Aristoteles
Ich schaute ihn mir genauer an:
Sein Kopf über dem unrasierten Gesicht war kahl, nur hinten fielen einige fettige Strähnen grau gesprenkelten Haars bis fast auf den Kragen seines speckig glänzenden schwarzen Sakkos, das überhaupt nicht zu der hellen, fadenscheinigen Tweedhose passte. Seine Manschetten waren ausgefranst und am Rande so schwarz wie seine Fingernägel. Sein Alter konnte ich nur schwer einschätzen, etwa 50 bis 60 Jahre vermutete ich und gewaschen in anständiger Kleidung würde er fast genau so aussehen wie ich.
Da saß er auf dem Boden vor einem Kaufhaus am Eingang, neben ihm ein kleiner Hund, eine Promenadenmischung, schwarz – weiß, kurzer Schwanz, ein Ohr hing, das andere stand.
Vor ihm ein Einkaufswagen aus einem Supermarkt, beladen mit Tüten, Kleidungsstücken und einem Schlafsack. Alles abgedeckt mit einer durchsichtigen Plastikplane. Er hatte ein Buch in der Hand, „Aristoteles“ konnte ich auf dem Einband lesen.
Die Leute liefen vorbei, ab und zu warf jemand eine Münze in die Blechdose, die vor ihm stand.
Ich blieb längere Zeit vor ihm stehen, warf dann ein Geldstück in die Blechbüchse und fragte ihn, ob er mitkommen wolle. Ich sei gerade allein, hätte ein Haus, wir könnten da zusammen etwas essen.
Zunächst zögerte er, schien überrascht. Ob er den Hund mitnehmen könne, fragte er. Wir gingen ins Parkhaus, wo mein Auto stand, und luden alles ein. Der Hund legte sich auf dem Rücksitz.
Ich fuhr in die Garage, wollte dann gleich mit ihm ins Haus gehen, aber er meinte, er müsse erst alles, was er habe, ausladen. Seine Sachen ließe er nie aus den Augen. Den Wagen stellte er im Hausflur ab, der Hund legte sich daneben.
Ob er sich frisch machen könne, fragte er. Ich zeigte ihm das Bad. Mir fiel ein, dass irgendwo noch ein Karton mit Kleidung herumstehen müsste. Meine Frau wollte ihn beim Roten Kreuz abgeben, hatte aber dann wohl keine Zeit mehr gehabt.
Ich fand ihn in der Garage, stellte ihn vor das Bad und rief: „Vor der Tür steht ein Karton mit alten Kleidungsstücken, vielleicht können Sie etwas davon gebrauchen“. Keine Antwort.
Wir saßen dann zusammen am Küchentisch und aßen, Kartoffeln und Gemüse, dazu hatte ich Steaks gebraten. Eine Flasche mit spanischem Rotwein hatte ich aufgemacht. Er wollte keinen Wein, er trinke keinen Alkohol mehr, schon seit längerer Zeit. Leitungswasser wollte er, er sei daran gewöhnt, sagte er.
Der Mann hatte Hunger, griff kräftig zu, schaute mich öfter an und schüttelte öfter den Kopf. Völlig verändert sah er aus, hatte sich gewaschen und rasiert, meine abgelegten Kleidungsstücke passten ihm.
„Warum haben Sie mich mitgenommen?“, fragte er nach einer Weile.
Ja, warum hatte ich ihn zu mir nach Hause eingeladen? Meine Frau war gerade mit einem Mann abgehauen, ich fühlte mich alleine. Mir war da eine besondere Idee gekommen. Ich sagte aber:
„Sie hatten ein Buch in der Hand, „ Aristoteles“, habe ich auf dem Einband gelesen.“
„Ja, das ist schon interessant, es geht da um einen Gottesbeweis. Haben Sie etwas von Aristoteles gelesen?“
Ich sah ihn ziemlich verblüfft an.„Nur sehr wenig, ich habe kaum Ahnung von Philosophie. Sie hätte mich schon interessiert, aber ich hatte nie Zeit, mich damit zu beschäftigen.“
Wir hatten uns noch nicht vorgestellt.
„Heiner Müller“, sagte ich, „ich arbeite bei einer großen Bank.“ Ich sagte ihm nicht, dass ich heute meinen Arbeitsplatz verloren hatte.
„Namen spielen für mich keine Rolle mehr. Nennen sie mich, wie Sie wollen, Franz, Uwe, Gerd oder -“
„Dann werde ich Sie Aristoteles nennen“, sagte ich lachend.
Er nickte etwas erstaunt.
„Sie wollen sicher etwas mehr von mir wissen, warum ich Penner bin, wie es dazu gekommen ist. Daraufhin werden Leute wie ich im Allgemeinen angequatscht, das wollen „anständige“ Leute immer wissen. Da werden dann die tollsten Märchen erzählt.“
„Mir brauchen sie nichts zu erzählen, wenn sie nicht wollen, schon gar keine Märchen.“
„Na ja, wenn man ein anständiges Essen vorgesetzt bekommt, wenn man sich wieder einmal waschen kann, anständige Kleidung erhält, dann ist man irgendwie verpflichtet. Im Leben gibt es nichts umsonst.“
Wir gingen zusammen ins Wohnzimmer, der Hund legte sich in eine Ecke, nachdem er die Reste des Essens aufgefressen hatte. Ich holte eine weitere Flasche Wein und einen Krug mit Leitungswasser für Aristoteles, stellte alles auf den Couchtisch.
Aristoteles saß mir in einem Sessel gegenüber.
„Obdachlose tragen an ihrem Schicksal selten die alleinige Verantwortung. Es ist oft ein Resultat tragischer Verkettungen: In schwierigen Familienverhältnissen aufgewachsen, psychische Erkrankungen wie Depressionen, Alkoholismus und Drogenkonsum. In Deutschland gibt es etwa 600 000 Wohnungslose.
Seit 15 Jahren bin ich schon unterwegs und immer noch nicht angekommen“, sagte er. „Das fing an, als meine Frau weglief. Ich will ihnen Einzelheiten ersparen, mich kurz fassen.“
Er machte eine Pause, setzte sich bequemer in den Sessel, trank einen Schluck Wasser und lehnte sich zurück. Dann sprach er weiter, ohne mich direkt anzusehen.
„Nach kurzer Zeit zitterten mir morgens schon die Hände, ich musste ein Glas Wein zu mir nehmen, später auch Schnaps, verlor dann meine Arbeit und meine Wohnung, war dann plötzlich auf der Straße."
Er hielt sein Glas mit beiden Händen fest umklammert und drehte es hin und her. Ich dachte, mir könnte es bald so ähnlich ergehen.
„Mit viel Alkohol kam ich durch den ersten Winter, lernte Sachen zu organisieren, lernte, wo einem geholfen wurde, lernte auf der Straße zu überleben."
Jetzt schaute er mich direkt an.
„Sie können sich das sicher nicht vorstellen, man lebt da draußen ständig in Gefahr,
überfallen und beraubt zu werden, Jugendliche, die selbst in Gefahr sind, einmal obdachlos zu werden, haben ihr Feindbild: der Penner. Aber das interessiert Sie wahrscheinlich gar nicht."
„Doch, doch, erzählen Sie bitte weiter."
„Man kommt schnell völlig nach unten, hat kaum ein Chance da wieder wegzukommen. Man hört dann noch immer wieder, man sei ja selber schuld an allem, habe es letzthin nicht besser verdient. Schließlich glaubt man es selber."
Aristoteles stand auf, ging zum Fenster und schaute auf die Straße. Dann drehte er sich wieder um.
„Man wird abhängig von staatlichen und kirchlichen Hilfsangeboten, man gewöhnt sich daran, man sieht keine andere Perspektive, man hat auch keine andere. Und vielleicht will man nach einiger Zeit auch keine andere haben."
Den letzten Satz hatte er ziemlich leise gesprochen.
„Ich brauche inzwischen nicht mehr, als ich da in dem Einkaufswagen habe. Ich brauche nichts mehr, auch keine soziale Anerkennung. Ich fühle mich freier als vorher. Ich will meine Ruhe haben. Ich glaube, das Leben ist wollen, möchten, sollen. Müssen ist etwas ganz anderes.“
Die Lage von Aristoteles war sicher nicht beneidenswert, aber wenn ich meine Situation überdachte, ging es mir nicht besser. Die Raten fürs Haus würde ich nicht mehr bezahlen können.
Er stand auf und ließ den Hund raus, im Garten konnte er frei herumlaufen.
„Ich bin ziemlich viel herumgekommen. Ich mache meine Runde, einige Leute kennen mich, da bekomme ich etwas zu essen, kann manchmal auch bei ihnen schlafen, mich und meine Wäsche waschen. Dafür arbeite ich dann ein bisschen, helfe den Leuten im Garten. Früher habe ich noch Arbeit gesucht, jetzt nicht mehr."
„Reicht denn das Geld, was sie von Leuten bekommen, für notwendiges Essen?"
„Meistens schon, aber es gibt hier „Suppenküchen“, da kann auch etwas zu essen bekommen.“
„Und wo schlafen Sie?“
„Es gibt einen alten Friedhof in Prenzlau, da wird schon lange keiner mehr beerdigt. Aber den will man jetzt zu einem Parkplatz umfunktionieren.“
„Ja, den kenne ich. Was machen Sie im Winter?“
„Ich habe einen warmen Schlafsack. Kleidung erhalte ich vom Roten Kreuz und von der Caritas.“
„Ich las, dass der Staat eine billige Wohnung bezahlt...“
„Ja, aber das ist eher theoretisch, für den genehmigten Preis bekomme ich hier keine Wohnung und ohne Wohnsitz auch keine Arbeit oder eine finanzielle Unterstützung.
In einem Heim könnte ich unterkommen, aber das will ich nicht. Viele Obdachlose vermeiden die Not- und Übernachtungsunterkünfte, wollen sich nicht von der Bürokratie gängeln oder von den eigenen Kumpanen bestehlen lassen. Das Problem der Obdachlosigkeit ist schwer zu lösen.
Henry VIII hat es gelöst!“
„Wie denn?“
„Er hat viele Tausende Obdachlose aufhängen lassen!“
Aristoteles hustete, hatte sich beim Trinken verschluckt. Ich nahm einen kräftigen Schluck Wein zu mir.
„Ich bin meistens alleine. Auf der Straße gibt es keine Freundschaft, es geht ums Überleben."
Der Hund stand auf und kam zu ihm. Er streichelte ihn solange, bis er sich neben ihm auf den Boden legte.
„Manchmal wird es gefährlich, ein Bekannter ist einmal mit Springerstiefeln zusammengetreten worden, musste ins Krankenhaus. Bisher bin ich klar gekommen.“
„Wie ist das, wenn Sie mal krank werden?“
„Neulich hatte ich starke Zahnschmerzen. Vom Sozialamt erhielt ich ein Schreiben für eine provisorische Behandlung in einem Krankenhaus. Als ich dahin kam, wurde mir gesagt, provisorische Behandlungen seien hier nicht üblich. Es sei ja wohl auch nicht so dringend.“
„Ja und dann?“
Aristoteles goss sein Glas wieder voll, trank und stellte es auf den Tisch.
„In der Nacht bekam ich fürchterliche Schmerzen. Wenn ich gewusst hätte, welcher Zahn entzündet war, hätte ich ihn mir selber rausgerissen. Mit einem völlig geschwollenen Gesicht lief ich dann wieder ins Krankenhaus. Dann wurde ich behandelt!"
Aristoteles strich sich mit der Hand über die Augen.
„Ich habe viel Zeit, über mich selbst nachzudenken, über die Frage, warum und wozu. Eine Antwort habe ich noch nicht gefunden, vielleicht gibt es sie nicht, ich weiß nur, dass es kein Anrecht auf Wohlstand und Glück gibt.“
Er hatte immer langsamer gesprochen und vor sich hin geschaut.
Ich biete ihm das Gästezimmer für die Nacht an, sage ihm, dass er Morgen seine Wäsche in der Waschmaschine waschen kann. Er könne ruhig ein paar Tage bleiben.
Abends komme ich völlig erledigt nach Hause. Ich habe noch einmal bei der Bank vorgesprochen, aber meine Entlassung ist endgültig. Jeder dritte Angestellte wurde entlassen. Viele Jahre habe ich den Stress mitgemacht und jetzt bin ich arbeitslos.
Ich habe noch schnell eingekauft, auch Hundefutter. Der Tisch ist gedeckt, Aristoteles hat gekocht, die Wohnung ist sauber. Ich staune immer mehr über ihn, spricht wie ein Akademiker und kann auch noch gut kochen.
Wir setzen uns wieder ins Wohnzimmer. Er steht am Bücherregal und schaut sich philosophische Werke an, nimmt Heidegger heraus und liest.
Ob ich das schon gelesen hätte, fragt er mich nach einiger Zeit. Ich sage, ich hätte da einiges stehen, hätte versucht es zu lesen, aber Heidegger könnte ich nicht verstehen, da fehle mir die Bildung.
Der schreibe schon kompliziert, meint er, wenn ich wolle, könne er mir etwas helfen, ihn zu verstehen.
Ich bin überrascht.
Ja, er habe sich längere Zeit mit Heidegger beschäftigt, sagt er, zögert ein wenig und fügt dann hinzu: „Über den habe ich mal etwas geschrieben, das ist allerdings schon lange her.“
Ich hole ihm einen frischen Krug Wasser, habe die Tabletten darin aufgelöst. Auch in den Trinknapf des Hundes habe ich etliche gegeben.. Aristoteles sagt bald, dass er ziemlich müde sei, sein Hund schläft auch schon fast. Sie gehen zusammen ins Gästezimmer. Ich höre Aristoteles schnarchen.
Ich ziehe seine alte Kleidung an, seinen Wagen mit den wenigen Habseligkeiten schiebe ich in den Vorgarten. Die Umhängetasche mit seinen Papieren hänge ich mir um. Dann gehe ich noch einmal ins Haus und öffne den Gashahn.
Als ich auf die Straße komme, schaue ich noch ein letztes Mal mein Haus an, nichts wird davon übrig bleiben. Ich begegne niemandem. Es ist schon spät.
In der Nähe des Friedhofes, höre ich das Martinshorn.
Ich schaute ihn mir genauer an:
Sein Kopf über dem unrasierten Gesicht war kahl, nur hinten fielen einige fettige Strähnen grau gesprenkelten Haars bis fast auf den Kragen seines speckig glänzenden schwarzen Sakkos, das überhaupt nicht zu der hellen, fadenscheinigen Tweedhose passte. Seine Manschetten waren ausgefranst und am Rande so schwarz wie seine Fingernägel. Sein Alter konnte ich nur schwer einschätzen, etwa 50 bis 60 Jahre vermutete ich und gewaschen in anständiger Kleidung würde er fast genau so aussehen wie ich.
Da saß er auf dem Boden vor einem Kaufhaus am Eingang, neben ihm ein kleiner Hund, eine Promenadenmischung, schwarz – weiß, kurzer Schwanz, ein Ohr hing, das andere stand.
Vor ihm ein Einkaufswagen aus einem Supermarkt, beladen mit Tüten, Kleidungsstücken und einem Schlafsack. Alles abgedeckt mit einer durchsichtigen Plastikplane. Er hatte ein Buch in der Hand, „Aristoteles“ konnte ich auf dem Einband lesen.
Die Leute liefen vorbei, ab und zu warf jemand eine Münze in die Blechdose, die vor ihm stand.
Ich blieb längere Zeit vor ihm stehen, warf dann ein Geldstück in die Blechbüchse und fragte ihn, ob er mitkommen wolle. Ich sei gerade allein, hätte ein Haus, wir könnten da zusammen etwas essen.
Zunächst zögerte er, schien überrascht. Ob er den Hund mitnehmen könne, fragte er. Wir gingen ins Parkhaus, wo mein Auto stand, und luden alles ein. Der Hund legte sich auf dem Rücksitz.
Ich fuhr in die Garage, wollte dann gleich mit ihm ins Haus gehen, aber er meinte, er müsse erst alles, was er habe, ausladen. Seine Sachen ließe er nie aus den Augen. Den Wagen stellte er im Hausflur ab, der Hund legte sich daneben.
Ob er sich frisch machen könne, fragte er. Ich zeigte ihm das Bad. Mir fiel ein, dass irgendwo noch ein Karton mit Kleidung herumstehen müsste. Meine Frau wollte ihn beim Roten Kreuz abgeben, hatte aber dann wohl keine Zeit mehr gehabt.
Ich fand ihn in der Garage, stellte ihn vor das Bad und rief: „Vor der Tür steht ein Karton mit alten Kleidungsstücken, vielleicht können Sie etwas davon gebrauchen“. Keine Antwort.
Wir saßen dann zusammen am Küchentisch und aßen, Kartoffeln und Gemüse, dazu hatte ich Steaks gebraten. Eine Flasche mit spanischem Rotwein hatte ich aufgemacht. Er wollte keinen Wein, er trinke keinen Alkohol mehr, schon seit längerer Zeit. Leitungswasser wollte er, er sei daran gewöhnt, sagte er.
Der Mann hatte Hunger, griff kräftig zu, schaute mich öfter an und schüttelte öfter den Kopf. Völlig verändert sah er aus, hatte sich gewaschen und rasiert, meine abgelegten Kleidungsstücke passten ihm.
„Warum haben Sie mich mitgenommen?“, fragte er nach einer Weile.
Ja, warum hatte ich ihn zu mir nach Hause eingeladen? Meine Frau war gerade mit einem Mann abgehauen, ich fühlte mich alleine. Mir war da eine besondere Idee gekommen. Ich sagte aber:
„Sie hatten ein Buch in der Hand, „ Aristoteles“, habe ich auf dem Einband gelesen.“
„Ja, das ist schon interessant, es geht da um einen Gottesbeweis. Haben Sie etwas von Aristoteles gelesen?“
Ich sah ihn ziemlich verblüfft an.„Nur sehr wenig, ich habe kaum Ahnung von Philosophie. Sie hätte mich schon interessiert, aber ich hatte nie Zeit, mich damit zu beschäftigen.“
Wir hatten uns noch nicht vorgestellt.
„Heiner Müller“, sagte ich, „ich arbeite bei einer großen Bank.“ Ich sagte ihm nicht, dass ich heute meinen Arbeitsplatz verloren hatte.
„Namen spielen für mich keine Rolle mehr. Nennen sie mich, wie Sie wollen, Franz, Uwe, Gerd oder -“
„Dann werde ich Sie Aristoteles nennen“, sagte ich lachend.
Er nickte etwas erstaunt.
„Sie wollen sicher etwas mehr von mir wissen, warum ich Penner bin, wie es dazu gekommen ist. Daraufhin werden Leute wie ich im Allgemeinen angequatscht, das wollen „anständige“ Leute immer wissen. Da werden dann die tollsten Märchen erzählt.“
„Mir brauchen sie nichts zu erzählen, wenn sie nicht wollen, schon gar keine Märchen.“
„Na ja, wenn man ein anständiges Essen vorgesetzt bekommt, wenn man sich wieder einmal waschen kann, anständige Kleidung erhält, dann ist man irgendwie verpflichtet. Im Leben gibt es nichts umsonst.“
Wir gingen zusammen ins Wohnzimmer, der Hund legte sich in eine Ecke, nachdem er die Reste des Essens aufgefressen hatte. Ich holte eine weitere Flasche Wein und einen Krug mit Leitungswasser für Aristoteles, stellte alles auf den Couchtisch.
Aristoteles saß mir in einem Sessel gegenüber.
„Obdachlose tragen an ihrem Schicksal selten die alleinige Verantwortung. Es ist oft ein Resultat tragischer Verkettungen: In schwierigen Familienverhältnissen aufgewachsen, psychische Erkrankungen wie Depressionen, Alkoholismus und Drogenkonsum. In Deutschland gibt es etwa 600 000 Wohnungslose.
Seit 15 Jahren bin ich schon unterwegs und immer noch nicht angekommen“, sagte er. „Das fing an, als meine Frau weglief. Ich will ihnen Einzelheiten ersparen, mich kurz fassen.“
Er machte eine Pause, setzte sich bequemer in den Sessel, trank einen Schluck Wasser und lehnte sich zurück. Dann sprach er weiter, ohne mich direkt anzusehen.
„Nach kurzer Zeit zitterten mir morgens schon die Hände, ich musste ein Glas Wein zu mir nehmen, später auch Schnaps, verlor dann meine Arbeit und meine Wohnung, war dann plötzlich auf der Straße."
Er hielt sein Glas mit beiden Händen fest umklammert und drehte es hin und her. Ich dachte, mir könnte es bald so ähnlich ergehen.
„Mit viel Alkohol kam ich durch den ersten Winter, lernte Sachen zu organisieren, lernte, wo einem geholfen wurde, lernte auf der Straße zu überleben."
Jetzt schaute er mich direkt an.
„Sie können sich das sicher nicht vorstellen, man lebt da draußen ständig in Gefahr,
überfallen und beraubt zu werden, Jugendliche, die selbst in Gefahr sind, einmal obdachlos zu werden, haben ihr Feindbild: der Penner. Aber das interessiert Sie wahrscheinlich gar nicht."
„Doch, doch, erzählen Sie bitte weiter."
„Man kommt schnell völlig nach unten, hat kaum ein Chance da wieder wegzukommen. Man hört dann noch immer wieder, man sei ja selber schuld an allem, habe es letzthin nicht besser verdient. Schließlich glaubt man es selber."
Aristoteles stand auf, ging zum Fenster und schaute auf die Straße. Dann drehte er sich wieder um.
„Man wird abhängig von staatlichen und kirchlichen Hilfsangeboten, man gewöhnt sich daran, man sieht keine andere Perspektive, man hat auch keine andere. Und vielleicht will man nach einiger Zeit auch keine andere haben."
Den letzten Satz hatte er ziemlich leise gesprochen.
„Ich brauche inzwischen nicht mehr, als ich da in dem Einkaufswagen habe. Ich brauche nichts mehr, auch keine soziale Anerkennung. Ich fühle mich freier als vorher. Ich will meine Ruhe haben. Ich glaube, das Leben ist wollen, möchten, sollen. Müssen ist etwas ganz anderes.“
Die Lage von Aristoteles war sicher nicht beneidenswert, aber wenn ich meine Situation überdachte, ging es mir nicht besser. Die Raten fürs Haus würde ich nicht mehr bezahlen können.
Er stand auf und ließ den Hund raus, im Garten konnte er frei herumlaufen.
„Ich bin ziemlich viel herumgekommen. Ich mache meine Runde, einige Leute kennen mich, da bekomme ich etwas zu essen, kann manchmal auch bei ihnen schlafen, mich und meine Wäsche waschen. Dafür arbeite ich dann ein bisschen, helfe den Leuten im Garten. Früher habe ich noch Arbeit gesucht, jetzt nicht mehr."
„Reicht denn das Geld, was sie von Leuten bekommen, für notwendiges Essen?"
„Meistens schon, aber es gibt hier „Suppenküchen“, da kann auch etwas zu essen bekommen.“
„Und wo schlafen Sie?“
„Es gibt einen alten Friedhof in Prenzlau, da wird schon lange keiner mehr beerdigt. Aber den will man jetzt zu einem Parkplatz umfunktionieren.“
„Ja, den kenne ich. Was machen Sie im Winter?“
„Ich habe einen warmen Schlafsack. Kleidung erhalte ich vom Roten Kreuz und von der Caritas.“
„Ich las, dass der Staat eine billige Wohnung bezahlt...“
„Ja, aber das ist eher theoretisch, für den genehmigten Preis bekomme ich hier keine Wohnung und ohne Wohnsitz auch keine Arbeit oder eine finanzielle Unterstützung.
In einem Heim könnte ich unterkommen, aber das will ich nicht. Viele Obdachlose vermeiden die Not- und Übernachtungsunterkünfte, wollen sich nicht von der Bürokratie gängeln oder von den eigenen Kumpanen bestehlen lassen. Das Problem der Obdachlosigkeit ist schwer zu lösen.
Henry VIII hat es gelöst!“
„Wie denn?“
„Er hat viele Tausende Obdachlose aufhängen lassen!“
Aristoteles hustete, hatte sich beim Trinken verschluckt. Ich nahm einen kräftigen Schluck Wein zu mir.
„Ich bin meistens alleine. Auf der Straße gibt es keine Freundschaft, es geht ums Überleben."
Der Hund stand auf und kam zu ihm. Er streichelte ihn solange, bis er sich neben ihm auf den Boden legte.
„Manchmal wird es gefährlich, ein Bekannter ist einmal mit Springerstiefeln zusammengetreten worden, musste ins Krankenhaus. Bisher bin ich klar gekommen.“
„Wie ist das, wenn Sie mal krank werden?“
„Neulich hatte ich starke Zahnschmerzen. Vom Sozialamt erhielt ich ein Schreiben für eine provisorische Behandlung in einem Krankenhaus. Als ich dahin kam, wurde mir gesagt, provisorische Behandlungen seien hier nicht üblich. Es sei ja wohl auch nicht so dringend.“
„Ja und dann?“
Aristoteles goss sein Glas wieder voll, trank und stellte es auf den Tisch.
„In der Nacht bekam ich fürchterliche Schmerzen. Wenn ich gewusst hätte, welcher Zahn entzündet war, hätte ich ihn mir selber rausgerissen. Mit einem völlig geschwollenen Gesicht lief ich dann wieder ins Krankenhaus. Dann wurde ich behandelt!"
Aristoteles strich sich mit der Hand über die Augen.
„Ich habe viel Zeit, über mich selbst nachzudenken, über die Frage, warum und wozu. Eine Antwort habe ich noch nicht gefunden, vielleicht gibt es sie nicht, ich weiß nur, dass es kein Anrecht auf Wohlstand und Glück gibt.“
Er hatte immer langsamer gesprochen und vor sich hin geschaut.
Ich biete ihm das Gästezimmer für die Nacht an, sage ihm, dass er Morgen seine Wäsche in der Waschmaschine waschen kann. Er könne ruhig ein paar Tage bleiben.
Abends komme ich völlig erledigt nach Hause. Ich habe noch einmal bei der Bank vorgesprochen, aber meine Entlassung ist endgültig. Jeder dritte Angestellte wurde entlassen. Viele Jahre habe ich den Stress mitgemacht und jetzt bin ich arbeitslos.
Ich habe noch schnell eingekauft, auch Hundefutter. Der Tisch ist gedeckt, Aristoteles hat gekocht, die Wohnung ist sauber. Ich staune immer mehr über ihn, spricht wie ein Akademiker und kann auch noch gut kochen.
Wir setzen uns wieder ins Wohnzimmer. Er steht am Bücherregal und schaut sich philosophische Werke an, nimmt Heidegger heraus und liest.
Ob ich das schon gelesen hätte, fragt er mich nach einiger Zeit. Ich sage, ich hätte da einiges stehen, hätte versucht es zu lesen, aber Heidegger könnte ich nicht verstehen, da fehle mir die Bildung.
Der schreibe schon kompliziert, meint er, wenn ich wolle, könne er mir etwas helfen, ihn zu verstehen.
Ich bin überrascht.
Ja, er habe sich längere Zeit mit Heidegger beschäftigt, sagt er, zögert ein wenig und fügt dann hinzu: „Über den habe ich mal etwas geschrieben, das ist allerdings schon lange her.“
Ich hole ihm einen frischen Krug Wasser, habe die Tabletten darin aufgelöst. Auch in den Trinknapf des Hundes habe ich etliche gegeben.. Aristoteles sagt bald, dass er ziemlich müde sei, sein Hund schläft auch schon fast. Sie gehen zusammen ins Gästezimmer. Ich höre Aristoteles schnarchen.
Ich ziehe seine alte Kleidung an, seinen Wagen mit den wenigen Habseligkeiten schiebe ich in den Vorgarten. Die Umhängetasche mit seinen Papieren hänge ich mir um. Dann gehe ich noch einmal ins Haus und öffne den Gashahn.
Als ich auf die Straße komme, schaue ich noch ein letztes Mal mein Haus an, nichts wird davon übrig bleiben. Ich begegne niemandem. Es ist schon spät.
In der Nähe des Friedhofes, höre ich das Martinshorn.