a lidele fir erez israel

5,00 Stern(e) 3 Bewertungen
als du geboren warst, benjamin joshua silbermann
lebte deine mutter noch
ja ja, das mag selbstverständlich klingen
war es in jenen zeiten der großen siege aber nicht
denn damals starben selbst die sonnenblumen am eisen
im glutheißen august an der küste des schwarzen meeres
stählerne monster mahlten durch den lehm armseliger hütten

spiel joshele, spiel mir dein lied
von den süßen erdbeerfeldern um odessa
vom seltsamen hügel im eichenwald bei uljanowo

an deinem ersten geburtstag
kamen die fleischfliegen zu besuch
vor die hütte am bach
hatten die in camouflage vielgesichtige hügel gelegt
und die septembersonne beschien ausgerenkte arme und beine
abends vorher, geschwärzte gesichter und geruch gewichster stiefel
kamen sie in schützenlinie durchs dorf

spiel joshele, spiel mir dein lied
von den süßen erdbeerfeldern um odessa
vom seltsamen hügel im eichenwald bei uljanowo

an einem sonntag voller spätsommerblumen in uljanowo
bist du abgereist ohne frühstück und mit tränen als winken
ein viel zu langer zug aus viehwaggons
rotbraun wie das buchenlaub der wälder in diesem einzigen herbst
und ein bärtiger alter von irgendwoher
klagte am bahndamm:

"zehn brüder sind wir gewesen ..."

und die töne seiner fiedel
brannten sich in dein junges herz
wie schwarze, eisige kohle
als die lokomotive aus der ferne kurzatmig
auf den hitzeflirrenden gleisen zum stillstand kam

spiel joshele, spiel mir dein lied
von den süßen erdbeerfeldern um odessa
vom seltsamen hügel im eichenwald bei uljanowo

auf der langen fahrt mitten hinein in den sonnenuntergang
gab es oft gewitter und regen
und das rot der mohnfelder versank in nächten
aus dem seltsamen vorübergleiten weißer nebel unter dem mond der ostkarpaten
der bärtige alte aber, der fuhr die ganze zeit mit
gleichzeitig in allen waggons
schlief nicht und spielte auf seiner fiedel:

"seks brider senen mir gewesn,
hobn mir gehandlt mit schtrimpf"

spiel joshele, spiel mir dein lied
von den süßen erdbeerfeldern um odessa
vom seltsamen hügel im eichenwald bei uljanowo

einen halt gab es erst auf dem granitgleisbett vor ceská-lípa
und irgendwer sprach dort auf deutsch von wahnfried
und der asternblüte auf dem cimetière du père lachaise in paris
und sie veranstalteten eine herbstjagd am hubertustag
auf die letzten acht waggons des zuges
das war an deinem zweiten geburtstag, joshele
oder war es dein vierter, achter, fünfundzwanzigster?
denn der bärtige alte spielte jetzt immer schneller

"fir brider senen mir gewesn,
hobn mir gehandlt mit hej ....
...
draj brider senen mir gewesn,
hobn mir gehandlt mit blaj ..."

spiel joshele, spiel mir dein lied
von den süßen erdbeerfeldern um odessa
vom seltsamen hügel im eichenwald bei uljanowo

als der zug sich am anderen morgen wieder in bewegung setzte
brannten große feuer am bahndamm
und blauer, fetter rauch kroch aus ihnen träge gegen die lustigen kleinen wolken
der mittag trug helle sonne und himmelsblau aus den dunklen waggons heraus
und es kam auf der straße neben dem gleis eine panzerkolonne entgegen
junge männer winkten hemdsärmelig aus den aufgeklappten geschütztürmen
und sangen unbefangen und fröhlich das engeland-lied
wo war dünkirchen?, wo coventry?, und wo der bärtige alte?
nur seine fiedel spielte gestaltlos in grellen, schneidenden tönen

"tswaj brider senen mir gewesn
hobn mir gehandlt mit bejner
einer is fun unds geschtorbn
bin ich mir geblibn einer"

"ein bruder bin ich mir gebliebn,
hob ich mir gehandlt mit liiiecht
schterbn muss ich jeden tog
wajl tsu lebn hob ich nicht"

nachmittags ein hitzegewitter
donnerschläge und grelle blitze über wassertriefenden kornfeldern
und durch die dunkelheit und den lärm der elemente
wie ein lichtschein der abendlichen kerzen am osterfest im heimatlichen uljanowo
das klagende lied des bärtigen alten wie aus einer anderen zeit

"ojch ...,
schmerl mit dem fidele
tewje mit dem bass
schpiiiielt mir a lidele ...
oif'n mit dem gas !"

dann war dein größter geburtstag, joshele
gekleidet mit deinem ghetto-sternenkleid
glücklich unter tausend sonnen
bis zur bewusstlosigkeit angefüllt mit hoffnung
hinter dem stacheldraht theresienstadts
und vorher, joshele,
bevor sie die torte mit den lichtern anschneiden
die genauso aussahen wie die lichter an hannuka,
vorher, joshele, musst du dir hände und gesicht waschen
und aufrecht gehen
wie ein schammes vor dem fest
wirst fein duschen auch, joshele,
und dich danach weich salben und ölen
mit dem messerscharfen duft weißer lilien
und dir die asche sulamiths auf deine jungen haare sammeln

und dann, joshele, wenn sie dich hineinstoßen
in das schwarze zimmer deines höchsten festes,
ohne auch nur die andeutung eines erbarmens
dann, joshua höre ...,

"es lacht der wind im korn, lacht un lacht un lacht
lacht er op a tog, a gantsn, un die halbe nacht
denn nur bidne kelblech tut men bindn
un men schlept sej un men schecht,
wer's hot fligl, flit aroif tsu
is bei kejnem nischt kejn knecht"

es ist zeit, joshele, reich itzchak katzenelson die hand
ein einziger, tiefblauer atemzug noch
eine aufschießende bewusstlosigkeit dann
wie die gischt der brandung bei sturm über dem schwarzen meer
eine zukunft aus asche erschmolzen
und schwarze milch der frühe heller als zehntausend sonnen
falls es zukünftig noch einmal -VOR irgendeinem Teresin- darauf ankommen sollte

deshalb schpiiiiel joshele!, jetzt und für immer, schpiel mir das lidele
vom süßen duft der erdbeerfelder um das neue hierusalem unter dem stillen mond
und vom higel aus bejner im eichenwald beim uljanowo
deiner mütter
 

L'étranger

Mitglied
Hallo Waldemar,

willkommen im Forum.

Dieser Text ist zwar ungereimt, aber selbst für ein Langgedicht - ein Genre, das ich selten lese - ist er mir trotz Poesie zu prosaisch. Ich fände ihn in einem poetischen Prosatext besser aufgehoben.

Gruß Lé.
 
@ Lé, deshalb nenne ich sowas ja auch nicht gereimtes/ungereimtes "gedicht" = poem, sondern "poemiod"...

Jede Welt ist aus Sprache gemacht

"Sprich mit uns, und denke aus uns,
gib uns Wohnung in deinem Herzen,
und wir bauen dir ein neues Haus",

flehen die Worte leise in Jiddish,

"denn die,
bei denen wir einst Heimat hatten,
sind Shoa."

(... und die Worte bauten ein neues Haus)
 

Ulritze

Mitglied
Eindrucksvoll verbinden sich lyrische und epische Elemente.
Ein lyrisches Subjekt kommentiert, bringt dem epischen Geschehen Gefühle und Werturteile entgegen.

Konsequent ohne metrische Struktur ist hier ein inhaltlich ebenso verstörendes wie tief berührendes, kunstvolles Poèm entstanden.

Dieses "lidele" wird mich noch eine Weile beschäftigen.
Ulritze
 
hallo ulritze, du scheinst dich in deinen eigenen werken öfter mit der vergänglichkeit allen seins, mit "friedhöfen in irgendeiner form" zu befassen, vielleicht solltest du dich (wie ich vorzeiten aus eher wiss.gründen) einmal mit friedhofs-semantik befassen, das ist interessant, auch weils "vergänglichkeit" sehr relativiert, indem nicht vergänglichkeit, oder sein/sosein in natura dominieren, sondern das "immer-nur-weiter-werden", das seinerseits nicht sinn-VOLL oder sinn-LOS abläuft, sondern völlig sein-FREI - die vergänglichkeit alles gewesenen ist nur eine (unter anderen) voraussetzung dieses immernurweiterwerdens
 



 
Oben Unten