Abschied

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Abschied

Der Tag begann grau, als hätte eine unsichtbare riesige Hand einen Schleier über die Stadt gelegt. Mindy kämpfte sich durch die Menschenmenge und ärgerte sich einmal mehr, wie rücksichtslos gedrängelt wurde.
Und nun stand die Schlange ganz. Mindy trat von einem Fuß auf den anderen und versuchte an der massigen Gestalt vor ihr vorbei sehen zu können. Stimmengemurmel erhob sich und Mindy schnappte einige Wortfetzen auf: „Armer Kerl.“ „Das so was ausgerechnet in unserer Stadt passieren muss.“ „Wer das wohl war?“ „Komm schnell weiter, womöglich hatte er was ansteckendes.“
Ihre Ellbogen einsetzend kämpfte Mindy sich nach vorn und konnte nun sehen, was alle anderen begafften; auf dem Boden vor dem Kiosk lag ein Mann, dem Schnee auf seiner zerschlissenen Jacke nach zu urteilen bereits seid vielen Stunden. Seine Schuhe fehlten, waren vermutlich von einem anderen Obdachlosen geklaut worden. Doch auch mit Schuhen wäre die Kälte tödlich für ihn gewesen.
Mindy schauderte und wünschte sich, die Gaffer davon scheuchen zu können. Noch immer erklang um sie herum das Stimmengemurmel; mitleidig, abwertend oder einfach nur sensationslüstern.
Ein Mann neben ihr zückte sein Handy und fotografierte die Leiche.
Mindy starrte ihn entsetzt an. Die Situation erschien ihr so irrational wie ein Traum. „Verschwinden Sie“, zischte sie dann. „Sie sind ja krank. Hier ist ein Mensch gestorben, erfroren, während Sie gemütlich irgendwo im Warmen saßen.“
Schreiend stürzte eine Frau aus der Menge und warf sich über den toten Körper. Ihre Kleidung war zerlumpt, das braune Haar strähnig und sie stank nach Alkohol. Angewidert wichen einige der Gaffer zurück.
Während Mindy überlegte, was sie tun konnte, kamen endlich zwei Polizisten heran, scheuchten die Menge davon und wandten sich der immer noch jammernden Frau zu. Sie wollte sich nicht von dem Toten trennen lassen. Mindy ging zu ihr und zog leicht am groben Stoff ihrer Jacke. „Kommen Sie, ich bringe Sie zur Bahnhofsmission.“
Nur widerwillig ließ die Frau sich weg führen.
Mindy sah sie verständnisvoll an. „Es ist immer schwer, Abschied zu nehmen; ganz egal, wer derjenige war.“
 

petrasmiles

Mitglied
Das mit der Gafferproblematik ist immer so eine Sache - wenn man mitten im Knäuel steckt, oder? Wenn man sich durch eine Menschenmenge "kämpft" (aber nur die andren drängeln?), um selbst besser sehen zu können, was denn da los ist.
Es gibt da so ein Sprichwort: Wenn man mit dem Finger auf andere zeigt, weisen mindestens drei auf einen selbst.
Deine Protagonistin kann sich nicht wirklich rühmen, besser da zu stehen, nur weil sie die anderen 'Gaffer' 'anklagt'.
Genauso unglaubwürdig wirkt auf mich die laute Trauer der alkoholisierten Obdachlosen, aber begründen kann ich es nicht. Es ist nur so ein Gefühl, dass man schon viele Gefühle aufgegeben haben muss, um auf der Straße (über-)leben zu können.
Die Worte sind wichtig, aber auch die Motivation der handelnden Personen.

Gruß
Petra
 



 
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