Gernot Jennerwein
Mitglied
Aljoscha
Es war in Sankt Petersburg, an einem Tag im Frühling. Draußen am Horizont versank gerade zinnoberrot die Sonne. Ein lauer Wind fiel aus der Ebene ein, dumpf hörte man am Stadtrand das Geläute der Kasaner Kathedrale. Auf den Dächern der Häuser schmolz der Schnee, von den Kanten und Traufen tropfte das Wasser herab, das sich im Match auf den Pflastersteinen sammelte, überlief und in beachtlichen Rinnsalen abwärtsfloss.
Für die Bürger der Stadt, für die einfachen Leute, für die Tagelöhner und selbst für die Taugenichtse und armseligen Bettler, war dieser Tag, ein Tag, der großartig war. Sie hasteten und rannten, sie hetzten und stolperten, sie humpelten und krochen durch die Straßen und Gassen, als wäre der Lohn am Ende aus Gold und Silber oder gar das eigene Seelenheil.
Bereits zu Hunderten hatten die Schaulustigen sich vor dem Winterpalast des Zaren eingefunden. Mit staunenden Gesichtern verfolgten sie die Künste der Gaukler, die aus dem fernen Moskau gekommen waren, um ihre Taschenspielerei und Akrobatik in die Welt hinaus zu tragen. Niemals zuvor, da gab ein jeder jedem Recht, war in der Stadt solch wundervoller Schabernack getrieben worden. Die Menge klatschte und jubelte, und ohne Unterlass wurden anerkennende Worte lauthals über den Platz gerufen.
Ein kleiner Junge, dessen Schuhe von Lumpen zusammengehalten wurden, und der obendrein recht schlank und schmutzig war und in viel zu großer Kleidung steckte, lief zwischen den lärmenden Leuten umher, wobei er nach Herren suchte, die ihm nobel schienen. Und fand er einen Mann in feinem Tuch und mit Zylinderhut, warf er sich sogleich in die Hocke und begann eifrig, ihm die Schuhe mit Bürste und Spucke zu putzen. An manchen Tagen erhielt er dafür eine halbe Kopeke, an manchen sogar eine ganze, aber an diesem einen Tag wurde er nur ein ums andere Mal mit bösen Tritten vertrieben.
So war der Knabe seiner Arbeit bald überdrüssig. Er steckte die Bürste in die Hosentasche und mit ihr all seine Sorgen. Wie ein kleines Vögelchen pfeifend kroch er unter einen der Zirkuskarren. Auf dem Bauch liegend und mit rollenden Augen verfolgte er das Treiben der Schausteller bei ihrem Spiel. Nie in seinem Leben hatte er einen solch herrlichen Zeitvertreib gesehen. Was waren das für Attraktionen, so etwas gab es bestimmt kein zweites Mal auf der ganzen Welt zu sehen. Eine Zigeunerin, sie sah aus wie eine alte Hexe, drehte die Kurbel an einem Leierkasten, daneben auf dem Podest tanzte ein Bär auf seinen Hintertatzen an der langen Leine gehalten. Ein pechschwarzer Mann spuckte sprühendes Feuer aus seinem Mund, hoch und weit, dann fraß er Flamme um Flamme vom Holz, unersättlich, dass es nur so zischte. Ein hünenhafter Kerl, er trug das Haar zu Zöpfen geflochten wie ein Husar, hielt in beiden Händen Bündel von Schnüren, an denen unzählige Luftballons angebunden waren, die seine Arme hoch nach oben zogen. Der Gaukler brauchte all seine Kraft, um die Luftballons bei sich über seinem Kopf zu behalten. Aber dann sprang er selbst in die Luft, höher als ein Pferd samt Reiter zusammen, und schwebte an den Ballons zappelnd wieder langsam auf die Bühne herab.
Immer aufs Neue, höher und höher flog der Husar in die Lüfte. Das Herz des Jungen schlug ganz schnell. Mit geröteten Wangen saß er da und war glücklich unter seinem Karren. Er klatschte in die Hände, jauchzte überschwängliche Worte, und auf einmal, ehe er sich versah, machte er einen Purzelbaum, ohne dass er es merkte. Aber bald war es mit seiner Unbekümmertheit vorbei. Ein Mann bückte sich und brüllte ihn von der Seite an. Der tobende Mensch erwischte ihn am Ohr und zerrte ihn unter dem Karren hervor.
Vladimir, sein Vormund, hielt ihn am Kragen gepackt. Er war erzürnt über des Jungen Faulenzerei und leere Taschen. Üble Worte sagend, schaffte er den Knaben fort und sperrte ihn wie so oft in das große Fass, in dem das alte Fell eines Schafes lag, damit der magere Knirps nicht erfror. Doch ohne Wasser, ohne Brot und in die allerschlimmste Dunkelheit.
In der Nacht träumte sich der Junge als einen Husaren, der mit seinen Freunden durch die Lande zieht und immer und immer lacht. Er wachte auf und sprang hoch und höher, wie in seinem Traum, dabei zitterte und wackelte das Fass, als würde die Erde beben. Immerfort schlug er mit seinen Handflächen gegen den morschen Deckel, bis er plötzlich brach.
Früh in den Morgenstunden suchte Vladimir nach seinem Mündel, doch vergeblich war seine Mühe. Gleichfalls zur selben Zeit stellte der gaukelnde Husar fest, dass seine Luftballons davongeflogen waren. Er schimpfte ohne Unterlass und gab dem Wind die Schuld, der sie wohl losgerissen haben musste.
Später standen die beiden Männer auf dem Alexanderplatz. Ihr Fluchen und Jammern nahm kein Ende. Aber mit einem Male verstummten sie, denn sie glaubten, über sich, von ganz hoch oben kommend, leise eine Kinderstimme glucksen und lachen zu hören.
Es war in Sankt Petersburg, an einem Tag im Frühling. Draußen am Horizont versank gerade zinnoberrot die Sonne. Ein lauer Wind fiel aus der Ebene ein, dumpf hörte man am Stadtrand das Geläute der Kasaner Kathedrale. Auf den Dächern der Häuser schmolz der Schnee, von den Kanten und Traufen tropfte das Wasser herab, das sich im Match auf den Pflastersteinen sammelte, überlief und in beachtlichen Rinnsalen abwärtsfloss.
Für die Bürger der Stadt, für die einfachen Leute, für die Tagelöhner und selbst für die Taugenichtse und armseligen Bettler, war dieser Tag, ein Tag, der großartig war. Sie hasteten und rannten, sie hetzten und stolperten, sie humpelten und krochen durch die Straßen und Gassen, als wäre der Lohn am Ende aus Gold und Silber oder gar das eigene Seelenheil.
Bereits zu Hunderten hatten die Schaulustigen sich vor dem Winterpalast des Zaren eingefunden. Mit staunenden Gesichtern verfolgten sie die Künste der Gaukler, die aus dem fernen Moskau gekommen waren, um ihre Taschenspielerei und Akrobatik in die Welt hinaus zu tragen. Niemals zuvor, da gab ein jeder jedem Recht, war in der Stadt solch wundervoller Schabernack getrieben worden. Die Menge klatschte und jubelte, und ohne Unterlass wurden anerkennende Worte lauthals über den Platz gerufen.
Ein kleiner Junge, dessen Schuhe von Lumpen zusammengehalten wurden, und der obendrein recht schlank und schmutzig war und in viel zu großer Kleidung steckte, lief zwischen den lärmenden Leuten umher, wobei er nach Herren suchte, die ihm nobel schienen. Und fand er einen Mann in feinem Tuch und mit Zylinderhut, warf er sich sogleich in die Hocke und begann eifrig, ihm die Schuhe mit Bürste und Spucke zu putzen. An manchen Tagen erhielt er dafür eine halbe Kopeke, an manchen sogar eine ganze, aber an diesem einen Tag wurde er nur ein ums andere Mal mit bösen Tritten vertrieben.
So war der Knabe seiner Arbeit bald überdrüssig. Er steckte die Bürste in die Hosentasche und mit ihr all seine Sorgen. Wie ein kleines Vögelchen pfeifend kroch er unter einen der Zirkuskarren. Auf dem Bauch liegend und mit rollenden Augen verfolgte er das Treiben der Schausteller bei ihrem Spiel. Nie in seinem Leben hatte er einen solch herrlichen Zeitvertreib gesehen. Was waren das für Attraktionen, so etwas gab es bestimmt kein zweites Mal auf der ganzen Welt zu sehen. Eine Zigeunerin, sie sah aus wie eine alte Hexe, drehte die Kurbel an einem Leierkasten, daneben auf dem Podest tanzte ein Bär auf seinen Hintertatzen an der langen Leine gehalten. Ein pechschwarzer Mann spuckte sprühendes Feuer aus seinem Mund, hoch und weit, dann fraß er Flamme um Flamme vom Holz, unersättlich, dass es nur so zischte. Ein hünenhafter Kerl, er trug das Haar zu Zöpfen geflochten wie ein Husar, hielt in beiden Händen Bündel von Schnüren, an denen unzählige Luftballons angebunden waren, die seine Arme hoch nach oben zogen. Der Gaukler brauchte all seine Kraft, um die Luftballons bei sich über seinem Kopf zu behalten. Aber dann sprang er selbst in die Luft, höher als ein Pferd samt Reiter zusammen, und schwebte an den Ballons zappelnd wieder langsam auf die Bühne herab.
Immer aufs Neue, höher und höher flog der Husar in die Lüfte. Das Herz des Jungen schlug ganz schnell. Mit geröteten Wangen saß er da und war glücklich unter seinem Karren. Er klatschte in die Hände, jauchzte überschwängliche Worte, und auf einmal, ehe er sich versah, machte er einen Purzelbaum, ohne dass er es merkte. Aber bald war es mit seiner Unbekümmertheit vorbei. Ein Mann bückte sich und brüllte ihn von der Seite an. Der tobende Mensch erwischte ihn am Ohr und zerrte ihn unter dem Karren hervor.
Vladimir, sein Vormund, hielt ihn am Kragen gepackt. Er war erzürnt über des Jungen Faulenzerei und leere Taschen. Üble Worte sagend, schaffte er den Knaben fort und sperrte ihn wie so oft in das große Fass, in dem das alte Fell eines Schafes lag, damit der magere Knirps nicht erfror. Doch ohne Wasser, ohne Brot und in die allerschlimmste Dunkelheit.
In der Nacht träumte sich der Junge als einen Husaren, der mit seinen Freunden durch die Lande zieht und immer und immer lacht. Er wachte auf und sprang hoch und höher, wie in seinem Traum, dabei zitterte und wackelte das Fass, als würde die Erde beben. Immerfort schlug er mit seinen Handflächen gegen den morschen Deckel, bis er plötzlich brach.
Früh in den Morgenstunden suchte Vladimir nach seinem Mündel, doch vergeblich war seine Mühe. Gleichfalls zur selben Zeit stellte der gaukelnde Husar fest, dass seine Luftballons davongeflogen waren. Er schimpfte ohne Unterlass und gab dem Wind die Schuld, der sie wohl losgerissen haben musste.
Später standen die beiden Männer auf dem Alexanderplatz. Ihr Fluchen und Jammern nahm kein Ende. Aber mit einem Male verstummten sie, denn sie glaubten, über sich, von ganz hoch oben kommend, leise eine Kinderstimme glucksen und lachen zu hören.