zweimal gestorben...

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Zweimal gestorben
von Sir Charles Blackwood

Mit einem leichten Schmatzen auf den Lippen lasse ich mir den rauchigen Singlemalt schmecken. Heiße Wärme steigt aus der Magengegend empor und läßt mich die Kälte und den Schneesturm, der draußen vor der Tür heult zwar nicht vergessen, doch in einem milderen Licht sehen. Das Feuer im Kamin lodert und verbreitet eine anheimelnde, knisternde Gemütlichkeit, die langsam eine bleierne Müdigkeit, verstärkt noch durch den starken Whiskey, in mir aufkommen läßt. Mein Blick wandert in der Bibliothek umher. Vertrautes, seit Monaten, während ich auf einer langen Europareise war, nicht gesehen, erkennen wohlwollend meine Augen. Ich denke zurück an den bewußten Abend in Wien.

Sechs Wochen sind es jetzt her, seit ich bei Peter Lechner, einem alten Freund aus der Studienzeit zu Gast war. Der Abend, ein wirklich schöner, milder Spätherbsttag, lud zum Verweilen auf der Terrasse ein. Wir waren bei der, ich weiß nicht wievielten, Flasche Spätburgunder angelangt, als ein Gast, den ich an diesem Abend kennengelernt hatte, eine Geschichte erzählte, die ich bis heute nicht vergessen sollte.

Professor Moser, Namensvetter des berühmten Schauspielers, ein vornehmer älterer Herr so um die sechzig herum, dessen Gesicht von vielem Erlebten und Reisen gezeichnet und gegerbt war, ausgestattet mit einem lustigen Schnauzbärtchen im Gesicht, und Augen, denen man nicht ansehen konnte, ob sie sich jetzt über einen lustig machten, oder alle Weisheit der Welt beinhalteten – wasserblau, tiefgründig und fesselnd, sollte uns das Grauen lernen. Wie ich später am Abend erfuhr, war er Professor für Ägyptologie an der Historisch- Kulturwissenschaftliche Fakultät in Wien. Während ich unsere Gläser nachschenkte, fing er an, etwas von sich und seiner Arbeit zu erzählen. Und während wir ihm gespannt zuhörten, kam er auf eine Sache zu sprechen, die er selber in Luxor gehört hatte. Eine für uns unwahrscheinliche Geschichte, für dessen Wahrheitsgehalt er sich aber unbedingt verbürgen wollte.
Und zwar saßen er und sein Team wie immer abends in einer gemütlichen Runde. Die Besprechung über die Aufgaben des nächsten Tages war erledigt und man erzählte sich den neuesten Klatsch von der Ausgrabungsstelle und Geschichten aus der fernen Heimat. Dr. Dr. Weißbrumsel, sein damaliger persönlicher Assistent vom Archäologischen Museum in Berlin erzählte zu fortgeschrittener Stunde dann die Sache von seinem zweimal gestorbenen Großvater mütterlicherseits.

„Wissen Sie meine Herren“, Professor Moser schaute in unsere Runde, „genauso wie Sie, so habe ich damals auch geguckt. Aber, hören Sie sich erst einmal die Geschichte an, und entscheiden dann darüber.“ Mit diesen Worten zündete er sich umständlich eine Havanna an. Als sie zufriedenstellend brannte, würzigen Duft verbreitende Dampfwolken die Sicht verschlechterten, fing er dann endlich an, die Geschichte zu erzählen, die ihm sein damaliger Assistent erzählt hat…

Dr. Dr. Weißbrumsel war damals frisch verheiratet und mit seiner Frau auf Hochzeitsreise in Venedig. Auf der Rückreise fuhren sie über Wien, es muß übrigens hier ganz in der Nähe gewesen sein, um den Großvater seiner Frau zu besuchen. Seit einigen Jahren Witwer, allein und hoch in den Achtzigern, war er dankbar für den Besuch, zumal er aus gesundheitlichen Gründen vor drei Wochen nicht zur Hochzeit nach Berlin reisen konnte. Mittlerweile ging es ihm aber wieder besser und so konnte er es nicht erwarten, seine Enkelin und ihren Mann begrüßen zu können. Dann war es soweit und das Hallo fiel entsprechend herzlich aus. Das Wochenende ging schnell herum und der Tag der Abreise nach Berlin rückte näher. Als sie die Trauer in den Augen des Großvaters sahen, wurde ihnen das Herz schwer. Wieder allein lassen? Nein, das konnten sie nicht. Als sie am Abend im Bett lagen, sprachen sie darüber. Und so war der Entschluß schnell gefaßt, Großvater mußte mit. Die Wohnung konnte später aufgelöst werden, das Haus in Berlin verfügte eh über genug Platz und als man dem Großvater am nächsten Morgen den Entschluß mitteilte, war die Freude groß. Sie hatten Glück und bekamen für Mittwoch Platzkarten im Frühzug nach Berlin. Und so ging es am darauffolgenden Tag, nachdem das Nötigste geregelt war, auf die Reise. Großvater saß in einer gemütlichen Decke gehüllt, denn er fror leicht, am Fenster und beobachtete die Landschaft, während das junge Paar gegenüber Platz nahm. Die restlichen Plätze waren leer und so konnten sie es bequem angehen.
Die Grenze war bald passiert und kurz hinter München verfiel man durch das sanfte Rütteln des Schnellzuges in einen leichten Schlaf. Die Hektik der letzten Tage hatte sie eingeholt, der Körper forderte sein Recht. Dann wurde Weißbrumsel auf einmal von seiner Frau aus dem Schlaf aufgerüttelt. Er wußte gar nicht, was los war. Doch dann sah er hinüber zum Großvater, der in diesem Moment mit einem tiefen Seufzer seinen letzten Atemzug tat und verschied.
Erstarrt vor Schreck konnten sie keinen Finger rühren. Doch langsam fanden sie wieder klare Gedanken. Es konnte nur das Herz gewesen sein. Die Freude und Aufregung war für den alten Mann zu viel gewesen. Was tun? Erst einmal in den Speisewagen gehen und einen kräftigen Cognac trinken. Sie lehnten den Großvater zurück, deckten ihn halb zu, sodaß es aussah, als würde er fest schlafen. Eine unverfängliche Szene für einen Vorbeigehenden. Vorsichtshalber zogen sie auch noch die Vorhänge zu, damit das Abteil besetzt aussah, denn der Zug hatte sich in München erheblich gefüllt und es würde nicht einfach sein, das Abteil für sich zu verteidigen. Und so gingen sie mit mulmigem Gefühl nach hinten in den Speisewagen. Bald darauf hielt der Zug und weitere Reisende stiegen zu. Doch den Cognac belebte nicht nur ihre Nerven, sondern machte auch hungrig. Und so bestellten sie sich noch ein Mittagessen, zumal die Uhr auf 12 Uhr ging. Der Großvater würde eh keinen Hunger mehr haben. Es würde schon gut gehen und in Berlin könnten sie ihm eine gute Grabstätte wählen. Und dem Aufwand mit der kostspieligen Überführung und dem umständlichen Papierkram, Weißbrumsel war damals schon ein, sagen wir mal, „sparsamer Mensch“ konnte man so aus dem Wege gehen. Alles würde sich so von alleine regeln. Ja, wäre da nicht Hans Müller gewesen…

Hans Müller, Reisender in Sachen Holzbrettchen und Küchenzubehör, war in der letzten Station zugestiegen, bepackt mit einem riesigen und irrsinnig schwerem Musterkoffer, sowie einem etwas kleinerem Handkoffer mit seinen Reiseutensilien. Er schwitzte sich den Ganz lang, um noch einen Sitzplatz und Platz für seine Koffer zu bekommen. Und so kam er auch an das Abteil von Dr. Dr. Weißbrumsel vorbei, welches verschlossen mit zugezogenen Gardinen ihm abweisend sein Gesicht zeigte.
„Hmmm“, dachte er bei sich, „wer nicht wagt, der nicht gewinnt.“ Mit diesen Gedanken zog er forsch die Türe auf und war erfreut darüber, ein quasi leeres Abteil vorzufinden. Lediglich am Fenster sah er im Halbdunkeln der zugezogenen Gardinen einen alten Mann sitzen und schlafen. Schnell hievte er seine Koffer ins Abteil und zog die Türe hinter sich wieder zu. Er zog seinen Mantel aus, hängte ihn an den Haken und nahm den schweren Musterkoffer in beide Hände. Der mußte jetzt seinen Platz oben im Gepäcknetz finden. Mit Schwung stemmte er ihn in die Höhe. Und gerade in dem Moment, wo er ihn mit letzter Kraft auf die Gepäckablage wuchten wollte, passierte der Zug eine Weiche und bremste unvorhersehbar stark ab. Seinen Halt verlierend, entfiel ihm der schwere Koffer und knallte mit voller Wucht auf den Kopf des alten Mannes. Dieser wurde von dem Schwung auf den Boden geschleudert und blieb dort liegen.
Entsetzen packte Hans Müller, als er den bewegungslosen Mann untersuchte. Der war ja mausetot! Der schwere Koffer muß ihm das Genick gebrochen haben. Panik befiel ihn? Was machen? Er war eh wegen diversen Schlägereien schon vorbestraft. Und diese Geschichte hier würde ihm niemand glauben. Daß es ein schrecklicher Unfall war, er keine Schuld hatte. Verschwinden würde er wieder hinter Gittern. Das Tageslicht erst als alter Mann wieder zu sehen bekommen. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und überlegte fieberhaft.
Gesehen hatte ihn niemand. Die Gardinen waren zugezogen, die Türe verschlossen. Er mußte schnell handeln, bevor jemand das Abteil betrat. Die vielen Koffer oben im Netz zeigten ihm, daß der alte Mann nicht alleine im Abteil saß. Etwas, das ihm vorhin gar nicht aufgefallen war. Da kam ihm eine Idee! Er zog die Gardinen am Fenster auf. Schnell sah er, daß sie gerade durch die Landschaft fuhren, fernab von einer größeren Ortschaft. Das Fenster auf, den alten Mann gepackt und aus dem Abteil geworfen, war Minutensache. Jetzt noch die Decke hinterher. Welcher Koffer dem Mann gehörte, konnte er nicht feststellen, so ließ er vorsichtshalber davon ab. Er machte das Fenster zu, richtete seine Kleider und setzte sich auf den Fensterplatz. Langsam kam er wieder zur Ruhe.
Eine halbe Stunde später, Weißbrumsel hatte mit seiner Frau ein vorzügliches Kesselgulasch gegessen, welches Körper und Magen beruhigte, machten sie sich wieder zurück auf den Weg zu ihrem Abteil. Da war es schon: Abteil Nr. 18. Oh Schreck! Wieso waren die Gardinen an der Abteiltüre zurückgezogen? Weißbrumsel zog die Türe zurück, trat ein. Ein fremder Mann saß auf Großvaters Platz. Seine Beine wollten nachgeben, die Sinne schwinden. Mit Mühe konnte er seiner Stimme soviel Kraft geben, den Fremden zu fragen, wo denn der alte Mann geblieben sei?
Der alte Mann? Ja, der hat hier geschlafen und wohl auch verschlafen. Er ist aufgewacht und dann überstürzt an der nächsten Station ausgestiegen. Noch nicht einmal seinen Koffer habe er mitgenommen.
Und so kam es, daß Weißbrumsel, seine Frau stand immer noch draußen auf dem Gang, bleich wie ein Nachtgespenst rückwärts hinaustaumelte und mit ihr zurück in den Speisewagen ging…

„Tja“, Professor Moser tat einen Zug aus seiner würzigen Havanna, „so ist das damals gewesen. Wie die Sache dann letztendlich ausgegangen ist, weiß ich nicht mehr. Aber gestimmt hat sie wirklich.“ Er hielt mir sein leeres Glas entgegen und seine blauen Augen sahen mich tiefgründig, soll ich sagen - verschmitzt an.“

So, und jetzt entscheiden Sie selber:

Kann es sein, das diese Geschichte, so unwahrscheinlich sie auch klingen mag, der reinen Wahrheit entspricht? Oder habe ich Sie einfach nur geschickt hinters Licht geführt? Vieles ist doch bei näherer Betrachtung anders, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Ist es ein moderner Mythos, der selbst Fachleute in die Irre führt?
 
P

Pikolaus

Gast
Da erzält einer, dass einer von einer Erzählung erzählte ...

Hallo Sir Charles,
spontaner Leseeindruck: ein Mann ohne Namen erinnert sich an ein vergangenes Treffen mit einem Freund mit Namen, bei dem wiederum ein Gast eine Geschichte einer seiner Mitarbeiter zum Besten gibt. Für mich können die ersten fünf Absätze gestrichen werden. Dort wird etwas erzählt, was für den eigentlichen Kern der Erzählung unbedeutend ist. Ich nehme an, du wolltest die Erzählumgebung am lodernden Kamin schaffen.
Die skurrile Erzählung hat das Zeug für eine Kurzgeschichte: unmittelbarer Einstieg, viel Handlung, ein dramatischer Konflikt und ein überraschendes und offenes Ende.

Nein, so wie du es erzählst, ist es logisch nicht glaubhaft. Einen alten Mann mal eben aus dem Fenster werfen - nein, zu schwer, zu schmales Fenster. Die vielen Koffer im Netz fallen nicht auf? Abteiltür verschlossen? In welchen Zügen gibt es das? Koffer lagern auf Metallgestellen und mir ist neu, dass eine Abteiltür verschlossen werden kann, eher zugeschoben.
Die Angehörigen des plötzlich verstorbenen Opas werden kaum so entspannt mit der Situation umgehen und sich in den Speisewagen setzen; James Bond lässt grüßen. Am Anfang der Erzählung werden sie als um den Opa sehr besorgt beschrieben.
Wenn ich Zeit habe, folgt eine ausführlichere Kritik.
Die Idee finde ich gut.
 
P

Pikolaus

Gast
Ich liefere nur noch ein paar Dinge nach, die mir beim Lesen und Verständnis Mühe gemacht haben. Vorrausschicken möchte ich, dass ich die eigentliche Erzählung schön makaber finde und als Geschichte isloiert für sich losgelöst vom Erzähler Herrn Moser betrachte.

Heiße Wärme steigt aus der Magengegend empor
Statt heiß würde ich wohlig schreiben. Heiß hat Schmerzgedanken zur Folge, bei mir.

Vertrautes, seit Monaten, während ich auf einer langen Europareise war, nicht gesehen, erkennen wohlwollend meine Augen.
Vertrautes ... erkenn[red]t[/red], Einzahl!
So wie du es in die Reihenfolge bringst, erkennt das Vertraute deine Augen. Müsste es nicht für einen richtigen Bezug heißen: Meine Augen erkennen ... Vertrautes. Dann darf erkennen auch stehen bleiben. Ist das jetzt pingelig von mir?


Erst einmal in den Speisewagen gehen und einen kräftigen Cognac trinken. Sie lehnten den Großvater zurück, deckten ihn halb zu, sodaß es aussah, als würde er fest schlafen. Eine unverfängliche Szene für einen Vorbeigehenden. Vorsichtshalber zogen sie auch noch die Vorhänge zu, damit das Abteil besetzt aussah, denn der Zug hatte sich in München erheblich gefüllt und es würde nicht einfach sein, das Abteil für sich zu verteidigen. Und so gingen sie mit mulmigem Gefühl nach hinten in den Speisewagen. Bald darauf hielt der Zug und weitere Reisende stiegen zu. Doch den Cognac belebte nicht nur ihre Nerven, sondern machte auch hungrig. Und so bestellten sie sich noch ein Mittagessen, zumal die Uhr auf 12 Uhr ging.
Das passt nun gar nicht zur davor geschilderten fürsorglichen Art des Paares ihrem Opa gegenüber. Man geht doch bei einem soichen dramatischen Unglücksfall nicht einfach zum Essen. Wenn vorher ein distanziertes Verhältnis zum Opa geschildert würde, dann könnte es funktionieren.

Ja, wäre da nicht Hans Müller gewesen…

Hans Müller, Reisender in Sachen Holzbrettchen und Küchenzubehör, war in der letzten Station zugestiegen, bepackt mit einem riesigen und irrsinnig schwerem ...Seinen Halt verlierend, entfiel ihm der schwere Koffer und knallte mit voller Wucht auf den Kopf des alten Mannes. Dieser wurde von dem Schwung auf den Boden geschleudert und blieb dort liegen.
In diesem Abschnitt meine ich, etwas eigenartiges zu entdecken: wie kann der Weißbrumsel denn erzählt haben, was der Herr Müller gedacht und getan hat? Selbst in einer Erzählung aus Sicht des Profs Moser kann es keine Dinge geben, die außerhalb der Sicht des Weißbrumsel war. Oder es fehlt die Auflösung, woher denn Weißbrumsel erfahren hätte, was der Müller gemacht hat, damals.
Herr Moser war ja nicht dabei - er ist nur der Erzähler dessen, was sein Mitarbeiter erlebt hat.

Die vielen Koffer oben im Netz zeigten ihm, daß der alte Mann nicht alleine im Abteil saß. Etwas, das ihm vorhin gar nicht aufgefallen war. Da kam ihm eine Idee! Er zog die Gardinen am Fenster auf. Schnell sah er, daß sie gerade durch die Landschaft fuhren, fernab von einer größeren Ortschaft. Das Fenster auf, den alten Mann gepackt und aus dem Abteil geworfen, war Minutensache.
Bei aller Vorstellungskraft halte ich es für unmöglich, in einer Minute einen toten Körper von mindestens 60 Kilo Gewicht durch ein schmales Zugfenster zu werfen.
Koffer im Netz passt nicht, Koffer auf der Ablage oder so.


Ich hoffe, meine Tipps sind willkommen. Sie müssen nicht richtig sein - ich bin auch nur ein Hobbyschreiber.

Viele Grüße von Pikolaus
 



 
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