Adrian
Fast normal ist unser Treffen. Du, Adrian, im Kalender. Du füllst einen Platz von einer halben Stunde, eingezwängt zwischen Vorlesungen, Gutachten, Anrufen, mails, den abgelaufenen deadlines für die Buchbesprechung und den Übersichtsartikel, der Berufungskommission, den Geldgebern, den Kunden, meinen Mitarbeitern, den Studenten, den Menschen. Den Menschen.
Auf dem Kalenderblatt sieht es aus wie Routine. Dennoch denke ich seit Tagen an dich. Du kamst heute genau um die Zeit, die du vorgestern in deiner Rundmail an „all“ angekündigt hattest. Du warst schon da, während ich noch mit der Verwaltung um eine Höhergruppierung für den Buchhalter kämpfte. Um 11 Uhr trafst du ein in der Goldfischbar, dem Aufenthaltsraum des ganzen Institutes, und alle Kollegen, Doktoranden und Techniker aus deiner Gruppe sind gekommen, um mit dir zu reden, dein Kaffeeguthaben zu vertrinken und zu scherzen.
Alle sind nahe bei dir. Viele haben dich besucht in den letzten Tagen. Zwischen ihrer Arbeit, zwischen den vielen unbezahlten Überstunden, die sie machen, ohne sehr auf ihre Zeit zu achten. So wie du es auch gemacht hast bis vor ein paar Tagen.
Als ich zurückkam aus der Stadt, ging ich auch hinüber in die Goldfischbar, heraus aus der alltäglichen Flut von Papier und mails, mitten hinein in die Gruppe von zwanzig jungen Leuten und eine der Sekretärinnen, um dir die Hand zu schütteln. Du hast sofort angefangen, Witze über meine kurzen Haare zu machen. Ja, sie sind sehr kurz seit gestern.
So viele haben sich in letzter Zeit die Haare kurz geschoren. Dein eigener Haarschnitt fällt kaum noch auf. Und jetzt, Punkt 13:30 Uhr, sitzen wir beide alleine in meinem Büro. Du hast deines schon ausgeräumt, es ist dein letzter Tag bei uns. Draußen auf den Fluren, in den Labors und Büros geht das Leben und Forschen weiter. Mit Volldampf, konzentriert, aber ohne Hektik. Gleich wie noch vor ein paar Wochen und doch anders.
Wir reden über deine Witwe. Ruhig sagst du, sie werde neu anfangen müssen. Spätestens, wenn sie 27 Jahre alt sein werde, nächstes Jahr im Frühling. Du sagst es ohne Bitterkeit, fast klingt es wie ein physikalisches Modell, über das wir reden, fast wie eine Arbeitshypothese.
"Eine tolle Frau, so stark und so schwach zugleich", sagst du. Du hättest immer gewusst, dass sie die Richtige sei. Aber jetzt wüsstest du es noch besser. Auch du seiest zum ersten Mal schwach in deinem Leben.
"Ist das erlaubt, schwach zu sein?"
Es komme nur auf die Wahrhaftigkeit an, entgegne ich. Auch im Mannsein, auch in den Tränen, auch in den Schmerzen. Der Rest sei unwichtig. So unwichtig.
„Die Menschen sortieren sich“, sagst du nachdenklich. „Ich rede nur noch mit denen, die mir wichtig sind.“ Du wählteste dir die Menschen für den Rest deiner Zeit jetzt genau aus.
Langsam ist dein Sprechen. Es macht dir sichtlich Mühe, auch das Denken. Manchmal lässt du Silben aus. Vergisst, die Sätze zu vollenden, obwohl du dich konzentrierst. Immer wieder hustest du, ganz anders als noch vor drei Wochen, als wir uns noch kurz auf dem Flur sahen und du schnell mit einem freundlichen Nicken die Treppe hinunter eiltest ins Labor.
Gerade ein halbes Jahr bist du jetzt bei uns. Hoch aufgeschossen, mit wachen Augen kamst du, eine gehörige Portion britischen Humors immer auf den Lippen, gerade fünfundzwanzig Jahre alt, gerade promoviert, gerade verheiratet mit deiner jungen deutschen Frau, aus England hergezogen zu uns, um mit uns zu forschen, um durch zu starten. Jetzt sollte es richtig anfangen; dein erster richtiger Job in der Forschung.
Gerade drei Wochen, noch nicht einmal, sind es jetzt, dass es anfing. Am Mittwoch mit Grippe krank gemeldet, am Freitag ins Krankenhaus, Verdacht auf Lungenentzündung. Am Montag das Todesurteil: Lungenkrebs. Eine äußerst seltene, sehr aggressive Art, mehr als vierzig Metastasen schon jetzt. Inoperabel, unheilbar. Du hast nie geraucht. Auch nicht die Großeltern mütterlicherseits, väterlicherseits. Seit mindestens drei Generationen nur Nichtraucher in der Familie. Ein Witz.
Du hast gelacht am Telefon. „Sterben. Gerade jetzt.“ Welche Ironie. Jetzt, nachdem das Leben hätte anfangen können. Leben, ja leben. Ein toller Job, tolle Kollegen, neue Wohnung. Wissenschaft leben. Familie, Kinder, Liebe, Glück.
Alle waren geschockt, die meisten hatten Tränen in den Augen, wenn sie über dich geredet haben. Aber sie sind der Situation nicht ausgewichen. Sie sind zu dir ins Krankenhaus gefahren oder nach Hause. Abwechselnd. Sie haben einander erzählt über dich. Und dir von uns.
Gleich die erste Chemotherapie vor einer Woche hat dich fast alle Haare gekostet. Dein Gesicht ist schmal geworden, entstellt von den vielen blutenden Pusteln und Pickeln, und du bist müde, so müde. Fast schon drei Stunden bist du jetzt hier im Institut und glücklich, weil alle da sind. Du könntest kaum essen, dein Körper rebelliert.
"Nichts funktioniert mehr richtig, nichts", sagst du nachdenklich. Ich hake nicht nach.
"Morgen beginnt die zweite Chemotherapie; wieder zwei Tage lang. Der Körper ist nicht eingerichtet auf Chemotherapie. Sie ist nicht vorgesehen. Aber sie hilft mir vielleicht, ein paar Wochen länger zu leben. Ich bin jung. Vielleicht halte ich sechs Zyklen aus. Mehr geht nicht, haben die Ärzte gesagt. Es ist das Maximum.“
Schweigen. Vielleicht noch ein paar Wochen, höchstens ein paar Monate. Mehr bleibt nicht. Wir wissen es beide. Ein Abschiedsfest willst du noch geben in zwei Wochen, wenn das noch geht. Grillen draußen, reden mit den Kollegen. Ich weiß nicht, ob ich im Land sein kann und sage nichts dazu, sage auch nichts von Christof, unserem Diplomanden, der jetzt auch in der Chemo liegt, Lymphknotenkrebs. Christof hat wenigstens eine Chance, Adrian nicht. Und Denis? Denis hat seinen Hodenkrebs überlebt. Jetzt macht er gerade in den USA sein Praktikum. Ich habe dort einen Platz für ihn gefunden. Alle saßen sie auf diesem Stuhl: Christof, Denis und jetzt Adrian, alle sind sie etwa gleich alt. Ich bin da, Adrian.
„Sie leiden mit mir,“ sagst du. „Obwohl ich erst seit einem halben Jahr hier bin. Hierher zu kommen, war die beste Entscheidung meines Lebens. Sie sind alle so nah. Es hilft mir. Sie leiden mit.“
„Ja, ich weiß, sie weichen Ihrem Sterben nicht aus“, erwidere ich ruhig. Und dann reden wir wieder über den Unterschied der Sprachen, über sein britisches Englisch und unser amerikanisch gefärbtes. Über betonte und verschluckte Silben spricht er und macht einen Witz über seine Landsleute.
Ich erzähle ihm, wie mein Vater gestorben ist, wie wir die unwichtigen Dinge weggelassen haben, damals gerade vor zwanzig Jahren. Wie wir den Sommer, den Herbst damals bewusst erlebt hätten. Wie wir das Jetzt genossen haben, dass wir uns nie näher waren…
„Ich habe die Künste wieder entdeckt,“ sagt Adrian, „wieder angefangen, Klavier zu spielen.“
Zwei Stunden am Tag, wenn er dazu in der Lage sei. Von den beiden Spaziergängen, die ihm so schwer gefallen seien, berichtet er.
„Haben Sie an den Blumen gerochen?“ hake ich nach.
Ja, er hätte Blumen gerochen, sie zum ersten Mal in seinem Leben wahrgenommen, zum ersten Mal seit Jahren sich erlaubt, schwach zu sein.
Von Erdbeeren schwärme ich ihm vor, wie sie an der Oberfläche aussehen. Dass ich sie auch erst genau angesehen hätte, als mir meine Freundin so eine Beere unter die Nase gehalten hätte vor ein paar Jahren… Jaja, das möchte er sich auch gerne ansehen, Erdbeeren. Ja, Erdbeeren ansehen, das wolle er noch, nimmt er sich vor. Ganz bestimmt. Erdbeeren.
„Ich möchte gerne weiter hier arbeiten. Es gefällt mir hier.“
Natürlich darf er das. Natürlich kann er dennoch umziehen, wieder nach Norden. Er muss nicht ins Institut kommen, falls er doch mal arbeiten könnte, vielleicht gesund geschrieben werden würde für ein paar Tage. Das ginge auch übers internet, die Arbeit. Dass er ab morgen wieder ein Einzelzimmer bekommen würde im Krankenhaus, erzählt er noch, obwohl er doch Kassenpatient sei. Der Oberarzt würde sich persönlich um ihn kümmern. Er hustet wieder, hart, kurz. Er bebt förmlich auf seinem Stuhl.
Sein Arbeitsvertrag läuft noch über fast ein Jahr. Er wird es nicht erleben, kaum. Wir wissen es, hoffen dennoch. Aber vielleicht gibt es ja ein Phase, in der er etwas klarer denken könnte. Und ein wenig arbeiten...
Heim möchte er, in die Nähe der Familie seiner Frau nach Hamburg. Zu den dortigen Freunden. Dort würden sie leben in einem Ferienhaus über den Sommer. Im Wald. Weit draußen. Alleine. Sie würde nicht arbeiten. Das Krankengeld würde reichen für beide. Sie bräuchten nicht viel. Sie ist Krankenschwester. Und es gibt eine Telefonleitung. Zwar kein ISDN, aber er würde schon ins Internet kommen, um mit uns in Kontakt zu bleiben…
Wieder der Husten. Die müden Augen. Er kratzt sich im Gesicht. Die Pusteln jucken. Er blutet..
Er möchte seinen Kopf noch beschäftigen, gerne hin und wieder programmieren für uns, auch aus dem Haus im Wald. Solange er noch kann. Falls er kann. Vielleicht an der Datenbank für die Solarzellen? Für ein paar Tage vielleicht noch. Für die paar Tage, die ihm bleiben. Zwischen den Chemos vielleicht. Wenn er ein bisschen denken kann. Wir werden ihm einen Internet-Arbeitsplatz einrichten. Ja, er hat einen Computer dort in Hamburg.
Er ist einer von meinen Leuten. Auch im Sterben, gerade dann. Warum dem Tod ausweichen? Draußen die Welt auf dem Flur sonst ohne Tod. Fast nur junge Frauen und Männer, Studenten, Doktoranden, Wissenschaftler, fast fünfzig sind es wieder. Sonst ein Leben ohne Zeit. Die Arbeit nur von Schlaf gestört, zeitlos, alterslos. Mit unseren Apparaten, Projekten, Computern. Arbeiten aus Liebe und Leidenschaft oft bis mitten in die Nacht und am Wochenende. An jedem Tag Olympiade. Das Rennen um Wirkungsgrade, Anerkennung, Geld. Die Neugier treibt uns, der Spieltrieb, die Freundschaften, die Freiheit zu denken...
Wir brauchen Geld, dringend. Für Gehälter, auch für Adrian. Irgendwie wird es schon gehen. Eine halbe Million muss ich auftreiben bis zum Jahresende, sonst müssen zehn Leute gehen. Ich muss es irgendwie schaffen! Forschen, entwickeln, publizieren, Vorträge, Promotionen, Habilitationen, Feste.
Feste? Wie viele Hochzeiten und viele Geburtstage haben wir gefeiert? Wie viele Geburten? Drei im letzten Jahr? Mit den ganzen Familien. Jetzt kommt der Tod wieder einmal. Sie werden Halt brauchen...
Es ist die letzte halbe Stunde, in der wir alleine reden können. Und schweigen. Wir schweigen oft, sehen uns in die Augen, weichen der Stille nicht aus. Wenn wir reden, hören wir genau zu, auch unseren eigenen Stimmen. Ruhig. Wir sind uns nah. Kein Chef, kein postdoc. Nur zwei Menschen, die über das Leben und Sterben reden, über seine Frau, seine Witwe, über seine Angst. Es ist nicht wichtig, dass draußen schon jemand wartet. Ich lasse uns Zeit. Wie gerne würde ich ihm ein paar seiner Metastasen abnehmen.
Schließlich erinnert er sich, dass die Sekretärin ihn auf meine nächsten Termine aufmerksam machte. Wir verabschieden uns. Still und nah. Ein fester Händedruck. An der Tür lege ich still meinen Arm auf seine Schulter, während er hinausgeht. Still, gefasst.
Ich werde ihn noch einmal sehen. Vielleicht schon in ein paar Wochen. Er wird es nicht mehr bemerken. Wieder werde ich eine Rede an einem offenen Grab halten, so wie schon zweimal. Ich muss es nicht. Niemand erwartet es. Ich werde es dennoch tun, für ihn, für mich. Wieder in ein wächsernes Gesicht eines Toten schauen und still mit ihm reden zum Abschied. Wieder die anderen führen. Auch im Angesicht von Tränen und Tod. Nicht loslassen. Nicht ausweichen. Festhalten. Versuchen, wahrhaftig zu sein. Wenigstens versuchen.
Adrian geht am draußen wartenden Studenten vorbei. Ich entschuldige mich bei ihm, dass es länger gedauert hat. Seine Lockenhaare haben ein paar rötliche Streifen. Ich erinnere mich an ihn aus Vorlesungen; er ist ein wenig eitel. Jetzt möchte er bei uns mit seiner Diplomarbeit anfangen. Während ich ihm einen Platz anbiete, versuche ich, mich auf ihn zu konzentrieren. Es muss gehen, auch wenn es schwer ist. Es muss gehen. Es ist sein Recht, es geht um seine Zukunft...
Am Abend kommt die mail an „all“:
„Dear ife,
my wife and I had to decide to move back to Hamburg to our family and friends for health reasons. We regret having had to make this decision, mainly because of the pleasant time we have had in Stuttgart. Nonetheless, there is no reason to quench our desire for celebration and cordially invite you to attend our farewell party on Friday, May 21st…
Best regards
Adrian.”
7.5.2004
Fast normal ist unser Treffen. Du, Adrian, im Kalender. Du füllst einen Platz von einer halben Stunde, eingezwängt zwischen Vorlesungen, Gutachten, Anrufen, mails, den abgelaufenen deadlines für die Buchbesprechung und den Übersichtsartikel, der Berufungskommission, den Geldgebern, den Kunden, meinen Mitarbeitern, den Studenten, den Menschen. Den Menschen.
Auf dem Kalenderblatt sieht es aus wie Routine. Dennoch denke ich seit Tagen an dich. Du kamst heute genau um die Zeit, die du vorgestern in deiner Rundmail an „all“ angekündigt hattest. Du warst schon da, während ich noch mit der Verwaltung um eine Höhergruppierung für den Buchhalter kämpfte. Um 11 Uhr trafst du ein in der Goldfischbar, dem Aufenthaltsraum des ganzen Institutes, und alle Kollegen, Doktoranden und Techniker aus deiner Gruppe sind gekommen, um mit dir zu reden, dein Kaffeeguthaben zu vertrinken und zu scherzen.
Alle sind nahe bei dir. Viele haben dich besucht in den letzten Tagen. Zwischen ihrer Arbeit, zwischen den vielen unbezahlten Überstunden, die sie machen, ohne sehr auf ihre Zeit zu achten. So wie du es auch gemacht hast bis vor ein paar Tagen.
Als ich zurückkam aus der Stadt, ging ich auch hinüber in die Goldfischbar, heraus aus der alltäglichen Flut von Papier und mails, mitten hinein in die Gruppe von zwanzig jungen Leuten und eine der Sekretärinnen, um dir die Hand zu schütteln. Du hast sofort angefangen, Witze über meine kurzen Haare zu machen. Ja, sie sind sehr kurz seit gestern.
So viele haben sich in letzter Zeit die Haare kurz geschoren. Dein eigener Haarschnitt fällt kaum noch auf. Und jetzt, Punkt 13:30 Uhr, sitzen wir beide alleine in meinem Büro. Du hast deines schon ausgeräumt, es ist dein letzter Tag bei uns. Draußen auf den Fluren, in den Labors und Büros geht das Leben und Forschen weiter. Mit Volldampf, konzentriert, aber ohne Hektik. Gleich wie noch vor ein paar Wochen und doch anders.
Wir reden über deine Witwe. Ruhig sagst du, sie werde neu anfangen müssen. Spätestens, wenn sie 27 Jahre alt sein werde, nächstes Jahr im Frühling. Du sagst es ohne Bitterkeit, fast klingt es wie ein physikalisches Modell, über das wir reden, fast wie eine Arbeitshypothese.
"Eine tolle Frau, so stark und so schwach zugleich", sagst du. Du hättest immer gewusst, dass sie die Richtige sei. Aber jetzt wüsstest du es noch besser. Auch du seiest zum ersten Mal schwach in deinem Leben.
"Ist das erlaubt, schwach zu sein?"
Es komme nur auf die Wahrhaftigkeit an, entgegne ich. Auch im Mannsein, auch in den Tränen, auch in den Schmerzen. Der Rest sei unwichtig. So unwichtig.
„Die Menschen sortieren sich“, sagst du nachdenklich. „Ich rede nur noch mit denen, die mir wichtig sind.“ Du wählteste dir die Menschen für den Rest deiner Zeit jetzt genau aus.
Langsam ist dein Sprechen. Es macht dir sichtlich Mühe, auch das Denken. Manchmal lässt du Silben aus. Vergisst, die Sätze zu vollenden, obwohl du dich konzentrierst. Immer wieder hustest du, ganz anders als noch vor drei Wochen, als wir uns noch kurz auf dem Flur sahen und du schnell mit einem freundlichen Nicken die Treppe hinunter eiltest ins Labor.
Gerade ein halbes Jahr bist du jetzt bei uns. Hoch aufgeschossen, mit wachen Augen kamst du, eine gehörige Portion britischen Humors immer auf den Lippen, gerade fünfundzwanzig Jahre alt, gerade promoviert, gerade verheiratet mit deiner jungen deutschen Frau, aus England hergezogen zu uns, um mit uns zu forschen, um durch zu starten. Jetzt sollte es richtig anfangen; dein erster richtiger Job in der Forschung.
Gerade drei Wochen, noch nicht einmal, sind es jetzt, dass es anfing. Am Mittwoch mit Grippe krank gemeldet, am Freitag ins Krankenhaus, Verdacht auf Lungenentzündung. Am Montag das Todesurteil: Lungenkrebs. Eine äußerst seltene, sehr aggressive Art, mehr als vierzig Metastasen schon jetzt. Inoperabel, unheilbar. Du hast nie geraucht. Auch nicht die Großeltern mütterlicherseits, väterlicherseits. Seit mindestens drei Generationen nur Nichtraucher in der Familie. Ein Witz.
Du hast gelacht am Telefon. „Sterben. Gerade jetzt.“ Welche Ironie. Jetzt, nachdem das Leben hätte anfangen können. Leben, ja leben. Ein toller Job, tolle Kollegen, neue Wohnung. Wissenschaft leben. Familie, Kinder, Liebe, Glück.
Alle waren geschockt, die meisten hatten Tränen in den Augen, wenn sie über dich geredet haben. Aber sie sind der Situation nicht ausgewichen. Sie sind zu dir ins Krankenhaus gefahren oder nach Hause. Abwechselnd. Sie haben einander erzählt über dich. Und dir von uns.
Gleich die erste Chemotherapie vor einer Woche hat dich fast alle Haare gekostet. Dein Gesicht ist schmal geworden, entstellt von den vielen blutenden Pusteln und Pickeln, und du bist müde, so müde. Fast schon drei Stunden bist du jetzt hier im Institut und glücklich, weil alle da sind. Du könntest kaum essen, dein Körper rebelliert.
"Nichts funktioniert mehr richtig, nichts", sagst du nachdenklich. Ich hake nicht nach.
"Morgen beginnt die zweite Chemotherapie; wieder zwei Tage lang. Der Körper ist nicht eingerichtet auf Chemotherapie. Sie ist nicht vorgesehen. Aber sie hilft mir vielleicht, ein paar Wochen länger zu leben. Ich bin jung. Vielleicht halte ich sechs Zyklen aus. Mehr geht nicht, haben die Ärzte gesagt. Es ist das Maximum.“
Schweigen. Vielleicht noch ein paar Wochen, höchstens ein paar Monate. Mehr bleibt nicht. Wir wissen es beide. Ein Abschiedsfest willst du noch geben in zwei Wochen, wenn das noch geht. Grillen draußen, reden mit den Kollegen. Ich weiß nicht, ob ich im Land sein kann und sage nichts dazu, sage auch nichts von Christof, unserem Diplomanden, der jetzt auch in der Chemo liegt, Lymphknotenkrebs. Christof hat wenigstens eine Chance, Adrian nicht. Und Denis? Denis hat seinen Hodenkrebs überlebt. Jetzt macht er gerade in den USA sein Praktikum. Ich habe dort einen Platz für ihn gefunden. Alle saßen sie auf diesem Stuhl: Christof, Denis und jetzt Adrian, alle sind sie etwa gleich alt. Ich bin da, Adrian.
„Sie leiden mit mir,“ sagst du. „Obwohl ich erst seit einem halben Jahr hier bin. Hierher zu kommen, war die beste Entscheidung meines Lebens. Sie sind alle so nah. Es hilft mir. Sie leiden mit.“
„Ja, ich weiß, sie weichen Ihrem Sterben nicht aus“, erwidere ich ruhig. Und dann reden wir wieder über den Unterschied der Sprachen, über sein britisches Englisch und unser amerikanisch gefärbtes. Über betonte und verschluckte Silben spricht er und macht einen Witz über seine Landsleute.
Ich erzähle ihm, wie mein Vater gestorben ist, wie wir die unwichtigen Dinge weggelassen haben, damals gerade vor zwanzig Jahren. Wie wir den Sommer, den Herbst damals bewusst erlebt hätten. Wie wir das Jetzt genossen haben, dass wir uns nie näher waren…
„Ich habe die Künste wieder entdeckt,“ sagt Adrian, „wieder angefangen, Klavier zu spielen.“
Zwei Stunden am Tag, wenn er dazu in der Lage sei. Von den beiden Spaziergängen, die ihm so schwer gefallen seien, berichtet er.
„Haben Sie an den Blumen gerochen?“ hake ich nach.
Ja, er hätte Blumen gerochen, sie zum ersten Mal in seinem Leben wahrgenommen, zum ersten Mal seit Jahren sich erlaubt, schwach zu sein.
Von Erdbeeren schwärme ich ihm vor, wie sie an der Oberfläche aussehen. Dass ich sie auch erst genau angesehen hätte, als mir meine Freundin so eine Beere unter die Nase gehalten hätte vor ein paar Jahren… Jaja, das möchte er sich auch gerne ansehen, Erdbeeren. Ja, Erdbeeren ansehen, das wolle er noch, nimmt er sich vor. Ganz bestimmt. Erdbeeren.
„Ich möchte gerne weiter hier arbeiten. Es gefällt mir hier.“
Natürlich darf er das. Natürlich kann er dennoch umziehen, wieder nach Norden. Er muss nicht ins Institut kommen, falls er doch mal arbeiten könnte, vielleicht gesund geschrieben werden würde für ein paar Tage. Das ginge auch übers internet, die Arbeit. Dass er ab morgen wieder ein Einzelzimmer bekommen würde im Krankenhaus, erzählt er noch, obwohl er doch Kassenpatient sei. Der Oberarzt würde sich persönlich um ihn kümmern. Er hustet wieder, hart, kurz. Er bebt förmlich auf seinem Stuhl.
Sein Arbeitsvertrag läuft noch über fast ein Jahr. Er wird es nicht erleben, kaum. Wir wissen es, hoffen dennoch. Aber vielleicht gibt es ja ein Phase, in der er etwas klarer denken könnte. Und ein wenig arbeiten...
Heim möchte er, in die Nähe der Familie seiner Frau nach Hamburg. Zu den dortigen Freunden. Dort würden sie leben in einem Ferienhaus über den Sommer. Im Wald. Weit draußen. Alleine. Sie würde nicht arbeiten. Das Krankengeld würde reichen für beide. Sie bräuchten nicht viel. Sie ist Krankenschwester. Und es gibt eine Telefonleitung. Zwar kein ISDN, aber er würde schon ins Internet kommen, um mit uns in Kontakt zu bleiben…
Wieder der Husten. Die müden Augen. Er kratzt sich im Gesicht. Die Pusteln jucken. Er blutet..
Er möchte seinen Kopf noch beschäftigen, gerne hin und wieder programmieren für uns, auch aus dem Haus im Wald. Solange er noch kann. Falls er kann. Vielleicht an der Datenbank für die Solarzellen? Für ein paar Tage vielleicht noch. Für die paar Tage, die ihm bleiben. Zwischen den Chemos vielleicht. Wenn er ein bisschen denken kann. Wir werden ihm einen Internet-Arbeitsplatz einrichten. Ja, er hat einen Computer dort in Hamburg.
Er ist einer von meinen Leuten. Auch im Sterben, gerade dann. Warum dem Tod ausweichen? Draußen die Welt auf dem Flur sonst ohne Tod. Fast nur junge Frauen und Männer, Studenten, Doktoranden, Wissenschaftler, fast fünfzig sind es wieder. Sonst ein Leben ohne Zeit. Die Arbeit nur von Schlaf gestört, zeitlos, alterslos. Mit unseren Apparaten, Projekten, Computern. Arbeiten aus Liebe und Leidenschaft oft bis mitten in die Nacht und am Wochenende. An jedem Tag Olympiade. Das Rennen um Wirkungsgrade, Anerkennung, Geld. Die Neugier treibt uns, der Spieltrieb, die Freundschaften, die Freiheit zu denken...
Wir brauchen Geld, dringend. Für Gehälter, auch für Adrian. Irgendwie wird es schon gehen. Eine halbe Million muss ich auftreiben bis zum Jahresende, sonst müssen zehn Leute gehen. Ich muss es irgendwie schaffen! Forschen, entwickeln, publizieren, Vorträge, Promotionen, Habilitationen, Feste.
Feste? Wie viele Hochzeiten und viele Geburtstage haben wir gefeiert? Wie viele Geburten? Drei im letzten Jahr? Mit den ganzen Familien. Jetzt kommt der Tod wieder einmal. Sie werden Halt brauchen...
Es ist die letzte halbe Stunde, in der wir alleine reden können. Und schweigen. Wir schweigen oft, sehen uns in die Augen, weichen der Stille nicht aus. Wenn wir reden, hören wir genau zu, auch unseren eigenen Stimmen. Ruhig. Wir sind uns nah. Kein Chef, kein postdoc. Nur zwei Menschen, die über das Leben und Sterben reden, über seine Frau, seine Witwe, über seine Angst. Es ist nicht wichtig, dass draußen schon jemand wartet. Ich lasse uns Zeit. Wie gerne würde ich ihm ein paar seiner Metastasen abnehmen.
Schließlich erinnert er sich, dass die Sekretärin ihn auf meine nächsten Termine aufmerksam machte. Wir verabschieden uns. Still und nah. Ein fester Händedruck. An der Tür lege ich still meinen Arm auf seine Schulter, während er hinausgeht. Still, gefasst.
Ich werde ihn noch einmal sehen. Vielleicht schon in ein paar Wochen. Er wird es nicht mehr bemerken. Wieder werde ich eine Rede an einem offenen Grab halten, so wie schon zweimal. Ich muss es nicht. Niemand erwartet es. Ich werde es dennoch tun, für ihn, für mich. Wieder in ein wächsernes Gesicht eines Toten schauen und still mit ihm reden zum Abschied. Wieder die anderen führen. Auch im Angesicht von Tränen und Tod. Nicht loslassen. Nicht ausweichen. Festhalten. Versuchen, wahrhaftig zu sein. Wenigstens versuchen.
Adrian geht am draußen wartenden Studenten vorbei. Ich entschuldige mich bei ihm, dass es länger gedauert hat. Seine Lockenhaare haben ein paar rötliche Streifen. Ich erinnere mich an ihn aus Vorlesungen; er ist ein wenig eitel. Jetzt möchte er bei uns mit seiner Diplomarbeit anfangen. Während ich ihm einen Platz anbiete, versuche ich, mich auf ihn zu konzentrieren. Es muss gehen, auch wenn es schwer ist. Es muss gehen. Es ist sein Recht, es geht um seine Zukunft...
Am Abend kommt die mail an „all“:
„Dear ife,
my wife and I had to decide to move back to Hamburg to our family and friends for health reasons. We regret having had to make this decision, mainly because of the pleasant time we have had in Stuttgart. Nonetheless, there is no reason to quench our desire for celebration and cordially invite you to attend our farewell party on Friday, May 21st…
Best regards
Adrian.”
7.5.2004