Auch ein Dichterproblem

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Auch ein Dichterproblem

Robert war gar nicht wohl zumute, als er sein neues Werk noch einmal kritisch unter Lupe nahm. Er hatte sich angewöhnt, zumindest bei der "abschließenden Lesung" seine Texte laut vor sich hin zu sprechen, weil er so am besten die Wirkung auf Dritte abschätzen konnte.

Er las:

Eingeholt von der Vergangenheit

MEIER KANN NICHT EINSCHLAFEN. ER WALZT SICH VON EINER SEITE AUF DIE ANDERE, BIS MORPHEUS SCHLIESSLICH ERBARMEN MIT IHM HAT. ABER ES IST NICHT WEIT HER MIT DEM ERBARMEN. DIE TRÄUME, DIE ER MEIER SCHICKT, SIND AUSGESPROCHEN WIDERWÄRTIG:

Guten Tag!
Hier ist die jüngste Leiche aus Ihrem Keller. Sie erinnern sich nicht an mich? Na überlegen Sie mal. Vorige Woche sind Sie einfach davongefahren, als Sie die Kurve nicht gekriegt und einen parkenden Wagen beschädigt haben. Eine unschöne Geschichte. Doch hinter mir steht eine bereits ältere Leiche, die sich anlässlich Ihres morgigen 70. Geburtstages in Erinnerung bringen möchte.

Guten Tag!
Ich bin das teuere naturwissenschaftliche Handbuch, das Sie kraft Ihres Amtes als Bibliothekar unbemerkt - dank schlampiger Inventarisierung Ihrer Sekretärin - an Hehler haben verschachern können. Ich bin übrigens nicht die einzige Kostbarkeit, die Sie um die Ecke gebracht haben. Aber hier ist noch jemand, der Sie nicht vergessen kann:

Guten Tag!
Ich bin der Hundertmarkschein, den Sie vor Jahren von einem ehemaligen Kollegen geliehen und nicht zurückgegeben haben. Sie haben auf die Vergesslichkeit des Kollegen spekuliert - mit Erfolg, kaum zu glauben. Weiter so! Und nun möchte ich Sie mit einem anderen Meilenstein aus Ihrer interessanten Vergangenheit konfrontieren:

Guten Tag!
Hier ist der Schwerverletzte, den Sie am Straßenrand liegen sahen. Ganz langsam sind Sie an mich herangefahren. Sie haben die Situation genau erkannt - und haben sich aus dem Staub gemacht.

SCHWEISSGEBADET WACHT MEIER AUF, SEIN PULS RAST. ER SIEHT AUF DIE UHR. ES IST KURZ VOR MITTERNACHT. ES DAUERT LANGE, BIS ER SICH WIEDER BERUHIGEN KANN. VOR LAUTER ERSCHÖPFUNG SCHLÄFT ER DANN DOCH EIN. ABER DIE QUÄLGEISTER HABEN IHN VOLL IM GRIFF, DENN SCHON WIEDER STEHT EIN PEINIGER AUF DER MATTE:

Guten Tag!
und Glückwunsch zum Geburtstag - einen herzlichen haben Sie ja ohnehin nicht erwartet. Dennoch möchte ich mein Erstaunen darüber ausdrücken, wie Sie es geschafft haben, sich überhaupt bis hierher durchzumogeln.
Ich weiß, ich bin Ihnen besonders unangenehm, erinnere ich Sie doch an die Flittchen, mit denen sie es jahrelang auf Ihren Dienstreisen getrieben haben. Deswegen macht es Ihnen heute noch Mühe, Ihrer Frau gerade in die Augen zu schauen. Sie Ärmster! Richtig schlecht sehen Sie aus! Für Ihr Asthma sind derartige Erinnerungen natürlich Gift. Aber ich und meine Vorredner können Ihnen diese nicht ersparen. Bei uns sind Sie nun mal zu "lebenslänglich" verurteilt. Durch öffentliche Bekenntnisse könnten Sie sich zwar von uns befreien, aber tun Sie das ja nicht! Bei Ihrer schwächlichen Konstitution wäre das gleichbedeutend mit einem Todesurteil.

Also halten Sie um Himmels willen die Klappe.

MEIERS LEBEN GING WEITER - DOCH NICHT MEHR LANGE. WIEDER EINMAL MIT SEINER UNRÜHMLICHEN VERGANGENHEIT BESCHÄFTIGT, WURDE ER OPFER EINER HIERDURCH BEDINGTEN UNAUFMERKSAMKEIT. ER GERIET UNTER EINE STRASSENBAHN.


Robert fühlte sich fast erschlagen - von seinen eigenen Worten. Eine wirklich unschöne Geschichte. Aber sie war ihm buchstäblich aus der Feder geflossen; es ließ sich leicht erklären: Er hatte eine gefährlich enge Beziehung dazu, und ein Leser wittert das. Sollte er auf die Publikation lieber verzichten?
Seine Taten und Unterlassungen waren durchaus mit Meiers Sündenregister zu vergleichen. Er verdankte es zum Teil nur glücklichen Umständen, dass er nicht direkt schuldig wurde. Er wollte lieber nicht weiter darüber nachdenken.
Die Geschichte wurde gedruckt. Doch nun fühlte sich Robert wie ausgezogen - fast nackt.
 

Juhser

Mitglied
Hier wird genörgelt?

Eine gelungene Anschauung der Stimmung, die übernächtigte Unzufriedene häufig erleben müssen.
Einen Spritzer Nettes oder Witz hätte ich bei (zumindest) einer der Figuren gern entdeckt...
 
Hallo Juhser!

Mir ging es um die Darlegung der Gefahren, denen sich ein Dichter aussetzt, wenn er zu nah an seiner eigenen Biographie schreibt.
Zum vermissten Spritzer Witz:
Ich finde, die ganze Geschichte hat einen leicht satirischen Touch.
LG Eberhard
 
Auch ein Dichterproblem

Robert war gar nicht wohl zumute, als er sein neues Werk noch einmal kritisch unter Lupe nahm. Er hatte sich angewöhnt, zumindest bei der "abschließenden Lesung" seine Texte laut vor sich hin zu sprechen, weil er so am besten die Wirkung auf Dritte abschätzen konnte.

Er las:

Eingeholt von der Vergangenheit

MEIER KANN NICHT EINSCHLAFEN. ER WÄLZT SICH VON EINER SEITE AUF DIE ANDERE, BIS MORPHEUS SCHLIESSLICH ERBARMEN MIT IHM HAT. ABER ES IST NICHT WEIT HER MIT DEM ERBARMEN. DIE TRÄUME, DIE ER MEIER SCHICKT, SIND AUSGESPROCHEN WIDERWÄRTIG:

Guten Tag!
Hier ist die jüngste Leiche aus Ihrem Keller. Sie erinnern sich nicht an mich? Na überlegen Sie mal. Vorige Woche sind Sie einfach davongefahren, als Sie die Kurve nicht gekriegt und einen parkenden Wagen beschädigt haben. Eine unschöne Geschichte. Doch hinter mir steht eine bereits ältere Leiche, die sich anlässlich Ihres morgigen 70. Geburtstages in Erinnerung bringen möchte.

Guten Tag!
Ich bin das teuere naturwissenschaftliche Handbuch, das Sie kraft Ihres Amtes als Bibliothekar unbemerkt - dank schlampiger Inventarisierung Ihrer Sekretärin - an Hehler haben verschachern können. Ich bin übrigens nicht die einzige Kostbarkeit, die Sie um die Ecke gebracht haben. Aber hier ist noch jemand, der Sie nicht vergessen kann:

Guten Tag!
Ich bin der Hundertmarkschein, den Sie vor Jahren von einem ehemaligen Kollegen geliehen und nicht zurückgegeben haben. Sie haben auf die Vergesslichkeit des Kollegen spekuliert - mit Erfolg, kaum zu glauben. Weiter so! Und nun möchte ich Sie mit einem anderen Meilenstein aus Ihrer interessanten Vergangenheit konfrontieren:

Guten Tag!
Hier ist der Schwerverletzte, den Sie am Straßenrand liegen sahen. Ganz langsam sind Sie an mich herangefahren. Sie haben die Situation genau erkannt - und haben sich aus dem Staub gemacht.

SCHWEISSGEBADET WACHT MEIER AUF, SEIN PULS RAST. ER SIEHT AUF DIE UHR. ES IST KURZ VOR MITTERNACHT. ES DAUERT LANGE, BIS ER SICH WIEDER BERUHIGEN KANN. VOR LAUTER ERSCHÖPFUNG SCHLÄFT ER DANN DOCH EIN. ABER DIE QUÄLGEISTER HABEN IHN VOLL IM GRIFF, DENN SCHON WIEDER STEHT EIN PEINIGER AUF DER MATTE:

Guten Tag!
und Glückwunsch zum Geburtstag - einen herzlichen haben Sie ja ohnehin nicht erwartet. Dennoch möchte ich mein Erstaunen darüber ausdrücken, wie Sie es geschafft haben, sich überhaupt bis hierher durchzumogeln.
Ich weiß, ich bin Ihnen besonders unangenehm, erinnere ich Sie doch an die Flittchen, mit denen sie es jahrelang auf Ihren Dienstreisen getrieben haben. Deswegen macht es Ihnen heute noch Mühe, Ihrer Frau gerade in die Augen zu schauen. Sie Ärmster! Richtig schlecht sehen Sie aus! Für Ihr Asthma sind derartige Erinnerungen natürlich Gift. Aber ich und meine Vorredner können Ihnen diese nicht ersparen. Bei uns sind Sie nun mal zu "lebenslänglich" verurteilt. Durch öffentliche Bekenntnisse könnten Sie sich zwar von uns befreien, aber tun Sie das ja nicht! Bei Ihrer schwächlichen Konstitution wäre das gleichbedeutend mit einem Todesurteil.

Also halten Sie um Himmels willen die Klappe.

MEIERS LEBEN GING WEITER - DOCH NICHT MEHR LANGE. WIEDER EINMAL MIT SEINER UNRÜHMLICHEN VERGANGENHEIT BESCHÄFTIGT, WURDE ER OPFER EINER HIERDURCH BEDINGTEN UNAUFMERKSAMKEIT. ER GERIET UNTER EINE STRASSENBAHN.


Robert fühlte sich fast erschlagen - von seinen eigenen Worten. Eine wirklich unschöne Geschichte. Aber sie war ihm buchstäblich aus der Feder geflossen; es ließ sich leicht erklären: Er hatte eine gefährlich enge Beziehung dazu, und ein Leser wittert das. Sollte er auf die Publikation lieber verzichten?
Seine Taten und Unterlassungen waren durchaus mit Meiers Sündenregister zu vergleichen. Er verdankte es zum Teil nur glücklichen Umständen, dass er nicht direkt schuldig wurde. Er wollte lieber nicht weiter darüber nachdenken.
Die Geschichte wurde gedruckt. Doch nun fühlte sich Robert wie ausgezogen - fast nackt.
 
Liebe Marie-Luise!

ich würde zu gern ganz ehrlich zu Dir sein, aber ich widerstehe der Versuchung. Immerhin hat mir mein ziemlich gebrochener Lebenslauf ein reiches Innenleben beschert, was meiner Schreiberei gut bekommt.
Den Schreibfehler habe ich beseitigt.
Lieben Gruß
von Eberhard
 



 
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