Auf dem Dach der Welt

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AUF DEM DACH DER WELT

Alte drei Wochen trafen sich ein paar ältere Herren zu gemeinsamem Musizieren. Lothar, der Jüngste, war der Pianist. Die anderen spielten Geige. Auf ihrem Programm standen vor allem Schlager- und Operettenmelodien aus der guten alten Zeit. Einem von ihnen ging es gesundheitlich schon längere Zeit nicht gut, und man dachte darüber nach, wie man rechtzeitig Nachwuchs an Land ziehen konnte. Eine Zeitungsanzeige löste das Problem.
Wenige Tage später erschien, ausgerüstet mit Geige und Notenständer, eine Dame.
"Ich bin die Antwort auf ihre Annonce." Aus ihren Augen blitzte der Schalk. Die Männer strahlten, Lothar am meisten. Da hatten sie wirklich ein ganz pfiffiges, freundliches und schlagfertiges Frauenzimmer geangelt. Dass sie bereits einem reiferen Jahrgang angehörte, war eher ein Pluspunkt.
Man war schnell auf Du und Du. ...Beate.

Schon beim zweiten Treffen ergab sich für Lothar die Gelegenheit, sie näher kennenzulernen. Er erhielt einen Anruf, bei dem sie ihm mitteilte, dass sie nicht wüsste, wie sie morgen ohne Auto ... Aha, wunderbar, dann könnte er sie ja abholen. Das ginge auch nicht ohne Weiteres, sie wohne praktisch 'auf dem Dach der Welt', das würde er nicht finden. Aber sie könnte ihm ja von dort ein Stück entgegenkommen.
Er las sie unten an der Hauptstraße auf, und während sie einstieg, ließ er kurz seinen Blick über das Dach der Welt, ein langgezogener Höhenrücken, schweifen. Irgendwo, ganz da oben, war ihr Domizil. Inzwischen hatte er natürlich im Telefonbuch nachgeschaut. Da stand nur: Taubenheim, Arthur von, Schlossberg (ohne Hausnummer). Nun ja, verheiratet war sie also, aber das tat seinen Gefühlen keinen Abbruch, und daß Beate im buchstäblichen Sinn von "Hoch"-Adel war, machte sie noch interessanter.
Der Übungsnachmittag verlief wie der vorhergehende sehr erfreulich, allerdings etwas einseitig, weil Beate noch nicht mit ausreichend Notenmaterial versehen war. Doch das konnte man ja kopieren und ihr per Post zuleiten. Per Post? Warum eigentlich?
Lothar verspürte auf einmal einen unheimlichen Drang, das Dach der Welt zu erforschen und die Noten persönlich zu überbringen. Und so machte er sich eines Nachmittags auf den Weg. An einem Kriegerdenkmal angekommen, gabelte sich der Weg, und wegen des schlechten Untergrundes ließ er das Auto stehen. Nachdem er etwa fünfhundert Meter gelaufen war und noch zwei einsame Häuser hinter sich gelassen hatte, war ihm klar, dass er auf der falschen Fährte war.
Fährte! Plötzlich kam er sich vor wie ein Spürhund, der einem Wild hinterher war. Er mochte es sich nicht eingestehen, aber es war ein regelrecht animalisches Verlangen, das ihn weitertrieb - nunmehr in die Gegenrichtung.
Melancholie überfiel ihn. War er nicht ständig vor dem Leben davongelaufen und darüber grau geworden? Hatte er sich nicht viel zu oft mit einer Zuschauerrolle zufrieden gegeben? Voyeur, auch jetzt?
Es war mehr. Er verdrängte die trüben Gedanken an die Vergangenheit.
Der zuletzt eingeschlagene Weg erwies sich abermals als Sackgasse.
Da war noch ein schmaler, grasbewachsener Pfad, der sich an der Höhe entlang schlängelte. Er spürte sein Herz höher schlagen, als er ein offenbar bewohntes Häuschen bemerkte. Aber es war eine so kleine Kate, dass er schnell merkte, dass er noch nicht am Ziel seiner Wünsche war. Er klingelte. Eine ältere Frau öffnete. Taubenheim? - ja, irgendwie kam ihr der Name bekannt vor.
"Gehen Sie diesen Weg zu Ende; dann stoßen Sie auf einen breiteren Waldweg", sagte sie. "Ganz oben, wenn es praktisch nicht mehr weitergeht, kommt noch ein Haus, da könnten diese Taubenheims wohnen".
Lothar erreichte ein breites, offenstehendes Eisentor. An den Berghang, gepresst, lag ein Dornröschenschloss, das er für quasi unbewohnbar hielt. Ein Schäferhund an langer Leine und ein vorn unwegsamem Gelände sichtlich strapaziertes Auto sprachen dafür, dass hier jemand wohnen musste, ebenso ein intakter Briefkasten (wenn auch ohne Namensschild). Lothar machte sich, ohne dem Hund zu nahe zu kommen, durch lautes Hallo-Rufen bemerkbar. Vergeblich. Auf gut Glück warf er sein Notenpaket in den Briefkasten. Ihm war gar nicht wohl dabei.
Auf dem Rückmarsch begegnete ihm sehr bald ein junges Mädchen, das er in der Hoffnung auf eine befreiende Antwort fragte, ob hier irgendwo eine Familie Taubenheim wohne. Er erhielt die gewünschte Bestätigung, aber warum hatte sie so eigenartig gegrinst? Das Dornröschenschloss barg sicher eine Menge Geheimnisse. Irgendwann würde er hinter diese Mauern schauen.

Und dann kam der Tag, an dem Lothar den Arthur vom Taubenheim kennenlernte. Der hatte seiner Beate schon lange in den Ohren gelegen, dass er auch sooo gern in die Vereinigung der Musizi aufgenommen werden wollte (obwohl ihm der Ruf vorausgegangen war, dass er keine Noten kenne).
Jedenfalls traute sich der Arthur nicht, einfach mal bei den Übungsnachmittagen mit seinem Schifferklavier zu erscheinen, und so wurde zunächst ein Versuchsballon gestartet, dergestalt, dass Lothar eine Einladung auf Arthurs Hochsitz erhielt.
Der Hausbesichtigung ging eine gemütliche „Einstimmung“ im Garten des schier unermesslich großen Areals voraus. Der Garten bestand aus einer grasbewachsenen Plattform von etwa zweihundert Quadratmetern, dafür aber eingebettet in Steilhangwildnis, die sie genauerer Quadratmeterangaben entzog. Ob der Großgrundbesitz nun dreißigtausend Quadratmeter umfasste oder nur die Hälfte, war eine Frage der Perspektive. Aus der Vogelperspektive betrachtet war es - bei dreißig Grad Gefälle – natürlich kleiner. O je, was hatten sich die Taubenheims da zugemutet, zumal Arthur offensichtlich ein ganzes Stück älter war als seine Frau. Sie hatte ihn einmal liebevoll §ihr Fossil genannt.
Beate brachte erfrischende Getränke, und der Herr Großgrundbesitzer unterhielt bühnenreifer einheimischer Mundart; eine Vorführung, die vor allem auf plastische Darstellung stadtbekannter Originale abzielte. Eine so erfrischende und glaubhafte Schilderung menschlicher Typen hatte Lothar noch nie erlebt. Gerade so etwas hätte er einem preußischen Junker nicht zugetraut. Aber dann erfuhr er, dass der Arthur gebürtiger Einheimischer war und den Hochsitz von seinem Vater geerbt hatte, dessen Wurzeln allerdings ‚in des Reiches Osten’ lagen.
Jedenfalls war Arthurs ‚Show’ beeindruckend – übrigens auch die Schau auf das unter ihnen liegende Panorama. Es war gut zu begreifen, dass Arthur sein Erbe trotz schwierigster geographischer Umstände bis auf den letzten Blutstropfen zu verteidigen gedachte. Beate hatte allerdings kürzlich Zweifel angemeldet, ob sie da oben bis zum bitteren Ende aushalten würde.
Nach dem Einleitungsprogramm begab man sich, vorbei Pferdestall und Schafgehege, endlich ins Innere des Schlosses. Lothar wäre nicht überrascht gewesen, wenn ihm eine aufgeschreckte Fledermaus entgegengeflogen wäre. Zumindest hatte er mit gespenstisch quietschenden Türen gerechnet. Aber dann stellte er fest, dass es die Bewohner (die Tochter wurde ihm vorenthalten) unter Aufbietung aller Kräfte fertiggebracht hatten, den alten Kasten relativ gut in Schwung zu halten. Wie ihm Arthur verriet, mit tatkräftiger Unterstützung eines Faktotums, einem Ungar, der die gröberen Reparaturarbeiten erledigte. Vermutlich war er ständig im Einsatz. Die Wasserversorgung wurde durch einen eigenen Brunnen gewährleistet, die Stromversorgung war gelegentlich durch umstürzende Bäume gefährdet, und die Anlieferung des Heizöls war bei den Wegeverhältnissen an beste Wetterlagen und vermutlich auch an reichlich Bakschisch gebunden. Arm konnten die Taubenheims nicht sein, obwohl sich Arthur seit seinem Ausscheiden bei einer namhaften Computerfirma nur noch als Landwirt bezeichnete und sich outfitmäßig wie ein solcher bewegte.
Arthur und Beate ließen ihren Gast einen Moment allein. Sie musste eben mal in der Küche nach dem Rechten sehen und er, der Herr des Hauses ...?
Für Lothar war die Berührung mit dieser für ihn völlig aus dem Rahmen fallenden Welt ein überwältigendes Erlebnis. Aus Beates gewollt-beiläufigen Randbemerkungen, die sie im Kreise der Musizi des Öfteren von sich gab, hatte er erfahren, dass sie Verwandtschaft in Virginia und sogar auf den Fidschi-Inseln besaßen. Die beiden bunten Vögel waren, obwohl sie die Erhaltung ihres Kastells sehr in Anspruch nahm, dauernd auf Achse. Oft auch getrennt, reisten sie in der Weltgeschichte umher.
Und da kamen sie beide wieder. Sie auf der einen Hand ein Tablett mit Getränken jonglierend, in der anderen Hand einen Geigenkasten. Er schleppte ein riesiges Schifferklavier herein.
Der Herr ohne Notenkenntnisse entpuppte sich als Improvisator der Meisterklasse. Kaum hatte Lothar dem Klavier ein paar Takte Country-Musik entlockt, fing Arthur an, sich nach Art eines Vollblut-Jazzers einzumischen ... ein richtiger Spitzbube! Lothar war echt von den Socken. Und schon mischte auch Beate mit. Es wurde eine Mordsgaudi. Sie konnten gar nicht wieder aufhören. Schließlich waren sie geschafft. Vor lauter Lachen ging es nicht mehr weiter.
Lothar stellte Beate wegen des ihm aufgebundenen Bären zur Rede.
Und doch war etwas Wahres dran. Arthur war es einfach nicht mehr gewöhnt, nach Noten zu spielen. Er war so musikalisch, dass er sie für den Hausgebrauch als überflüssig erachtete. Natürlich konnte er Noten lesen, nur war er ein wenig außer Übung. Aber sowas hat man schnell wieder "drin", und so war es beschlossene Sache, dass er künftig bei den Musizi mitwirken würde.
Und dann kam das kalte, aber dafür umso üppigere Büfett, gewürzt mit umwerfenden Anekdoten des Hausherrn.
Lothar empfand einen Moment lang heftigen Neid, aber dann ließ er sich voll und ganz von der einmaligen Atmosphäre packen. Es sprangen Funken über, und er wunderte sich, vie schlagfertig er auf ein paar launige Frotzeleien von Arthur reagieren konnte. Ihn übermannte ein grenzenloses Glücksgefühl. Leider wurde ihm ebenso schnell bewusst, dass es mehr oder weniger geliehener Frohsinn war. Immerhin hatte Arthur ihn auf einen Weg gebracht ...
Es war spät geworden. Lothar ließ noch einmal die ganze Urgemütlichkeit des großen und gepflegten Wohnzimmers auf sich wirken. Als man ihn hinausgeleitete, warf er einen Blick in ein paar malerische Rumpelkammern. Zu guter Letzt machte ihn Arthur mit dem Familienwappen bekannt, das ähnlich wie in einem Kirchenfenster über der Haustür prangte. Würdiger Abschluss für einen Besuch bei Hoch-Adels.
Beate lud den Gast in ihren Geländewagen, um ihn bei seinem in der Zivilisation geparkten Auto abzusetzen.


Von der Welt hatte Lothar wirklich nicht viel gesehen.
Was er heute erlebt hatte, war für ihn fast wie ein Traum. Andere, die lebensgierig alles mitnehmen, was sie kriegen können, hätten sein heutiges Abenteuer sicher auch ganz amüsant gefunden, aber sicher nicht mit der Intensität, wie sie wohl nur ein Ausgehungerter empfinden kann.
 
G

Gelöschtes Mitglied 14278

Gast
Hallo Eberhard,

eine sehr schöne, unverschnörkelt erzählte Geschichte. Gefällt mir gut! Schade, dass Du sie in dieser Rubrik versteckt hast - für mich ist das eine veritable Erzählung!

Gruss Ciconia
 
Liebe Ciconia!

Dein Kommentar hat mir gut getan. Da der Text sehr weitgehend der Realität entspricht, hielt ich die Zuordnung zum Tagebuch für richtig. Auch gibt es bei der LL Leute, die es gar nicht schätzen, wenn man Geschichten mit stark persönlichem Hintergrund in anderen Foren unterbringen will. Ich habe damit schon unerfreuliche Erfahrungen gemacht.
Lieben Gruß
Eberhard
 
G

Gelöschtes Mitglied 14278

Gast
Hallo Eberhard,

leider musste ich diese Erfahrung in der kurzen Zeit, in der ich bei der LL bin, auch schon machen. Aber ich denke, man sollte sich von einigen wenigen Kritiker/innen nicht das Rückgrat brechen lassen. Wenn alle Geschichten, die ein älterer Mensch aus seinem langen Leben zu erzählen hat, nur noch als Tagebucheintrag auftauchen, wird so ein Forum auch ein wenig ärmer, denn dort werden sie mit Sicherheit nicht so häufig gelesen.

Gut verpackte und mit Phantasie angereicherte Erinnerungen, die den Anforderungen des jeweiligen Genres genügen, sollten auch weiterhin im entsprechenden Unterforum veröffentlicht und nicht versteckt werden!

Liebe Grüße
Ciconia
 

ENachtigall

Mitglied
Ich widerspreche vehement der Degradierung des Tagebuchs zum Privatgeschichtenarchiv! Dazu birgt es zu viele wirkliche Schätze, ist tolerant, was Inhalt und Form betrifft und erfreut sich doch eines starken Interesses vieler Stammleser.
Mittlerweile pflegen einige unserer konstant aktiven Autoren hier ihr persönliches Refugium. Ich finde sie allesamt sehr lesenswert und bin als Forenredakteurin natürlich auch ein wenig stolz darauf, wenngleich die Ehre selbstverständlich den Kreativen gebührt.
Mir ist es wichtig, dass sich Autoren hier gut aufgehoben fühlen. Bei Eberhard weiß ich, dass es der Fall ist. Er hat sich aber auch schon mit gewagten Themen in andere Bereiche begeben. Dafür hat er meinen besonderen Respekt.

Liebe Grüße,

Elke
 
G

Gelöschtes Mitglied 14278

Gast
Liebe Elke,

warum diese Vehemenz? Ich kann nicht erkennen, dass jemand das Tagebuch „degradiert“ hat. Natürlich birgt es viele Schätze, und niemand hat bestritten, dass sich dort viele Autoren gut aufgehoben fühlen.

Nur sollte das Tagebuch nicht als Fluchtpunkt für Autoren dienen, die sich in anderen Unterforen – aus welchen Gründen auch immer - nicht mehr gut aufgehoben fühlen.

Gruß Ciconia
 

ENachtigall

Mitglied
Im vorliegenden Fall - und von anderen weiß ich nicht - ist es eher so, Ciconia, dass der Autor hier einen Ausgangspunkt gefunden hat. Das wollte ich deutlich machen.
Es tut mir leid, wenn das missverständlich rüber gekommen ist.

LG Elke
 



 
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