Anhalter Bahnhof-Alles aussteigen-Dieser Zug endet hier-Drei

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An einer Litfaßsäule hängt ein Plakat. Statisten wurden gesucht. „Fragen sie bitte nach dem Regisseur Schönthaler.“ Das wäre doch das richtige für uns. Endlich kommt sein Kumpel aus dem Polizeipräsidium, und wir drei gehen in Richtung U-Bahn, um zu dem Filmatelier zu fahren.

“Dort leuchtet wirklich das blaue U der Untergrundbahn. Nur hinein in den nächsten Zug. Nach dem geometrischen Dschungel der Straßen und Plätze ist es angenehm hell zwischen dampfenden Mänteln, Regenschirmen, Aktentaschen und den dazugehörigen gleichgiltigen Gesichtern. Keiner hat hier Zeit für den andern, jeder denkt nur an sich, wie er am besten noch Platz finden könnte. – Das ist mein Fuß, mein Herr ... Verzeihen Sie ... Herrgott, ich muß heraus. Könnt ihr mich denn nicht durchlassen ... Nur nicht so eilig ... Unverschämt ... Drängen Sie nicht ... Was wollen Sie von mir. Ich habe mein Billet so gut wie Sie bezahlt... Eigentlich sind sie alle böse aufeinander, weil sie es eilig haben, abgehetzt und müde sind, nachhause kommen wollen, überarbeitet oder voll Sorgen, daß sie am nächsten Morgen keine Arbeit haben. Sie gönnen ja einander kaum die Luft zu atmen.” Maria Lazar; Leben verboten 1934

Alles klappt, und wir werden in Kostüme gesteckt. Neugierig beobachte ich das Geschehen um uns.

“In dem großen Atelier am Zoo hatte Schönthaler sämtliche Räumlichkeiten für den Film gemietet. Als die zwölf Herren und die vier Damen früh um neun Uhr in ihren Autos am Zoo vorfuhren, mühte sich Schönthaler mit Hilfe des Bädekers von Indien und Kaarsberg's Sumatrabuch, die kahlen Räume in eine Bananenplantage zu verwandeln. Auf die Frage eines seiner Mitarbeiter:

»Sumatra oder Ceylon?«hatte er erst geschwankt, sich dann noch einmal in die beiden Bücher vertieft und, da er die Möglichkeit sah, aus beiden zu schöpfen, erwidert: »Sumatra und Ceylon!«Dem Einwand des Architekten:»Das sind doch ganz verschiedene Welten,« begegnete er mit der Behauptung:»Auf der Landkarte! Im Film nicht! Der verträgt eine Steigerung. Oder sehen Sie vielleicht einer Banane an, ob sie auf Sumatra oder in Ceylon gewachsen ist! Kombinieren Sie! Ich brauche Ebene, Gebirgsabhänge, bewässerte Terrassen und vor allem Palmen und nochmals Palmen. Kokospalmen, Arecapalmen, Kitul- und Talispotpalmen – aber in Blüte! Bambus und ein paar Ravenadas – von jedem etwas.«Unmöglich! Bedenken Sie, daß Sumatra gar keine . . .«»Ich spreche von Ceylon. Bauten, Menschen, Trachten, Stimmung beziehen wir aus Sumatra. Wir pfeifen auf das Manuskript! Ich mache es genau wie alle Dramaturgen! Ich entlehne aus Kaarsberg – wörtlich – seitenweise!«»Aber gerade Ceylon würde . . .«
Artur Landsberger; Liebe und Bananen 1927


Man zahlt jedem von uns nach der Ende des Filmdrehs zehn Mark aus.

B erzählt mir: “Dort wo ich aufgewachsen bin,

"Dicht beim Bahnhof Charlottenburg zieht sich unter den Gleisen eine schnurgerade Straße hin, die ich oft passiere, weil an ihr jenseits des Bahndamms der Bahnhofseingang liegt. Ich gestehe, dass ich diese Unterführung nie ohne ein Gefühl des Grauens durchmesse. … Eine klirrende Höllenpassage, ein düsterer Zusammenhang von Backsteinen, Eisen und Beton, der für alle Zeiten gefügt ist. Viele Menschen eilen durch diese Unterführung. Ich sage eilen und meine es wörtlich. … sie blicken nicht nach rechts oder links, sie machen so rasch, als sehnen sie sich danach, wieder an die Oberfläche zu kommen. … Es ist wohl der Gegensatz zwischen dem geschlossenen, unerschütterlichen Konstruktionssystem und dem zerrinnenden menschlichen Durcheinander, der das Grauen erzeugt." Siegfried Kracauer; Die Unterführung 1932

Ich folge B nach Charlottenburg, da seine Worte mich neugierig gemacht haben.

Auf dem Weg nach Charlottenburg gehen wir am Knast in Moabit vorbei. Ein Häftling wirft einen Gegenstand durch die Gitterstäbe. Wir heben ihn auf, und es entpuppt sich als ein Schreibheft mit Gedichten. Auf der ersten Seite steht die Bitte, das Heft zu einer ganz bestimmten Adresse zu bringen. Wie blättern es durch und lesen:

SPATZEN Zuweilen kommt Besuch: Das Eisengitter, für mich Gefängnis, ist für andre Rast. Ein Spatzenpaar ist gerne da zu Gast, ein Spatzenfräulein und ein Spatzenritter. Sie lieben sich in Zank und Zärtlichkeit, sie haben schnäbelnd sich viel zu erzählen, und wollt ein andrer Spatz die Spätzin wählen, dann gäb es einen fürchterlichen Streit. Wie seltsam ist es, ungehemmtem Leben in Fesseln voller Frage nahzustehn – ob mich die flinken, schwarzen Augen sehn? Sie schauen fort. Ein Tschilp, ein Flügelheben, der Eisenrost ist leer. Ich bin allein. Wie gerne möcht ich bei den Spatzen sein -
Albrecht Haushofer; Moabiter Sonette 1945

Die Frau, in der Redaktion der Zeitung, zu dem der Gefangene uns gesandt hat, verspricht sich um die Veröffentlichung zu kümmern. Sie heißt Olga, ist auch nicht aus Berlin, und erzählt uns ihre Geschichte.

Der Gedanke, ihre gebundenen Willensgeister in eine Stätte zu verpflanzen, wo sie sich freier tummeln, wo sie in irgendeiner Weise ihrer Wirkung zuwachsen konnten, war immer stärker in ihr geworden. So hatte sie sich für Berlin entschlossen. Eigentlich programmlos kam sie in die Weltstadt, die ihr wie ein wunderbar weites Asyl für die »Obdachlosen« erschien, – für die, die nicht in irgendeiner Tradition wurzelten, die keinem geliebten Boden verpflichtet waren, die keine andere Nationalität verkörperten, als die des Weltbürgers deutscher Sprache und nichts wollten, als sich tummeln und ihre Kräfte regen. Bedrängt von Verwandtenfürsorge, beengt von schematischen Konventionen, begrenzt und beobachtet, mißtrauisch belächelt, zu Verformungen gezwungen, die sie belästigten, – so hatte sie in Wien gelebt, und darum hatte die Luft dieser als so anmutig und gemütlich geltenden Stadt sie bedrückt; und immer hatte sie gedacht: da draußen im Reiche, in dieser großen Hauptstadt, ...

Immer, wenn Olga nach Berlin gekommen war, so war ihr, wenn der Bahnzug die äußersten westlichen Vororte durcheilte, freier zumute geworden. Mit fröhlichen Augen hatte sie aus dem Fenster des Coupés die Villenkolonien, die zur Weltstadt gehören, begrüßt, und auch diesmal war dieses bekannte Wohlgefühl in ihr aufgestiegen, als die Perrontafel mit der Aufschrift »Groß-Lichterfelde« mit Eilzugsgeschwindigkeit am Coupéfenster vorüberraste und sie im funkelnden Vormittagslicht jener sonnigen Oktobertage, an denen das Berliner Klima so reich ist, draußen die Villen, die Gärten, die freien Felder des Vorortes und die dunkle Linie des Grunewaldes vorüberfliegen sah. ...

Eine Menge peinlicher Beschwerden erwarteten sie bei den ersten Versuchen ihrer Niederlassung. Mit ihren knappen Mitteln konnte sie nur schwer ein besseres Mietszimmer finden, und in der Berliner »möblierten Wirtin« lernte sie eine Spezies kennen, die sie bald fürchtete. Da wurde jeder Handgriff, jede Kanne heißen Wassers, jede abgespülte Teetasse separat auf Rechnung gesetzt. Dann mußte sie Tag für Tag ausgehen und in den Restaurationen nach billigen Menus suchen, die noch immer für sie viel zu teuer waren.
Grete Meisel Hess “Die Intellektuellen” 1911

An die Tür des Redaktionsbüros klopft eine junge Frau. Sie ist eine Honorarschreiberin, und bittet Olga ihre humoristischen Verse in die nächste Ausgabe der Zeitung zu setzen. Wir hören neugierig zu. Sie liest vor:

“Vera mit der schlanken Wade Und der Mannequingestalt Hat ihr Heim in Lichtenrade! Und ich wohn’ in Grunewald. Früher mußt’ ich Auto fahren Doch mein Portemonnaie war knapp Und ich dachte mit den Jahren Schaffst du dir den Luxus ab. Heute fährt man von der Panke Bis hinaus zur Krummen Lanke Oben, unten, raus und rein Alles für ’nen Einheitsschein. Für zwanzig Pfennig durch Berlin Von Rummelsburg nach Tauentzien Von Pichelsdorf nach neue Welt Alles für ein Geld. Meine kleine Liselotte Bittet mich bei Nacht und Tag Sei doch nett mein lieber Otto Schenk mir einen Hanomag” Der Einheitsfahrschein Gertrud Kolmar 1927

Olga gefällt das Gedicht, und sie zahlt ihr zwanzig Mark aus. Wir kommen mit der Autorin ins Gespräch, und sie erzählt uns, dass sie zum Glück vom Schreiben nicht leben muss. Im Hauptberuf arbeitet sie als Sekretärin im Anwaltsbüro ihres Vaters.

Nachdem wir den Auftrag des Gefangenen erfüllt haben, sagt B zu mir: “Komm, ich zeig dir die Fabrik, wo ich früher gearbeitet habe”. Es ist gerade Schichtwechsel.

“Ihnen entgegen, aber an ihnen vorüber, schleppte sich ein anderer Zug: die verbrauchte Schicht. Er wälzte sich breit heraus, ein endloser Strom. Zwölf Glieder breit war der Strom. Die gingen im gleichen Schritt. Männer-Männer-Männer, alle in gleicher Tracht. Vom Hals bis zu den Knöcheln in dunkelblauem Leinen, die nackten Füsse in gleichen harten Schuhen, fest die Haare umschließend, die gleichen schwarzen Kappen. Und sie alle hatten die gleichen Gesichter. Sie schienen zehntausend Jahre alt zu sein. Sie gingen mit hängenden Fäusten, sie gingen mit hängenden Köpfen. ...Das offene Tor des neuen Turms Babel, des Maschinenzentrums von Metropolis, spie Massen aus, wie es sie in sich schlürfte.” Thea von Harbou; Metropolis 1925

Wir gehen weiter durch B.

“Die Stunden verstrichen. Es wurde schwül. Schwere Wolken zogen sich über der fremden Stadt zusammen. Der Asphalt war bleigrau, glänzte. Die Räder der Automobile ließen eine schmutzige Spur zurück wie ein Radiergummi auf lichtem Papier. Ein Kohlenwagen rasselte vorbei. Kleine, blanke Mädchen glitten auf Rollschuhen vorüber, mit den Armen schlenkernd, den Kopf steil emporgereckt wie Eisläufer. Der Asphalt dunkelte, ein paar Tropfen fielen, sie glänzten wie geschmolzenes Metall, in der Ferne dröhnte der Donner. Aber die Sonne schien. Ein plötzlicher Wind scheuchte die Papierfetzen und Gemüseabfälle in die Mitte der Straße zusammen. Alles wurde still. Eine tiefe Glocke schlug brausend Mittag, dazwischen klangen die hellen Signale der elektrischen Straßenbahnen; widerwillig kreischten die scharf angezogenen Bremsen. …

Alles wurde lebhafter. Die Automobile lärmten wild, schossen vorbei, das Ankurbeln war so laut wie Trommelwirbel. Die Signale der elektrischen Bahn gellten mit hoher Stimme, schüchtern klapperten die

Hufe der Pferde, die Glocke der nahen Kirche klang tief wie eine Predigerstimme.”
Ernst Weiß; Franziska 1916


Am Abend treffen wir uns mit dem Maler, der die Reportage verfassen will, im Friedrichshain. Hier wollen B, ich und er, die Nacht ververbringen. Der Maler hat hier jemanden kennengelernt. Er heißt Ede Papeczinski.

“Er hielt sich vorzugsweise gern im Freien auf, vom Morgen bis Mittag, vom Mittag bis Abend, und noch länger. Auf dem Schmuckplatz vor´m Landsberger Tor, besonders in den Anlagen des Friedrichshain, war seine Heimat. Da saß er auf irgendeiner Bank. ...Er lauschte dem Gesang der Vögel, die am großen Froschteich in den Büschen jubilierten. ...Der Nachttau störte ihn nicht. Den fröstelnden Schauer vertrieb er mit einem Schluck aus der Pulle... Durch fortgesetzte Übung hatte er es dahin gebracht, im Sitzen schlafen zu können. Das Liegen auf der harten Bank machte die Glieder zu steif. So brauchte er in der Frühe nur die Arme einmal über den Kopf zu recken...” Clara Viebig; Der Sonnenbruder 1901

Auch der Friedrichshain mit dem Märchenbrunnen entpuppt sich als Schwulentreff. Überall sieht man Männer Hand in Hand miteinander durch die Gegend laufen. Wir kommen mit einem jungen Mann ins Gespräch, der dort auf seinen Freund wartet. Er erzählt uns, dass er Klaus heißt und Schriftsteller ist.

Ich war noch nicht ganz siebzehn Jahre alt, als ich, 1923, zum erstenmal nach B kam, zunächst nur auf eine kurze Visite. Die Inflation näherte sich ihrem schwindelerregenden Höhepunkt. Die Stadt erschien zugleich erbarmungswürdig und verführerisch: grau, schäbig, verkommen, aber doch vibrierend von nervöser Vitalität, gleißend, glitzernd, phosphoreszierend, hektisch animiert, voll Spannung und Versprechen. Ich war im siebenten Himmel. In Berlin zu sein bedeutete an sich schon erregendes Abenteuer! Die prosaischen Avenuen und öden Plätze, alles schien mir zauberhaft belebt, voll von lockendem Geheimnis. Wie köstlich, diese Straßen entlangzubummeln, mit deren Namen sich mir die Vorstellung von sündigem Hochbetrieb und großer Welt verband: Friedrichstraße, Unter den Linden, Tauentzienstraße, Kurfürstendamm … Wie faszinierend, in einem der kleinen russischen Restaurants, die es damals an jeder B...er Straßenecke gab, die dicke Borschtschsuppe zu löffeln und sich von einem exilierten Großfürsten bedienen zu lassen! Klaus Mann; Der Wendepunkt 1932

Sein Freund Wolfgang kommt, der ebenfalls ein Zugezogener ist und für Zeitungen schreibt. Er setzt sich neben uns.

In der Zwischenzeit hat Klaus jemanden kennengelernt, und die beiden verschwinden Hand in Hand im Gebüsch. Wir haben sie nicht mehr wiedergesehen.

Sein Freund, der nicht schwul ist, sondern die Frauen liebt, wie er uns erzählt, hat zwar ein möbliertes Zimmer im Prenzlauer Berg, aber möchte trotzdem mit uns zusammen die Nacht im Friedrichshain verbringen.

Er erzählt uns über seine Ankunft in B.

“Ich wollte Alles dort erringen. Wahr sollten alle Träume werden. Und ich habe nichts gewonnen als neue Träume in Stimmungen in der Stadt. Ich habe obdachlos, von Fieber geschüttelt, im Schneetreiben gefroren, bin durchnäßt und hungrig durch die jagenden Straßen getaumelt, habe geweint über einen Hund, der überfahren wurde, über Larven, die „Prost Neujahr“ schrien, über blinde Bettler, über die ganze Welt und über mich in kalten, fremden Zimmern. Und ich habe Verse geschrieben.

Habe im romanischen Café mich erwärmt am Leben. Habe mich an blanken, in Sonne blitzenden Automobilen erfreut. Habe voll Lust schönen Kindern zugelacht. Und habe meinen großen schwarzen Hut gezogen vor alten, müden Droschkenpferden. Und viele haben über mich gelacht. ...Dann war ich, im realen Leben, nichts in B als ein ewig Schiffbruchleidender, ein Alles-Besitzloser.”
Wolfgang Koeppen; Meine Mutter Maria in Auf dem Phantasieroß 1926


Am Morgen sind Ede und ich als erste wach.

“Die Vögel tirilierten in allen Büschen dem Morgen entgegen; mit einem gewissen Stolz empfand es der Frühaufsteher: er war der erste Berliner, der die liebe Sonne sah... Menschenleer war noch der Hain, leerer als am späten Abend; keine leidigen, kosenden Liebespaare, keiner, der sich mit Selbstmordabsichten hinter den Büschen am großen Teich verlor. Auch noch kein Schutzmann vigilierte...”

Ede erzählt mir von seinen Sorgen:

“Ach ja die Polizei, wenn die nicht wäre! Wenn´s den verdammten Kerlen einfiel, eine Razzia abzuhalten, war man selbst im Hain nicht sicher. Dann hieß es, den Harmlosen gespielt, den müden Arbeiter vorgeschwindelt, der, vom Bau kommend, auf einer Bank vom Schlummer überfallen worden war.” Clara Viebig; Der Sonnenbruder 1901

Der Maler, der an der Reportage schreibt, geht nach dieser Nacht im Friedrichshain seiner Wege, und B und ich auch. Aber wir werden uns wiedertreffen. Wolfgang, dem es gelungen ist, einen Artikel bei der Zeitung unterzubringen, lädt uns noch zum Frühstück ein. Das Restaurant ist gleich gegenüber, in der Straße am Friedrichshain. Hier treffen wir seinen Kumpel Fabian, der, wie soll es auch anders sein, ebenfalls ein Schreiberling ist. Außerdem werden wir Zeuge einer brutalen Szene, als ein Bettler um Brot bittet, und die Kellner ihn rauszuschmeißen versuchen.

"Fabian sprang auf, lief zu der Gruppe und und rief den Kellnern zu: „Lassen sie sofort den Herren los!“ … Entschuldigen sie, und kommen sie an meinen Tisch. … Sie sind sehr freundlich, sagte der Bettler, aber ich werde ihnen Ungelegenheiten machen. … Wenn man zwei Jahre arbeitslos ist, denkt man anders darüber. Ich schlafe am Engelufer in der Herberge. Zehn Mark zahlt mir die Fürsorge.“

Der Mann sitzt schon eine Weile bei uns am Tisch, aber kein Kellner lässt sich blicken. Sie weigern sich, ihn zu bedienen. Fabian will das nicht einfach so hinnehmen.

„Er stand auf und sagte: „Einen Augenblick, der Kellner wünscht von einer Abordung geholt zu werden.“
In der Zwischenzeit war der Mann, dem alles peinlich war, aufgestanden und zur Tür hinausgelaufen, und hatte sich auch von uns nicht aufhalten lassen.
Als Fabian zurück an unseren Tisch kam, wunderte er sich, und war traurig.

"Der Bettler war fort." Fabian“; 1931 von Erich Kästner

Fabian sagt zu mir: “Wenn du schon in B bist, musst du unbedingt das Gleisdreieck kennenlernen.”

“Ich bekenne mich zum Gleisdreieck. Es ist ein Sinnbild und ein Anfangs-Brennpunkt eines Lebenskreises und phantastisches Produkt einer Zukunft verheißenden Gewalt.

Er ist der Mittelpunkt. Alle vitalen Ereignisse des Umkreises haben hier Ursprung und Mündung zugleich, wie das Herz Ausgang und Ziel des Blutstromes ist, der durch die Adern des Körpers rauscht. ...In den Gleisdreiecken, Gleisvielecken vielmehr, laufen die großen, glänzenden, eisernen Adern zusammen, schöpfen Strom und füllen sich mit Energie für den weiteren Weg und die weite Welt: Aderndreiecke, Adernvielecke, Polygone, gebildet aus den Wegen des Lebens: Man bekenne sich zu ihnen!
Joseph Roth; Gleisdreieck 1924


Mein Freund B nimmt mich zu einer Dichterlesung mit, wo Bekannte von ihm aus ihren Texten lesen.

Der erste rezitiert mit lauter Stimme:

"Berlin, Stadt des Nordens, ...und weiter geht es wenig erfreulich: " ... Todesstadt, wo vereiste Fenster starren wie der Tod, kranke Augen, wo rissige Steine sich häufen, wo der Boden klafft wie der Wöchnerinnen Schoß. Stadt eisigen Wahns, … Zementener Kopf, … Rekrutenkopf der bartlos und schwindsüchtig einen Attilaschnurbart in sein Milchgesicht klebte, ...“ Yvan Goll; Sodom Berlin 1929

Eine junge Dichterin gefällt mir besser: Sie liest aus ihrem Roman vor.

“Gute Nacht, Gute Nacht, Gute Nacht. So vielen Menschen muss man Gute Nacht sagen. … Kleiststraße, Wittenbergplatz. Hier rechts ist die Bayreuther Straße Nr. 3. Zwei Treppen hoch. Da schläft jetzt Robert. … Tauentzienstraße, Kurfürstendamm, schön ist diese klare gute Luft. Bahnhof Zoo. Menschen, Menschen, ach so viele Menschen. Die Leute sehen alle besser, hübscher und glücklicher aus, als die denen man untertags begegnet. … Eisenzahnstraße Gleich sind wir daheim sagt Hulo. … Hulo kommt vorsichtig näher und berührt Elis Scheitel. Du weinst ja Mädchen, fragt er erstaunt. Ja, warum weinst Du denn. Er setzt sich zu ihr und nimmt den kleinen Kopf zwischen seine Hände. Weiß Gott, wie lange sie so sitzen die beiden, Hulo und Elli. Er läßt sie nicht aus seinen Armen und wenn er sich nicht schämte, würde er eigentlich am liebsten mitweinen. So begnügt er sich aber damit begütigend ihre Schulter zu klopfen. Na, na, na, sagt er in singendem Tonfall. Sei schön unglücklich. Diese Nacht nimmt keine Ende. Es ist drei Uhr morgens, als sich Hulo beim Haustor in der Suarezstraße verabschiedet. … Hulo pfeift nochmal von der Straße her die ersten Takte der Marseillaise. Eli pfeift mechanisch zurück. … Gute Nacht Hulolein, Gute Nacht.” Lily Grün; Herz über Bord 1933

Jetzt steht ein zerzauster Dichter auf und trägt aus einem zerflederten Stapel Zettel etwas vor.

“Die große Revolution

Ein Mondroman

Dem lachenden Fanatiker Alfred Walter Heymel

Auf dem Monde wars Nacht.

Und die dicke Luft war ganz still.

Und die Goldkäfer saßen auf den dunklen Moosfeldern und leuchteten – so wie die Sterne am schwarzen Himmel leuchteten.

Von der Erde war nur ein Viertel als Halbkreis zu sehen.

Und fünf Mondmänner schwebten über den Moosfeldern und leuchteten auch – aber so wie Kugeln von Phosphor.

Und der Mondmann, der voranflog, wurde plötzlich so rot wie eine feurige Kohle, und da flogen die vier anderen Mondmänner an seine Seite und wurden ganz allmählich ebenfalls so rot.”
Paul Scheerbart; Ein Mondroman 1902


Danach ist ein gewisser Moyshe Kulbak dran.

Moyshe Kulbak “Child Herold aus Disna” Gedichte über Berlin

“O, Land! Wo die Elektrik fließt

in Drähten, und in den Adern – Champagner;

wo jeder Arbeiter ist ein Marxist,

und jeder Krämer ein Kantianer. ...

Und im heißen Berliner AbendpanoramaIst er schon europäisch, gar sehr, obwohl ihm noch etwas fehlt zum ganzen Europäer: ein Hund, ein Tripper und ein Pyjama.”
Moyshe Kulbak; Child Harald aus Disna 1933


Eine Lyrikerin liest ihre Verse vor:

Sommerliebe

Wir wollen uns lieben:

Wie eine Libelle, die andere liebt.

Sommertage wollen wir leben.

Unendlich leicht sein.

Und trunken zur Sonne die Flüge breiten


Und leise, unhörbar fast, singend über dem Wasser schweben. Hilde Marx; Dreiklang Von Liebe 1935

Ich muss meinen Zug erreichen. B bringt mich hin. Es ist eine

“Aprilmitternacht. Da duften noch die Straßen von Berlin. Und sei es Berlin-O. Schlesischer Bahnhof. Koppenstraße. Ein Mann wankt und schwankt und schaukelt die leere, stille, finstere hinauf. Trunken vom April? Oder besoffen vom Kümmel und Kognak? … Ein Mann? Nein, weiß Gott, ein Herr ist es, Smoking unterm Abendmantel auf Seide, aber er hat keinen Hut. Verloren? Vergessen in der letzten Kneipe? Der Mond! - Gespenstisch, getaucht in Milch, wiegen sich die stumm schlafenden Häuserwände. Stumm ist Berlin, es hebt lautlos und senkt seinen dumpfen Leib im Schlaf. Nur der Schlesische Bahnhof entließ Lärm, Pfiffe, zischenden Dampf, und bisweilen wehten ein paar Schatten von Menschen durch die Unterführung und lösten sich irgendwo im Dunkel auf.” Kurt Münzer; Menschen am Schlesischen Bahnhof 1930

Ich steige in meinen Zug, und beuge mich aus dem Fenster raus. “Liebst du B?”, fragt mein Reiseführer B mich. “Ich liebe B”, sage ich. “Dann steige wieder aus und bleibe.”

Zusammen sehen wir den Schlusslichtern des Zuges nach.
 
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Lokterus

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Hallo Friedrichshainerin,

deiner ursprünglichen Intention betreffend hast du meiner Meinung nach alles notwendige getan. Die alten toten Meister, haben durch dich, kurz zu dem Leben zurückgefunden.

So endet es also. Ich habe durch dich viele Autoren kennen lernen dürfen, welche die Fähigkeit besaßen, einer schmutzigen, seelenlosen, menschenschluckenden Metropole, eine Seele einzuflößen. Sie greifbar, nahbar und gar sympathisch zu machen. Wenn einem etwas weniger fremd ist, versöhnt man sich vielleicht damit. Bei meinem nächsten Besuch in B, werde ich einige der beschriebenen Orte aufsuchen, um zu sehen, wie sich diese verändert haben. Oder vielmehr und wahrscheinlicher: wie sich diese überhaupt nicht verändert haben.

Liebe Grüße
loki
 



 
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