studentin aus, die einfach mal Ferien brauche und reservierte für eine Woche. Nervös erkundigte sie sich nach einer Modeboutique [blue],[/blue] wo man Pullover kaufen kann. Nichts einfacher als das, erwiderte ich, hier gibt es nur Kallaukes Laden, da kriegen sie [strike]es[/strike] alles von der Salatgurke bis zum Fahrrad.
Das Ehepaar aus dem Taunus verlässt die Pension stets nach [blue]einem (dem)[/blue]Frühstück gegen sieben Uhr und kommt am Abend wieder. Wie eineiige Zwillinge [blue]tragen sie (trägt es)[/blue]die gleichen türkisgestreiften Trainingsanzüge aus Acrylfaser. Ab und zu wirft die Frau eine Ansichtskarte in den Weidenrohrkorb mit nichts sagenden Bemerkungen zum Wetter. Einmal hat sie einen Brief eingeworfen. Darin lag ein ausgefüllter Tippschein. An jenem Morgen belauschte ich ein Gespräch zwischen den Eheleuten. Es verlief schleppend im Flüsterton und drehte sich um den drohenden Konkurs ihres Kurzwarengeschäftes. Wer braucht heute noch Nähseide, Knopfgarn und Reißverschlüsse? Er werde jedenfalls nicht aufgeben, meinte der Mann mürrisch. Die Zeiten kommen wieder, in denen mehr Menschen ihre Kleidung selber nähen müssen.
Inzwischen fühle ich mich heimisch in den Briefen meiner Stammgäste. In einer Ringmappe führe ich Buch über den Postverkehr.
Einer von ihnen ist ein vierzigjähriger Hauptkommissar, dessen Frau vor zwei Jahren mit seinem Volkswagen gegen einen Baum gerast ist. Seitdem, erzählte er mir, quäle ihn eine schlimme Neurodermitis, die er an der Meeresluft lindern wolle. Es stimmt mich traurig, dass er jeden Tag einen Brief an sie schreibt und ihn an seine eigene Adresse verschickt. Er teilt ihr alltägliche Dinge mit, spricht über laufende Mordfälle und fragt [blue],[/blue] wann sie wieder zurückkomme.[blue] Aber Herr Konstantin bringt ihm nie einen Brief. (das ist klar) [/blue]Der Mann von der Polizei hat einen schönen Namen. Elias wie der Prophet. Er wirkt immer unausgeschlafen und etwas gehetzt. Nachlässig und billig [blue](ist er)[/blue] gekleidet. Seine Lederjacke ist abgetragen und die verschlissenen Manschetten seiner Hemden hängen aus den Jackenärmeln. Im Kampf gegen seinen Juckreiz verlässt er die Pension nur [blue],[/blue] um einige Stunden zu wandern. Elena, seine tote Frau, hatte blond gelockte Haare und ein [blue]ahnungsloses[/blue] Gesicht. Elias und Elena waren ein [blue]makelloses[/blue] Paar. Im Rucksack des Polizisten habe ich ein Hochzeitsfoto gefunden.
Frau Viktoria Gerstenmeier, eine kleine kapriziöse Dame aus Wien, ist mein zweiter Stammgast in der frühen Jahreszeit. Sie war einmal eine berühmte Opernsängerin und [blue](ist)[/blue]besonders durch das Fernsehen populär geworden. Obwohl sie längst nicht mehr auftritt, ist ihre Garderobe [blue]divenhaft[/blue]. Eine Prise [blue]vierziger Jahre Flitter [/blue]rankt als rauchblaue Federboa um ihren dürren Hals [blue],[/blue] wenn sie in das Frühstückszimmer einmarschiert. Ihr Kopf mit dem dichten weißen Haar steht in einem merkwürdigen Winkel vom Hals ab, was ihr etwas Fröhliches verleiht. Auf ihrem Gesicht ruht eine dicke Puderschicht, die aus der Nähe betrachtet [blue],[/blue] wie von Trockenheit aufgeplatzter Lehmboden aussieht. Daraus glänzen halbgeschlossene, fast schwarze Augen, die das Unsichtbare fixieren. Ihre dunkelviolett schimmernde Lippen spitzt sie zu einem knittrigen Lächeln. Am Tag ihrer Ankunft heftet sie immer einen handgeschriebenen Bitte-Nicht-Stören-Zettel an ihre Tür. Dann kauert sie anmutig in einen Pelzmantel vermummt auf dem Balkon und betrachtet das Meer.
Der Strom der Fanpost, der ihr in den ersten Jahren nachgeschickt wurde, ist vor einiger Zeit versiegt. Ich las das überschwängliche Gesäusel einer Menge Männer, die sie Verehrteste Vicki nannten oder ihr Fotografien schickten, auf denen sie anzüglich posierten. Manchmal versucht[red]e[/red] sie [blue],[/blue] mit mir ins Gespräch zu kommen. Zum Piepen diese schmierigen alten Geier, machen einer zahnlosen Alten den Hof und wissen nicht mal [blue],[/blue] wer Falstaff ist. Ihre manikürten Fingerspitzen [blue]klackerten[/blue] auf dem Tisch. Das Beste an einem Künstlerleben ist die Freiheit, das Beste an einem Frauenleben sind richtig ausgebuffte Kerle und das Beste an Kerlen ist ihr Geld [blue],[/blue] wenn sie sterben. Oh, sagte ich und zuckte zusammen, ich hatte nur einen, den ich liebte und der war kreuzbrav und hatte keins.
Herr Konstantin hat mir Klebebuchstaben gekauft. Heute schreibe ich einen anonymen Brief an die Ehefrau meines dritten Stammgastes. Ich habe beobachtet, das Arthur M. sie mit der Frau ohne Gepäck betrügt. Auch früher empfing er Damenbesuche über Nacht, die ich stillschweigend hingenommen habe, da er beim Trinkgeld nicht knauserig war. Er macht keinen Hehl aus seiner neuen Eroberung.
Bei Affären unter den Gästen muss ich mich einmischen.
Arthur M. ist ein erfolgreicher Geschäftsmann mit ungehobelten Manieren. Er schwimmt im Geld. Josef kocht für ihn extra provencialische Menüs und bestellt Bordeaux teurer Jahrgänge. Nachdem sein Kompagnon mit der Concorde verunglückt ist, wurde Arthur M. zum Alleinherrscher einer Firma, die Software für Anti-Aging Programme entwickelt hat.
[blue]Auch in diesen Kreisen scheitern die Ehen aus Liebe. Die Liebe zwischen Frau und Mann ist eine Lotterie[/blue], auf die die meisten hereinfallen. Ehen von Bestand werden durch Geld zusammengehalten. Was ich immer wieder feststelle, ist die Panik der Menschen vor den gesellschaftlichen Konsequenzen. Mein anonymer Brief wird deshalb wenig ausrichten.[blue] Dennoch ist er meine bescheidene Art der Rache. (Wofür?)[/blue]Ich lache nicht. Meine Miene ist erstarrt. Ich speichere Energie für die Momente, in denen [blue]mein Gesicht zum Ausdruck kommt[/blue]. Regelmäßig trainiere ich meine Gesichtsmuskeln. Ein natürliches Lächeln macht mir am meisten zu schaffen. Mit den Jahren sind meine Mundwinkel heruntergezogen, die vertikalen Fältchen über der Oberlippe schwer zu retuschieren. Der Unterkiefer ist erschlafft und ohne Kontur. Würde man meine Kinnform nachzeichnen reichte eine Linie nicht aus, man müsste die Schraffur einsetzen. Manchmal überfällt mich die Furcht entdeckt zu werden. Dabei trage ich Handschuhe und klebe die von mir über Wasserdampf geöffneten Briefumschläge sorgfältig wieder zu. Vor dem dackelgesichtigen Kommissar von der Mordkommission muss ich auf der Hut sein.
Ich höre das Gras wachsen und stelle keine Fragen. Alles was ich weiß, habe ich aus den Briefen und meinen täglichen kleinen Nachforschungen. Einige Gäste erzählen mir Geschichten. Sie halten mich für eine graue Maus, die aufmerksam zuhören kann. Die Unauffälligkeit in Person. Du lebst nur in der Welt der Anderen, sagte mein Exmann einmal zu mir. Vielleicht lebt die Welt der Anderen nur durch mich, sagte ich. Als ich ein kleines Mädchen war, entschied meine Mutter wie die Dinge auf dem Tisch angeordnet wurden. Wie die Bilder an der Wand hängen soll[blue]t[/blue]en. Wie die Gäste im Speisezimmer bedient werden soll[blue]t[/blue]en. Ich sehe meine Mutter am Rande der Küche stehen und das Personal dirigieren. Ich war ihre Alice im Wunderland, die nicht richtig hineinpasste in ihr ausgeklügeltes Leben. Während der ersten Monate ihrer Krankheit bemerkte ich [blue],[/blue] wie sie langsam die Übersicht verlor. Kleine Fehler bei den Rechnungen und einzelne verwelkte Blumen waren die ersten Vorboten. Nachdem sie nur noch im Bett lag, blieb nichts[blue] , [/blue]wie es war. Die Pension, sagte sie. Du wirst sie verschludern. Aber allmählich eignete ich mir ihren Sinn für Ordnung und [blue]Demut[/blue] an. Die Fähigkeit [blue],[/blue] ein so kompliziertes Gebilde wie eine Pension zu führen.
Meine Pension am Meer ist immer aufgeräumt.
An dem Tag als ich meiner Mutter Klarissa anstelle ihrer blutdrucksenkenden Tabletten die ersten Vitamintabletten gab, [blue]ging[/blue] ein starker Ostwind. Bei Anbruch ihres Todestages blickte sie mich lange an und lächelte. Seit ihrem Tod überfallen mich die Schatten und die Briefe lassen mir keine Ruhe mehr.
 



 
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