Winfried Hau
Mitglied
Um 15 Uhr war Termin, und pünktlich stand Paul Klein vor der Praxis. Doch er ging nicht hinein in dieses Haus, in dem Menschen in weißen Kitteln freundlich das Damoklesschwert schwangen.
Nein, er wollte keine Diagnose hören, jedenfalls noch nicht. Lieber wollte er noch ein paar Wochen, Monate oder sogar Jahre lang in der Hoffnung leben, dass alles nur halb so schlimm sei, vielleicht nur eine kleine Verstimmung.
Dass dies unvernünftig war, dessen war sich Paul Klein bewusst. Wahrscheinlich konnte eine Früherkennung das Schlimmste verhindern.
Aber Paul Klein wollte keine Früherkennung, keine Diagnose. Eine Diagnose setzte Grenzen. Er wollte keine Grenzen mehr; an zu viele war er gestoßen, immer wieder.
Er ging zurück Richtung Bahnhof. Passanten warfen hin und wieder einen Blick in die Schaufenster, starrten dann auf ihre Handys, lächelten zufrieden, erhoben manchmal den Blick, entdeckten nichts Interessantes und begaben sich wieder zurück in die Welt eines kleinen Rechtecks.
Paul Klein war leicht übel als er in den Zug stieg, der, wie immer, ziemlich überfüllt war. Glücklicherweise konnte er noch einen Notsitz finden.
Neben ihm saß ein ganz in Schwarz gekleideter Herr, der halblaut Sätze aus einem Buch las:
"Meine Seele preist die Größe des Herrn... Der Herr ist mein Hirte..."
Ohne Zweifel, der Herr war ein Priester, der im Brevier las.
Von Station zu Station wurde der Zug leerer, und Klein setzte sich auf einen freigewordenen Vierersitzplatz. Der Priester folgte ihm, legte seinen kleinen Koffer auf die Gepäckablage, setzte sich gegenüber und las weiterhin halblaut vor sich hin.
Plötzlich spürte Paul Klein wieder diesen stechenden Schmerz in der Magengegend. Tief ein- und ausatmen, den Schmerzherd über dem Bauch mit der Hand leicht massieren, nochmals tief ein- und ausatmen: diese Taktik hatte immer geholfen, und sie half auch jetzt.
Sein Gegenüber hatte inzwischen die Augen geschlossen, und das Brevier war in seinen Schoß gefallen.
Irgendwie erinnerten Klein die extrem hochgezogenen Augenbrauen und die herabhängenden Mundwinkel an einen Bekannten aus uralten Zeiten.
Der Priester zuckte, vielleicht von einem Traumbild ins nächste wechselnd, und das Brevier fiel zu Boden. Die erste Seite lag geöffnet da, worauf handschriftlich stand: Gunther Sommer, Diener des Herrn.
"Gunther Sommer, Gunther Sommer!", überlegte Klein.
Ja, er kannte einen Gunther Sommer. Sie waren zusammen zur Schule gegangen. War dieser Priester ein ehemaliger Mitschüler? Das Alter passte.
Nachdem der Priester wieder die Augen geöffnet, sich gestreckt und gegähnt hatte, reichte ihm Klein das heruntergefallene Brevier.
Der bedankte sich mit einer viel weicheren Stimme, als Klein vermutet hatte.
"Entschuldigen Sie, dass ich Sie anspreche!", sagte Klein.
"Sind Sie zufällig Gunther Sommer?"
Der Priester blickte erstaunt.
"Ja, der bin ich!", sagte er. "Kennen wir uns?"
"Ich denke, wir sind zusammen zur Schule gegangen."
"Ach ja? Das muss lange her sein!"
"Paul Klein ist mein Name. Erinnern Sie sich?"
"Klein, Klein, Klein", überlegte der Priester. "Tut mir leid, aber der Name sagt mir nichts."
Dann schlug er sich mit der Hand an die Stirn.
"Paulchen Klein, ja natürlich, das kleine schüchterne Paulchen! Aber du, ich darf doch du sagen, bist erst später in unsere Klasse gekommen, weil du eine Ehrenrunde drehen musstest.
Klein fuhr sich verlegen durch sein schütteres Haar.
Der sechzehnjährige Gunther Sommer stand wieder lebendig vor ihm: groß, blonde Mähne, Liebling der Mädchen und Klassenprimus. Dabei immer ein wenig melancholisch, Anhänger des Existentialismus und surrealer Malerei.
Klein und Sommer waren nie Freunde gewesen, hatten nie miteinander geredet. Man kannte sich, und das war es. Man hatte sich nichts zu sagen.
Nach dem Abitur, das Klein mit Ach und Krach, Sommer mit Bravour bestanden hatte, verloren sich beide völlig aus den Augen.
"Ehrlich gesagt, bin ich mehr als überrascht, dass Sie, Entschuldigung, gerade du Priester geworden bist!", sagte Klein.
"Tja weißt du", sagte Sommer, "vielleicht lag dahinter der Wunsch, ein ganz anderes Leben zu führen als das der sogenannten normalen Menschen. Beruf, Frau, Kinder,- das war mir zu wenig. Ich wollte dem Leben tiefer auf die Schliche kommen, wollte von Philosophen und Theologen Antworten auf die großen Fragen erhalten. Außerdem wollte ich Menschen helfen, die Not leiden und nach Sinn suchen. So konnte ich nur Priester werden. Was hast du eigentlich nach dem Abi gemacht?"
"Ich bin Grundschullehrer geworden", sagte Klein.
"Und? Bist du zufrieden mit deinem Beruf?"
"Na ja, inzwischen bin ich zu alt für die Kids. Aber in zwei Jahren kommt die Rente."
"Frau? Kinder?", fragte Sommer.
"Meine Frau ist vor zwei Jahren gestorben und meine Tochter lebt in den USA, Habe kaum Kontakt zu ihr."
"Das tut mir leid!", sagte Sommer. "Das Leben kann manchmal hart sein."
Beide schwiegen, ließen einsame Gehöfte und wachholderbewachsene Hügel an sich vorüberziehen.
Dann sagte Klein: "Ich beneide dich. Du lebst in einer Welt voller Glaube, Hoffnung und Liebe."
"Meinst du?", fragte Sommer.
Jetzt, so dachte Klein, sei eine gute Gelegenheit, endlich einmal ehrlich von den Schmerzen zu erzählen, von der Angst vor der Diagnose und allen anderen neurotischen Befürchtungen. Ein Priester muss verstehen, tröstende Worte finden, die ein wenig aufatmen lassen, ein wenig wieder zurück in Geborgenheit und Mutterschoß führen.
"Also", sagte Klein: "Mir geht es gar nicht gut. Seit einiger Zeit plagen mich Schmerzen..."
"Du glaubst ich lebe in einer Welt voller Glaube, Liebe und Hoffnung!", sagte Sommer.
"Ich will dir einmal etwas sagen, alter Junge. Alle Priester und Theologen sind bestenfalls Agnostiker. Glaube, Hoffnung, Liebe. Schöne Worte, aber nicht mehr, Wir Priester labern den Leuten etwas vor. Gott? Mag sein, dass es eine höhere, uns völlig unbekannte Dimension gibt. Aber der Gott unserer Vorstellungswelt ist tot."
"Aber du bist Priester!", sagte Klein, "und du hast so vertieft in deinem Brevier gelesen."
"Routine!", antwortete Sommer. "Ich plappere einfach Worte herunter, so wie jemand irgendwelche Melodien in den Wald pfeift, um seine Angst zu vertreiben."
Wieder spürte Klein den stechenden Schmerz und wieder versuchte er die bewährte Taktik, diesmal erfolglos anzuwenden.
"Ist dir nicht gut?", fragte Sommer.
"Alles gut, es ist nur..."
"Ich bin auf dem Weg zu Exerzitien. Die werden meistens von Jesuiten gehalten, die in bestechender Logik ein Weltbild aufbauen, worin der Atheismus keinen Platz hat. Aber die Wurzeln dieses Weltbildes sind faul. Keiner aber hinterfragt die Wurzeln, alle wollen ein geschlossenes, logisches Weltbild."
Klein krümmte sich vor Schmerzen.
"Mensch Paulchen", sagte Sommer."Dir scheint es ja richtig dreckig zu gehen. Du wolltest mir doch eben über deine Schmerzen erzählen."
"Schon gut!", sagte Klein. "Das geht schon wieder. In fünf Minuten erreicht der Zug meinen Heimatort."
"Ich fahre drei Stationen weiter", sagte Sommer.
Schweigend, nachdem Klein endlich wieder seine Taktik erfolgreich angewendet hatte, fuhren sie weiter, blickten aus dem Fenster, sahen bei herangebrochener Dunkelheit nur noch ihre Spiegelbilder und hingen eigenen Gedanken nach.
Sie verabschiedeten sich mit einem kraftlosen Händedruck.
"Geh zum Arzt!", sagte Sommer.
"Ja, ja", sagte Klein und stieg aus.
Nein, er wollte keine Diagnose hören, jedenfalls noch nicht. Lieber wollte er noch ein paar Wochen, Monate oder sogar Jahre lang in der Hoffnung leben, dass alles nur halb so schlimm sei, vielleicht nur eine kleine Verstimmung.
Dass dies unvernünftig war, dessen war sich Paul Klein bewusst. Wahrscheinlich konnte eine Früherkennung das Schlimmste verhindern.
Aber Paul Klein wollte keine Früherkennung, keine Diagnose. Eine Diagnose setzte Grenzen. Er wollte keine Grenzen mehr; an zu viele war er gestoßen, immer wieder.
Er ging zurück Richtung Bahnhof. Passanten warfen hin und wieder einen Blick in die Schaufenster, starrten dann auf ihre Handys, lächelten zufrieden, erhoben manchmal den Blick, entdeckten nichts Interessantes und begaben sich wieder zurück in die Welt eines kleinen Rechtecks.
Paul Klein war leicht übel als er in den Zug stieg, der, wie immer, ziemlich überfüllt war. Glücklicherweise konnte er noch einen Notsitz finden.
Neben ihm saß ein ganz in Schwarz gekleideter Herr, der halblaut Sätze aus einem Buch las:
"Meine Seele preist die Größe des Herrn... Der Herr ist mein Hirte..."
Ohne Zweifel, der Herr war ein Priester, der im Brevier las.
Von Station zu Station wurde der Zug leerer, und Klein setzte sich auf einen freigewordenen Vierersitzplatz. Der Priester folgte ihm, legte seinen kleinen Koffer auf die Gepäckablage, setzte sich gegenüber und las weiterhin halblaut vor sich hin.
Plötzlich spürte Paul Klein wieder diesen stechenden Schmerz in der Magengegend. Tief ein- und ausatmen, den Schmerzherd über dem Bauch mit der Hand leicht massieren, nochmals tief ein- und ausatmen: diese Taktik hatte immer geholfen, und sie half auch jetzt.
Sein Gegenüber hatte inzwischen die Augen geschlossen, und das Brevier war in seinen Schoß gefallen.
Irgendwie erinnerten Klein die extrem hochgezogenen Augenbrauen und die herabhängenden Mundwinkel an einen Bekannten aus uralten Zeiten.
Der Priester zuckte, vielleicht von einem Traumbild ins nächste wechselnd, und das Brevier fiel zu Boden. Die erste Seite lag geöffnet da, worauf handschriftlich stand: Gunther Sommer, Diener des Herrn.
"Gunther Sommer, Gunther Sommer!", überlegte Klein.
Ja, er kannte einen Gunther Sommer. Sie waren zusammen zur Schule gegangen. War dieser Priester ein ehemaliger Mitschüler? Das Alter passte.
Nachdem der Priester wieder die Augen geöffnet, sich gestreckt und gegähnt hatte, reichte ihm Klein das heruntergefallene Brevier.
Der bedankte sich mit einer viel weicheren Stimme, als Klein vermutet hatte.
"Entschuldigen Sie, dass ich Sie anspreche!", sagte Klein.
"Sind Sie zufällig Gunther Sommer?"
Der Priester blickte erstaunt.
"Ja, der bin ich!", sagte er. "Kennen wir uns?"
"Ich denke, wir sind zusammen zur Schule gegangen."
"Ach ja? Das muss lange her sein!"
"Paul Klein ist mein Name. Erinnern Sie sich?"
"Klein, Klein, Klein", überlegte der Priester. "Tut mir leid, aber der Name sagt mir nichts."
Dann schlug er sich mit der Hand an die Stirn.
"Paulchen Klein, ja natürlich, das kleine schüchterne Paulchen! Aber du, ich darf doch du sagen, bist erst später in unsere Klasse gekommen, weil du eine Ehrenrunde drehen musstest.
Klein fuhr sich verlegen durch sein schütteres Haar.
Der sechzehnjährige Gunther Sommer stand wieder lebendig vor ihm: groß, blonde Mähne, Liebling der Mädchen und Klassenprimus. Dabei immer ein wenig melancholisch, Anhänger des Existentialismus und surrealer Malerei.
Klein und Sommer waren nie Freunde gewesen, hatten nie miteinander geredet. Man kannte sich, und das war es. Man hatte sich nichts zu sagen.
Nach dem Abitur, das Klein mit Ach und Krach, Sommer mit Bravour bestanden hatte, verloren sich beide völlig aus den Augen.
"Ehrlich gesagt, bin ich mehr als überrascht, dass Sie, Entschuldigung, gerade du Priester geworden bist!", sagte Klein.
"Tja weißt du", sagte Sommer, "vielleicht lag dahinter der Wunsch, ein ganz anderes Leben zu führen als das der sogenannten normalen Menschen. Beruf, Frau, Kinder,- das war mir zu wenig. Ich wollte dem Leben tiefer auf die Schliche kommen, wollte von Philosophen und Theologen Antworten auf die großen Fragen erhalten. Außerdem wollte ich Menschen helfen, die Not leiden und nach Sinn suchen. So konnte ich nur Priester werden. Was hast du eigentlich nach dem Abi gemacht?"
"Ich bin Grundschullehrer geworden", sagte Klein.
"Und? Bist du zufrieden mit deinem Beruf?"
"Na ja, inzwischen bin ich zu alt für die Kids. Aber in zwei Jahren kommt die Rente."
"Frau? Kinder?", fragte Sommer.
"Meine Frau ist vor zwei Jahren gestorben und meine Tochter lebt in den USA, Habe kaum Kontakt zu ihr."
"Das tut mir leid!", sagte Sommer. "Das Leben kann manchmal hart sein."
Beide schwiegen, ließen einsame Gehöfte und wachholderbewachsene Hügel an sich vorüberziehen.
Dann sagte Klein: "Ich beneide dich. Du lebst in einer Welt voller Glaube, Hoffnung und Liebe."
"Meinst du?", fragte Sommer.
Jetzt, so dachte Klein, sei eine gute Gelegenheit, endlich einmal ehrlich von den Schmerzen zu erzählen, von der Angst vor der Diagnose und allen anderen neurotischen Befürchtungen. Ein Priester muss verstehen, tröstende Worte finden, die ein wenig aufatmen lassen, ein wenig wieder zurück in Geborgenheit und Mutterschoß führen.
"Also", sagte Klein: "Mir geht es gar nicht gut. Seit einiger Zeit plagen mich Schmerzen..."
"Du glaubst ich lebe in einer Welt voller Glaube, Liebe und Hoffnung!", sagte Sommer.
"Ich will dir einmal etwas sagen, alter Junge. Alle Priester und Theologen sind bestenfalls Agnostiker. Glaube, Hoffnung, Liebe. Schöne Worte, aber nicht mehr, Wir Priester labern den Leuten etwas vor. Gott? Mag sein, dass es eine höhere, uns völlig unbekannte Dimension gibt. Aber der Gott unserer Vorstellungswelt ist tot."
"Aber du bist Priester!", sagte Klein, "und du hast so vertieft in deinem Brevier gelesen."
"Routine!", antwortete Sommer. "Ich plappere einfach Worte herunter, so wie jemand irgendwelche Melodien in den Wald pfeift, um seine Angst zu vertreiben."
Wieder spürte Klein den stechenden Schmerz und wieder versuchte er die bewährte Taktik, diesmal erfolglos anzuwenden.
"Ist dir nicht gut?", fragte Sommer.
"Alles gut, es ist nur..."
"Ich bin auf dem Weg zu Exerzitien. Die werden meistens von Jesuiten gehalten, die in bestechender Logik ein Weltbild aufbauen, worin der Atheismus keinen Platz hat. Aber die Wurzeln dieses Weltbildes sind faul. Keiner aber hinterfragt die Wurzeln, alle wollen ein geschlossenes, logisches Weltbild."
Klein krümmte sich vor Schmerzen.
"Mensch Paulchen", sagte Sommer."Dir scheint es ja richtig dreckig zu gehen. Du wolltest mir doch eben über deine Schmerzen erzählen."
"Schon gut!", sagte Klein. "Das geht schon wieder. In fünf Minuten erreicht der Zug meinen Heimatort."
"Ich fahre drei Stationen weiter", sagte Sommer.
Schweigend, nachdem Klein endlich wieder seine Taktik erfolgreich angewendet hatte, fuhren sie weiter, blickten aus dem Fenster, sahen bei herangebrochener Dunkelheit nur noch ihre Spiegelbilder und hingen eigenen Gedanken nach.
Sie verabschiedeten sich mit einem kraftlosen Händedruck.
"Geh zum Arzt!", sagte Sommer.
"Ja, ja", sagte Klein und stieg aus.