Aggala
Unser Dorf ist heute fast gar nicht mehr wiederzuerkennen. Es ist eigentlich auch kein Dorf mehr, die 5 km entfernte Kreisstadt hat es längst eingegliedert, und die Neubaugebiete beider Orte sind schon so dicht zusammengewachsen, man merkt kaum noch, daß es früher mal ein unabhängiges Dorf war, mit großen, reichen Erbhöfen, sogar eine sogenannte "Dorfprominenz" gab es bei uns. Sie bestand aus zwei Familien, denen fast dreiviertel des Grundbesitzes gehörte, und die nur untereinander oder mit Verwandten und Bekannten aus der Stadt verkehrten. Wir nannten sie "die Oberen Zehntausend", obwohl es natürlich nicht zehntausend waren, sondern höchsten ein Dutzend. Selbstverständlich gingen die Kinder unserer "Oberen" nicht in die Dorfschule, sie hatten Privatunterricht. Wir gewöhnlichen Dorfkinder konnten sie meist nur aus der Ferne bewundern. Die Zwillinge Johannes und Lukas waren ein Jahr älter als ich, und sie galten als sehr hochnäsig. Wenn sie im Auto zum Sport- oder Musikunterricht gefahren wurden, machten sie sich einen Spaß daraus, den Chauffeur mit Vollgas durch das Dorf rasen zu lassen, so daß der bedauernswerte Fußgänger, der es wagte, ihren Weg zu kreuzen, je nach Jahreszeit eine Ladung Staub oder Schlamm abbekam. Magdalena, ihre Schwester, war ein Jahr jünger, und damit gleichaltrig mit mir. Ich stellte mir immer vor, daß sie anders wäre als ihre Brüder. Warum weiß ich nicht, konnte ich auch nicht wissen, denn ich bekam sie kaum zu Gesicht. Die einzige Gelegenheit war Sonntags in der Kirche. Aber auch da war sie weit von mir entfernt, denn die "Oberen" hatten einen eigenen Eingang und einen eigenen kleinen Balkon seitlich neben der Kanzel, wie früher die Fürsten. Oh Magdalena, Mag-da-le-na, Le-na, Le-na, allein schon der Name klang für mich so süß und leicht wie ein Liebeslied. Ich träumte von ihrem herzförmigen Gesichtchen, von ihren langen, braunen Haaren, in die sie an Feiertagen ein weißes Band einflocht. Vor allem ihre großen, hellblauen Augen hatten es mir angetan. Auch auf die Entfernung, ich kam nie näher als fünf, sechs Meter an sie heran, strahlten und glänzten sie mit dem Sonnenschein um die Wette, direkt in mein Herz hinein. Magdalena war für mich der Inbegriff von Schönheit und Anmut, und ich liebte sie unendlich, gleichzeitig war ich natürlich vernünftig genug, um zu wissen, daß es ein Traum bleiben würde. In all den Jahren haben wir nicht ein einziges Wort miteinander gesprochen, obwohl wir kaum 200 Meter voneinander entfernt wohnten.
Später schickten die "Oberen" ihre Kinder in feine Internate in der Schweiz, wie es sich gehörte. Und auch ich mußte, nachdem ich die Dorfschule absolviert hatte, fort in die Großstadt auf's Gymnasium. Für mich, der ich noch nie weiter als bis zu unserer kleinen Kreisstadt herumgekommen war, war das natürlich ein großartiges Abenteuer. Meine Eltern mußten sich ganz schön in's Zeug legen, um für meine Bücher und für Kost und Logis aufzukommen. Nun ja, ihr seht, es ist etwas aus mir geworden. Nach Schule und Studium bekam ich einen gutbezahlten Job in einem weltbekannten Handelsunternehmen und durfte mich wohl bald selbst zu den Wohlhabenden der Stadt zählen. Ich heiratete ein liebes Mädchen, bald stellten sich nacheinander drei reizende Kinderchen ein, was hätte ich mir mehr wünschen sollen? Zu meinem Dorf hatte ich so gut wie gar keinen Kontakt mehr. Die Eltern waren vor Jahren gestorben, die Freunde in alle Winde zerstreut, Geschwister hatte ich keine, es zog mich nichts mehr dorthin. Einmal hörte ich von einem Bekannten, Magdalena hätte einen reichen Geschäftsmann geheiratet und sich irgendwo im Ausland niedergelassen. Auch das berührte mich kaum noch. "Ich wünsch dir Glück, Magdalena", dachte ich. Die Schwärmereien meiner Jugendtage waren längst Vergangenheit.
Wie es der dumme Zufall will hatte ich eines Tages einen geschäftlichen Termin in B., und die Bahnstrecke führte auch durch die kleine Kreisstadt, in deren Nähe ich meine Kindheit verbracht hatte. Dem Fahrplan nach hätte der Zug hier nicht halten sollen, es hieß, irgend etwas blockierte die Gleise, der Schaden würde aber bald behoben sein, und die Fahrgäste würden freundlichst um etwas Geduld gebeten. Ich weiß nicht, was mich bewog, mein Gepäck zu nehmen und auszusteigen. Es war schon später Nachmittag, und mein Termin am selben Abend ließ eine Unterbrechung der Fahrt eigentlich nicht zu. Das hätte ich mir eher überlegen sollen, denn in diesem Moment fuhr der Zug wieder an. Verflixt, jetzt würde ich meinen Termin verpassen, das konnte Ärger geben. Plötzlich hatte ich eine seltsame Idee: Schwierigkeiten würde ich sowieso bekommen, also warum nicht noch ein wenig bleiben und mein altes Dorf besuchen. Kurzentschlossen verstaute ich mein Gepäck in einem Schließfach und machte mich auf den Weg. Mal sehen, was sich alles so verändert hatte, ich war ja fast 30 Jahre nicht mehr hier gewesen. Die alte Straße gab es noch, sie war allerdings inzwischen asphaltiert und mit breiten Bürgersteigen versehen. Und die vielen Häuser! Wo kommen denn bloß all die Leute her, die darin wohnen? Im Dorf selbst waren nur noch die alten Häuser rings um den Lindenplatz unverändert, das war aber auch das einzige, was ich wiedererkannte. Anscheinend standen die Fassaden unter Denkmalschutz, sonst wären sie sicher schon längst dem Bagger zum Opfer gefallen, so wie alle anderen alten Gebäude. Ich versuchte, mein Elternhaus zu finden, aber ich fand nicht einmal die Straße. Und dafür hatte ich jetzt meinen Termin sausen lassen! Am besten, ich versuchte erstmal eine Unterkunft zu finden und etwas anständiges zwischen die Zähne. Nach kurzer Suche sah ich tatsächlich in einiger Entfernung ein Wirtshausschild. Kaum zu glauben! War das vielleicht die kleine Kneipe von damals? Dies hier mußte die Straße sein, in der ich gewohnt hatte. Vaters Stammkneipe "Bei Tante Erna" war nur ein paar Häuser von unserem entfernt gewesen, und ich stand in diesem Moment direkt davor. Wie oft war ich von der Mutter geschickt worden, den Vater zum Essen zu holen. "Geh schon mal vor, sagt ihr, ich komme gleich", hatte dann mein Vater gesagt.
Neugierig trat ich ein, Tante Erna, wenn sie überhaupt noch lebte, mußte weit über achtzig sein. Ob sie mich erkennen würde? Ach, welche Enttäuschung! Die jungen Wirtsleute konnten sich nicht einmal an Tante Erna erinnern, sie hatten das Geschäft bereits von ihrem Nachfolger übernommen, nur der Name hatte sich noch erhalten. Immerhin bekam ich ein freundliches Giebelzimmerchen, und der kleine Sohn der Wirtsleute fragte, wohl um mich aufzumuntern: "Willst du die blöde Aggala sehen?" "Kuni, laß doch den Herrn in Ruhe!", wurde er sofort von seiner Mutter zurechtgewiesen. Mehr aus Freundlichkeit zu dem Kinde als aus Interesse sagte ich: "Ach lassen Sie nur. Nun, wo ist sie denn, die blöde Aggala?" Das Bürschchen legte verschwörerisch seinen Finger auf den Mund, nahm mich bei der Hand und führte mich die Treppe hinunter, durch die Hintertüre und zum hinteren Gartentor hinaus. Wir durchquerten ein paar angrenzende Gärten bis wir zu einem weitläufigen, von verfallenen Gebäuden eingerahmten Hof kamen. Er sah so verwunschen aus, als würde hier eine andere Zeitrechnung gelten als außerhalb dieses Rechtecks. Wäre nicht das Kind an meiner Seite gewesen, hätte ich womöglich Reißaus genommen. Im hinteren Teil des Hofes stand ein kleines Gebäude, das besser erhalten schien als die übrigen. Es erinnerte mich an die kleinen Backhäuschen, die damals auf den größeren Höfen üblich waren. Wir mußten damals unsere Bleche mit Brot und Kuchen zum Bäcker tragen und sie dort backen lassen, nur die reicheren Familien hatten ein Backhaus. "Komm, aber leise, damit sie uns nicht hört." "Was ist das für ein Name, Aggala?", fragte ich flüsternd meinen kleinen Begleiter. "So heißt sie eben, jedenfalls sagt sie immer nur Aggala, Aggala, Aggala, den ganzen Tag, wirklich. Sie war eines Tages da, sagt mein Vater, und seit dem wohnt sie hier im Backhäuschen, und wir bringen ihr manchmal zu essen", entgegnete er. Ich blickte gespannt durch die kleine Luke in der Tür, konnte aber nichts entdecken. "Du mußt reingehen, sonst siehst du nichts, sie liegt immer im Dunkeln", sagte der Knirps. Jetzt war ich wirklich neugierig geworden und öffnete vorsichtig die Tür.
Überraschenderweise schwang die Tür ganz leicht und geräuschlos auf. Nur der schmale Lichtstreif, den ich mit hineinbrachte, erhellte etwas die Umgebung und ließ mich ein altes Feldbett voller Lumpen, ein Höckerchen und einen wackeligen Tisch sehen. In der Ecke lag ein großer Haufen Bauschutt, ein paar zerbrochene Flaschen und die Hinterlassenschaften von unzähligen Ratten und Mäusen. Hier sollte ein Mensch leben? Der Junge will mich doch auf den Arm nehmen! Erzürnt drehte ich mich um, aber das Bürschchen war längst über alle Berge. Ein leises Geräusch ließ mich herumfahren. "Aggala, Aggala, Aggala, ...", ganz deutlich war es jetzt zu hören, aus dem Lumpenhaufen auf dem Bett kam ein leises, eintöniges Geflüster. Bestürzt trat ich näher, da lag ein uraltes, verschrumpeltes Weiblein bewegungslos inmitten der Lumpen. Sie hatte die Augen geschlossen, nur die ununterbrochen murmelnden Lippen verrieten, daß sie überhaupt noch lebte. Wie alt mochte sie sein? Sie hatte mehr Ähnlichkeit mit einer der gut erhaltenen ägyptischen Mumie als mit einem lebenden Menschen. Was war mit ihr? War sie krank? Oder einfach nur steinalt? "Aggala, Aggala, Aggala", mir war, als würde das Geflüster schon seit Jahrtausenden andauern und könnte niemals enden. Eine Strähne struppigen, schneeweißen Haares schien unter der Lumpendecke hervorgekrochen zu sein und umrahmte ihre ganze magere Gestalt. Trotz meines Grauens mußte ich sie berühren, als ob ich mich vergewissern wollte, daß ich nicht träumte. "Aggala?", flüsterte ich, "Wer bist du, Aggala?" Sie drehte ihren Körper ein wenig in meine Richtung, offenbar hatte sie wahrgenommen, daß jemand da war. Erschrocken bemerkte ich, daß ihr langes Haar mit weißen Bändern geschmückt war, das war mir vorher gar nicht aufgefallen. Absurd, diese Frau war mindestens hundert Jahre alt, wenn nicht älter, und trug ihre Haare wie ein Kind. "Aggala?", versuchte ich es noch einmal. Ihre zarte Hand mit der durchscheinenden Haut und den großen braunen Altersflecken lag leicht wie ein Vögelchen in der meinen. "Aggala, lalalalena". LENA! MAGDALENA! Im selben Moment, als ich begriff, wer sie war, schlug sie die Augen auf. Wunderbare, strahlend blaue Augen, die Zeit und alle widrigen Umstände hatten ihnen nichts anhaben können.
Unser Dorf ist heute fast gar nicht mehr wiederzuerkennen. Es ist eigentlich auch kein Dorf mehr, die 5 km entfernte Kreisstadt hat es längst eingegliedert, und die Neubaugebiete beider Orte sind schon so dicht zusammengewachsen, man merkt kaum noch, daß es früher mal ein unabhängiges Dorf war, mit großen, reichen Erbhöfen, sogar eine sogenannte "Dorfprominenz" gab es bei uns. Sie bestand aus zwei Familien, denen fast dreiviertel des Grundbesitzes gehörte, und die nur untereinander oder mit Verwandten und Bekannten aus der Stadt verkehrten. Wir nannten sie "die Oberen Zehntausend", obwohl es natürlich nicht zehntausend waren, sondern höchsten ein Dutzend. Selbstverständlich gingen die Kinder unserer "Oberen" nicht in die Dorfschule, sie hatten Privatunterricht. Wir gewöhnlichen Dorfkinder konnten sie meist nur aus der Ferne bewundern. Die Zwillinge Johannes und Lukas waren ein Jahr älter als ich, und sie galten als sehr hochnäsig. Wenn sie im Auto zum Sport- oder Musikunterricht gefahren wurden, machten sie sich einen Spaß daraus, den Chauffeur mit Vollgas durch das Dorf rasen zu lassen, so daß der bedauernswerte Fußgänger, der es wagte, ihren Weg zu kreuzen, je nach Jahreszeit eine Ladung Staub oder Schlamm abbekam. Magdalena, ihre Schwester, war ein Jahr jünger, und damit gleichaltrig mit mir. Ich stellte mir immer vor, daß sie anders wäre als ihre Brüder. Warum weiß ich nicht, konnte ich auch nicht wissen, denn ich bekam sie kaum zu Gesicht. Die einzige Gelegenheit war Sonntags in der Kirche. Aber auch da war sie weit von mir entfernt, denn die "Oberen" hatten einen eigenen Eingang und einen eigenen kleinen Balkon seitlich neben der Kanzel, wie früher die Fürsten. Oh Magdalena, Mag-da-le-na, Le-na, Le-na, allein schon der Name klang für mich so süß und leicht wie ein Liebeslied. Ich träumte von ihrem herzförmigen Gesichtchen, von ihren langen, braunen Haaren, in die sie an Feiertagen ein weißes Band einflocht. Vor allem ihre großen, hellblauen Augen hatten es mir angetan. Auch auf die Entfernung, ich kam nie näher als fünf, sechs Meter an sie heran, strahlten und glänzten sie mit dem Sonnenschein um die Wette, direkt in mein Herz hinein. Magdalena war für mich der Inbegriff von Schönheit und Anmut, und ich liebte sie unendlich, gleichzeitig war ich natürlich vernünftig genug, um zu wissen, daß es ein Traum bleiben würde. In all den Jahren haben wir nicht ein einziges Wort miteinander gesprochen, obwohl wir kaum 200 Meter voneinander entfernt wohnten.
Später schickten die "Oberen" ihre Kinder in feine Internate in der Schweiz, wie es sich gehörte. Und auch ich mußte, nachdem ich die Dorfschule absolviert hatte, fort in die Großstadt auf's Gymnasium. Für mich, der ich noch nie weiter als bis zu unserer kleinen Kreisstadt herumgekommen war, war das natürlich ein großartiges Abenteuer. Meine Eltern mußten sich ganz schön in's Zeug legen, um für meine Bücher und für Kost und Logis aufzukommen. Nun ja, ihr seht, es ist etwas aus mir geworden. Nach Schule und Studium bekam ich einen gutbezahlten Job in einem weltbekannten Handelsunternehmen und durfte mich wohl bald selbst zu den Wohlhabenden der Stadt zählen. Ich heiratete ein liebes Mädchen, bald stellten sich nacheinander drei reizende Kinderchen ein, was hätte ich mir mehr wünschen sollen? Zu meinem Dorf hatte ich so gut wie gar keinen Kontakt mehr. Die Eltern waren vor Jahren gestorben, die Freunde in alle Winde zerstreut, Geschwister hatte ich keine, es zog mich nichts mehr dorthin. Einmal hörte ich von einem Bekannten, Magdalena hätte einen reichen Geschäftsmann geheiratet und sich irgendwo im Ausland niedergelassen. Auch das berührte mich kaum noch. "Ich wünsch dir Glück, Magdalena", dachte ich. Die Schwärmereien meiner Jugendtage waren längst Vergangenheit.
Wie es der dumme Zufall will hatte ich eines Tages einen geschäftlichen Termin in B., und die Bahnstrecke führte auch durch die kleine Kreisstadt, in deren Nähe ich meine Kindheit verbracht hatte. Dem Fahrplan nach hätte der Zug hier nicht halten sollen, es hieß, irgend etwas blockierte die Gleise, der Schaden würde aber bald behoben sein, und die Fahrgäste würden freundlichst um etwas Geduld gebeten. Ich weiß nicht, was mich bewog, mein Gepäck zu nehmen und auszusteigen. Es war schon später Nachmittag, und mein Termin am selben Abend ließ eine Unterbrechung der Fahrt eigentlich nicht zu. Das hätte ich mir eher überlegen sollen, denn in diesem Moment fuhr der Zug wieder an. Verflixt, jetzt würde ich meinen Termin verpassen, das konnte Ärger geben. Plötzlich hatte ich eine seltsame Idee: Schwierigkeiten würde ich sowieso bekommen, also warum nicht noch ein wenig bleiben und mein altes Dorf besuchen. Kurzentschlossen verstaute ich mein Gepäck in einem Schließfach und machte mich auf den Weg. Mal sehen, was sich alles so verändert hatte, ich war ja fast 30 Jahre nicht mehr hier gewesen. Die alte Straße gab es noch, sie war allerdings inzwischen asphaltiert und mit breiten Bürgersteigen versehen. Und die vielen Häuser! Wo kommen denn bloß all die Leute her, die darin wohnen? Im Dorf selbst waren nur noch die alten Häuser rings um den Lindenplatz unverändert, das war aber auch das einzige, was ich wiedererkannte. Anscheinend standen die Fassaden unter Denkmalschutz, sonst wären sie sicher schon längst dem Bagger zum Opfer gefallen, so wie alle anderen alten Gebäude. Ich versuchte, mein Elternhaus zu finden, aber ich fand nicht einmal die Straße. Und dafür hatte ich jetzt meinen Termin sausen lassen! Am besten, ich versuchte erstmal eine Unterkunft zu finden und etwas anständiges zwischen die Zähne. Nach kurzer Suche sah ich tatsächlich in einiger Entfernung ein Wirtshausschild. Kaum zu glauben! War das vielleicht die kleine Kneipe von damals? Dies hier mußte die Straße sein, in der ich gewohnt hatte. Vaters Stammkneipe "Bei Tante Erna" war nur ein paar Häuser von unserem entfernt gewesen, und ich stand in diesem Moment direkt davor. Wie oft war ich von der Mutter geschickt worden, den Vater zum Essen zu holen. "Geh schon mal vor, sagt ihr, ich komme gleich", hatte dann mein Vater gesagt.
Neugierig trat ich ein, Tante Erna, wenn sie überhaupt noch lebte, mußte weit über achtzig sein. Ob sie mich erkennen würde? Ach, welche Enttäuschung! Die jungen Wirtsleute konnten sich nicht einmal an Tante Erna erinnern, sie hatten das Geschäft bereits von ihrem Nachfolger übernommen, nur der Name hatte sich noch erhalten. Immerhin bekam ich ein freundliches Giebelzimmerchen, und der kleine Sohn der Wirtsleute fragte, wohl um mich aufzumuntern: "Willst du die blöde Aggala sehen?" "Kuni, laß doch den Herrn in Ruhe!", wurde er sofort von seiner Mutter zurechtgewiesen. Mehr aus Freundlichkeit zu dem Kinde als aus Interesse sagte ich: "Ach lassen Sie nur. Nun, wo ist sie denn, die blöde Aggala?" Das Bürschchen legte verschwörerisch seinen Finger auf den Mund, nahm mich bei der Hand und führte mich die Treppe hinunter, durch die Hintertüre und zum hinteren Gartentor hinaus. Wir durchquerten ein paar angrenzende Gärten bis wir zu einem weitläufigen, von verfallenen Gebäuden eingerahmten Hof kamen. Er sah so verwunschen aus, als würde hier eine andere Zeitrechnung gelten als außerhalb dieses Rechtecks. Wäre nicht das Kind an meiner Seite gewesen, hätte ich womöglich Reißaus genommen. Im hinteren Teil des Hofes stand ein kleines Gebäude, das besser erhalten schien als die übrigen. Es erinnerte mich an die kleinen Backhäuschen, die damals auf den größeren Höfen üblich waren. Wir mußten damals unsere Bleche mit Brot und Kuchen zum Bäcker tragen und sie dort backen lassen, nur die reicheren Familien hatten ein Backhaus. "Komm, aber leise, damit sie uns nicht hört." "Was ist das für ein Name, Aggala?", fragte ich flüsternd meinen kleinen Begleiter. "So heißt sie eben, jedenfalls sagt sie immer nur Aggala, Aggala, Aggala, den ganzen Tag, wirklich. Sie war eines Tages da, sagt mein Vater, und seit dem wohnt sie hier im Backhäuschen, und wir bringen ihr manchmal zu essen", entgegnete er. Ich blickte gespannt durch die kleine Luke in der Tür, konnte aber nichts entdecken. "Du mußt reingehen, sonst siehst du nichts, sie liegt immer im Dunkeln", sagte der Knirps. Jetzt war ich wirklich neugierig geworden und öffnete vorsichtig die Tür.
Überraschenderweise schwang die Tür ganz leicht und geräuschlos auf. Nur der schmale Lichtstreif, den ich mit hineinbrachte, erhellte etwas die Umgebung und ließ mich ein altes Feldbett voller Lumpen, ein Höckerchen und einen wackeligen Tisch sehen. In der Ecke lag ein großer Haufen Bauschutt, ein paar zerbrochene Flaschen und die Hinterlassenschaften von unzähligen Ratten und Mäusen. Hier sollte ein Mensch leben? Der Junge will mich doch auf den Arm nehmen! Erzürnt drehte ich mich um, aber das Bürschchen war längst über alle Berge. Ein leises Geräusch ließ mich herumfahren. "Aggala, Aggala, Aggala, ...", ganz deutlich war es jetzt zu hören, aus dem Lumpenhaufen auf dem Bett kam ein leises, eintöniges Geflüster. Bestürzt trat ich näher, da lag ein uraltes, verschrumpeltes Weiblein bewegungslos inmitten der Lumpen. Sie hatte die Augen geschlossen, nur die ununterbrochen murmelnden Lippen verrieten, daß sie überhaupt noch lebte. Wie alt mochte sie sein? Sie hatte mehr Ähnlichkeit mit einer der gut erhaltenen ägyptischen Mumie als mit einem lebenden Menschen. Was war mit ihr? War sie krank? Oder einfach nur steinalt? "Aggala, Aggala, Aggala", mir war, als würde das Geflüster schon seit Jahrtausenden andauern und könnte niemals enden. Eine Strähne struppigen, schneeweißen Haares schien unter der Lumpendecke hervorgekrochen zu sein und umrahmte ihre ganze magere Gestalt. Trotz meines Grauens mußte ich sie berühren, als ob ich mich vergewissern wollte, daß ich nicht träumte. "Aggala?", flüsterte ich, "Wer bist du, Aggala?" Sie drehte ihren Körper ein wenig in meine Richtung, offenbar hatte sie wahrgenommen, daß jemand da war. Erschrocken bemerkte ich, daß ihr langes Haar mit weißen Bändern geschmückt war, das war mir vorher gar nicht aufgefallen. Absurd, diese Frau war mindestens hundert Jahre alt, wenn nicht älter, und trug ihre Haare wie ein Kind. "Aggala?", versuchte ich es noch einmal. Ihre zarte Hand mit der durchscheinenden Haut und den großen braunen Altersflecken lag leicht wie ein Vögelchen in der meinen. "Aggala, lalalalena". LENA! MAGDALENA! Im selben Moment, als ich begriff, wer sie war, schlug sie die Augen auf. Wunderbare, strahlend blaue Augen, die Zeit und alle widrigen Umstände hatten ihnen nichts anhaben können.