Am Anfang war alles wie erwartet. Wir hatten die Maschine unter Kontrolle. Hinter mir war es ruhig, weil die Passagiere dachten, sie hätten noch Zeit, sie würden „nur“ entführt. Dabei war es, so dachte ich, Gottes Wille, dass unser aller Uhren zum selben Zeitpunkt abliefen. Erhaben waren die Gefühle, als ich unseren Auftrag zu Ende führte und auf diesen protzigen Glaspalast zusteuerte. Erfüllt von einer großen inneren Ruhe starrte ich aus dem Cockpit, als sich unser Flugzeug in den Fenstern des Wolkenkratzers widerspiegelte. Menschen konnten wir dahinter gar nicht ausmachen. Ich erinnere mich, dass ich meinen Oberkörper vorbeugte und den Kopf hob, um nach ihnen Ausschau zu halten. Doch da waren nur unser Flugzeug und das Spiegelbild der Wolken und des Himmels, das ich noch wahrnehmen konnte. In mir war ein großes Glücksgefühl, kein Widerstreben und auch kein Bedauern, ehe der Feuerball uns alle verschluckte, zu schnell und zu gewaltig, um uns noch Gelegenheit zu geben, Schmerz zu empfinden.
Allerdings hatte ich damit gerechnet, dass ich, vom Körper befreit, gleich weiter gehen konnte, doch etwas hielt mich zurück. Nicht nur meine Neugier. Deshalb musste ich noch einen Blick auf das werfen, was wir verursacht hatten: Hustende, schreiende, brennende Menschen. Menschen, die sich aus Fenstern hinabstürzten, um dorthin zu gelangen, wo ich schon war, Menschen, die von Trümmern erschlagen und vom Staub erstickt wurden. Männer, Frauen, Kinder. Ich zuckte mit den Schultern meines Sphärenkörpers. Es war nicht meine Schuld, dass sie dort waren, als ich meinen Auftrag zu Ende führte. Es war ihr Schicksal, Kismet, und deshalb wollte ich mich abwenden.
„Nein, schau hin!“, sagte eine Stimme neben mir, die mir wohl vertraut war. Doch auch damit hatte ich gerechnet, dass mir statt eines himmlischen Wesens mein Vater entgegenkommen würde, um mich auf dem Weg zu begleiten, der direkt ins Paradies führen sollte. Kein Engel wäre besser geeignet, dachte ich und weinte so wie er, während wir uns umarmten. Nur kurz währte dieser Augenblick des Friedens, da stieß er mich von sich.
„Schau hin“, sagte er noch einmal, und er wies mit gestrecktem Arm auf die Szenen, die sich vor und unter uns abspielten. Während ich stumm beobachtete, hörte ich ihn auf einmal leise sagen: „Ich musste dich zu früh verlassen.“
Endlich, der Staub hatte sich gelegt, die Flammen waren gelöscht und der Rauch hatte sich verzogen, gab mir mein Vater einen Wink mit der Hand, der mir bedeutete, ihm zu folgen.
Ich begann, ihm zu erzählen, wie es zu diesem Anschlag gekommen war. Wie begeistert ich von denen war, die uns auserwählten, wie mühsam, nervenzermürbend und kompliziert die Vorbereitungen waren und wie viel Wut aber auch Vertrauen in die Richtigkeit unserer Sache wir aufbringen mussten. Ich wollte, dass er stolz auf mich ist. Nachdem er immer nur mit „Ich weiß, mein Sohn“, antwortete, während er vor mir herging, kam mir indessen mit einem Mal die Erkenntnis, dass er mich ja bestimmt die ganze Zeit beobachten konnte. Welchen Sinn machte es da noch, ihm alles, was er schon wusste, noch einmal zu erzählen. Ich war doch der Unwissende.
„Vater“, sprach ich ihn deshalb an, „wie ist es im Paradies?“
Als er sich umdrehte, um mir zu antworten, sah ich, dass er immer noch weinte. „Es ist mit Worten kaum zu beschreiben“, antwortete er. „Es ist Erkenntnis. Es ist Glückseligkeit und Friede. Wärst du nicht mein Sohn, ich hätte es nicht verlassen.“
„Weinst du deshalb, Vater, weil du es für mich verlassen musstest?“
Er schüttelte den Kopf, wandte sich ab und ging weiter.
„Gott ist groß, nicht wahr?“, fuhr ich fort.
Wieder hielt er inne und sah mich forschend an. „Ja“, sagte er, „so groß ist er, dass er den Menschen die Freiheit gegeben hat.“
„Und doch“, sagte ich, „hält er uns in seiner Hand, bestimmt unser Schicksal, nicht wahr?“
Wieder schüttelte mein Vater den Kopf. „Nein, mein Sohn, das hast du falsch verstanden. Dann wären wir doch nur Marionetten. Wir sind frei. Nichts ist vorherbestimmt. Wäre es anders, könnte kein Mensch sündigen.“
„Aber den Menschen, die dort in diesem Hochhaus waren, denen war es doch vorherbestimmt, sich gerade zu dem Zeitpunkt dort aufzuhalten, als wir das Flugzeug als Bombe benutzten.“
„Gott hat nichts vorherbestimmt. Noch einmal: Wir sind nicht seine Marionetten. Jeder lenkt seine Schritte selbst. Manchmal mag uns Gott eine Brücke bauen, aber ob wir sie betreten, bestimmen wir selber.“
„Wie ist dann Gott? Du hast ihn doch gesehen. Wie sieht er aus.“
„Er ist der Schöpfer aller Menschen. Er ist die Liebe, mein Sohn, und er hat nie etwas anderes gewollt, als die Liebe. Hast du etwas ohne Liebe zu den Menschen getan, so kannst du es nicht für Gott getan haben.“
Noch bevor ich ihm darauf antworten konnte, hielt er abrupt inne und wies mit dem ausgestreckten Arm auf eine Stelle, noch weit fort von uns, an der ein Licht strahlte, zu dem es mich mit aller Sehnsucht hinzog. „Dort“, sagte er, „dorthin musst du. Dorthin kehre auch ich gleich zurück. Aber begleiten darf ich dich nur bis hierhin.“ Dann drehte er sich wieder zu mir herum. „Setz dich hin“, forderte er mich auf. „Du musst hier warten. Ich werde dein Kommen ankündigen. Aber wenn du eine Frage hast, die ich dir noch nicht beantwortet habe, dann rufe mich und ich werde gleich bei dir sein.“
„Ja Vater, eine Frage habe ich noch. Auch wenn es mich nicht betreffen wird...“ Verlegen lachte ich auf. „Die Hölle, weißt du auch, wie die Hölle ist.“
Er zögerte, ehe er mir antwortete. „Auch die Hölle ist Erkenntnis.“
Ich verstand nicht, wollte mehr wissen. Er aber sagte nichts mehr, winkte mir zu und war auf einmal verschwunden. Verwirrt schaute ich mich um. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass um mich herum nur grenzenlose Leere war, ein dämmriges Grau und weit fort, aber umso verlockender, dieses Licht, zu dem es mich zog. Ich versuchte, mich zu erheben, um mich ihm zu nähern, doch ich konnte nur dort sitzen und warten. Also wartete ich, klopfte mit dem rechten Zeigefinger einen Takt und zählte, wie oft ich klopfte. Es kam mir der Gedanke, mir die Zeit mit einem Schläfchen zu verkürzen, aber ich war nicht müde, nicht hungrig und nicht durstig. Alles was ich wollte, war nur, zu diesem Licht zu kommen.
Ich begann schon, die Geduld zu verlieren und wollte meinen Vater rufen. Da erspähte ich plötzlich, in weiter Ferne eine Gestalt. Es war eine Frau in westlichen Kleidern. Ihr Gesicht kam mir vertraut vor, aber ich konnte es zunächst keinem Ereignis in meinem Leben zuordnen. Erwartungsvoll erhob ich mich, um sie zu begrüßen. Würde sie diejenige sein, die mich abholte, um entgültig ins Paradies zu gelangen? War sie gar eine von diesen 72 Jungfrauen, von denen die Rede gewesen war? Ich hatte dem nie Glauben schenken können, denn Begehren ist irdisch und körperlich, und den irdischen Körper lassen wir doch zurück, wenn wir ins Paradies einkehren.
Sie lächelte mich an, als sie unmittelbar vor mir stand, hob die Hand zum Gruß und nannte meinen Namen, bevor sie sich mit ihrem vorstellte.
„Sind wir uns schon einmal begegnet?“, fragte ich sie.
„Nicht direkt“, antwortete sie. „Ich war eine von denen, die aus dem Fenster sprangen, nachdem ihr das Flugzeug in den Wolkenkratzer gelenkt hattet. Hatte dein Vater dich nicht dazu ermahnt, hinzuschauen, als ich fiel, bis mein irdischer Körper auf dem Asphalt zerschellte?“
Ich senkte den Blick, versuchte meine Gedanken zu sammeln, ehe ich ihr antworten konnte. „Doch“, sagte ich, „ich erinnere mich. Du hast geschrieen. Du musst große Angst vor dem Tod gehabt haben.“
Ihre Augen suchten meine. „Ja, ich hatte Angst. Angst vor dem Sterben und genau so große Angst um meine Kinder, die nun ihre Mutter vermissen.“
„Ach, du hattest Kinder? Wie viele?“
„Drei. Ein Junge und zwei Mädchen. Aber lass mich von Anfang an erzählen. Lass mich zu dem Zeitpunkt beginnen, als mich meine Mutter zum ersten Mal spürte. Denn dazu bin ich hierher gekommen.“
Ich verstand nicht. „Wozu?“
„Um dir mein Leben zu erzählen, jeden Augenblick, von Anfang bis zum Ende.“
„Das ist bestimmt interessant, aber ich weiß nicht, ob ich so viel Zeit habe. Ich möchte dort zum Licht, ins Paradies.“
„Du kannst dich dem Licht erst nähern, wenn du dir mein Leben angehört hast.“
„Wie alt bist du geworden?“
„Nur 35 Jahre. Die musst du noch einmal mit mir erleben. Jede Freude, jede Sehnsucht, jedes Verlangen und jeden Schmerz. Ich werde dir alles so erzählen, dass du es mit mir empfinden kannst. Es wird also auch sehr spannend sein.“
„Nein, das will ich nicht. Das dauert mir zu lange.“
„Es bleibt dir keine andere Wahl.“
Sie hatte Recht. Es half mir nicht, die Ohren zuzuhalten. Ihr Stimme drang immer zu mir. Es half mir auch nicht die Augen zu schließen, denn wovon sie erzählte sah ich mit ihren Augen, ja, ich nahm sogar die Gerüche wahr, Duftendes aber auch Stinkendes, die einst in ihre Nase gedrungen waren und ich fühlte, was sie fühlte. Nur wenn sie schlief, und sie schlief nach jedem Tag, den sie mir erzählte, saß, stand oder lag ich wach und mir blieb nichts zu tun, als sie zu betrachten, über das Erzählte nachzudenken oder mich der Leere um mich herum und der übermächtigen Sehnsucht nach dem Licht, das so weit fort war, auszusetzen.
Auf einmal wurde ich dessen gewahr, dass ich, je länger ich sie betrachtete und je mehr ich von ihr erfuhr, begann, sie zu lieben. Nicht so, wie ein Mann eine Frau liebt, diese Liebe war frei von Begehren, eher so, wie ein Bruder seine Schwester, wie ein Vater seine Tochter, wie der Schöpfer das ihm anvertraute Geschöpf liebt. Zugleich wuchs meine Angst, je weiter ich sie auf ihrem Lebensweg begleitete, ihre Erlebnisse im Kindergarten, die erste scheue Liebe in der Schule, ihre Erfolge an der Universität, die große Liebe, die sie dort fand, die Geburt ihrer Kinder, die Angst vor dem Tag, an dem sie zum letzten Mal in diesen Wolkenkratzer zur Arbeit ging. Wie gerne hätte ich jetzt das Flugzeug umgelenkt, wie gerne ihr den Weg durch den Rauch zu der rettenden Treppe gewiesen, wie gerne hätte ich sie aufgefangen. Doch da war nichts mehr, was ich tun konnte. Nicht einmal in meinen Armen konnte ich sie halten, um sie zu trösten, als sie um ihre Kinder weinte, die ihre Mutter verloren hatten und um den Mann, der ohne ihre Liebe sein Leben meistern musste.
Es blieb mir nichts, als mich viele hundert Mal bei ihr zu entschuldigen und um Vergebung zu bitten. „Ich kannte dich nicht“, sagte ich. „Ich wusste nicht, wie viel Kraft, wie viel Liebe und Güte in dir ist. Für mich warst du nur ein Phantom, eine Ungläubige.“
„Dann hast du nicht gewusst, dass auch die, die ihr Ungläubige nennt, Geschöpfe Gottes sind? Und dass es doch nur einen Schöpfer gibt?“
Ich wand mich, suchte nach Ausreden und schließlich musste ich gestehen: „Doch, das habe ich eigentlich gewusst.“
Da verstand ich auf einmal, was mein Vater gemeint hatte, als er von der Hölle sprach. Ja, auch sie ist Erkenntnis. Sie ist die Erkenntnis dessen, was wir anderen Menschen angetan haben, das Begreifen der Größe unserer Schuld. Ich war in der Hölle.
Die Hände schlug ich vor mein Gesicht, warf mich vor der Frau nieder und flehte: „Vergib mir, bitte vergib mir, denn ich wusste nicht, was ich tat.“
Da antwortete sie:„Ich kenne deine Geschichte und deshalb vergebe ich dir. Sonst dürftest du dich nicht dem Licht nähern.“ Dann winkte auch sie mir Lebwohl und war auf einmal verschwunden.
Verzweifelt ging ich einen Schritt auf das Licht zu und versuchte den nächsten. Der aber war mir nicht möglich. Und so musste ich mich wieder setzen und dachte über das Leben der Frau nach und kaute an der Erkenntnis meiner Schuld, an den Schmerzen, die ich ihr angetan hatte, ihren Kindern, ihrem Mann und ihren Eltern und dem Verlust ihres Lebens, bis mir ein Gedanke kam.
„Vater!“, brüllte ich, „Vater, wo bist du?“
Daraufhin erklang hinter mir seine Stimme. „Was kann ich für dich tun, mein Sohn?“
„Ich komme nicht mehr weiter vor zum Licht. Was kann ich tun?“
„Du musst warten, mein Junge.“
„Worauf?“
„Auf den nächsten Menschen, den du geopfert hast. Auch er wird dir sein Leben erzählen.“
Ich heulte auf, sank auf die Knie. „Und wie lange“, schrie ich, „wie lange muss ich auf ihn warten?“
„So lange“, antwortete er, „wie das Leben gedauert hätte, dass die Frau vorhin noch hätte leben können, hättest du es nicht beendet.“
„Vierzig, fünfzig Jahre Leere um mich herum und die Erkenntnis der Schuld in mir, das halte ich nicht aus Vater. Gibt es denn keine Hoffnung, keinen Trost?“
„Gott ist gütig“, antwortete mein Vater. „Nach dieser Zeit, darfst du wieder einen Schritt vor und eines Tages kommst dann auch du zum Licht.“
„Ist das ein Trost?“, rief ich aus. „Wie viele Menschen waren es denn? Ich habe nicht alle gezählt, als du mir sagtest: Schau hin mein Sohn, schau hin. Kannst du denn gar nichts für mich tun? Sprichst du denn nicht mit Gott?“
„Ich habe getan, was ich tun konnte“, antwortete er. „Ich betete und flehte und warf mich vor ihm nieder. Und er erwirkte Wunder für mich. Sonst wären noch viel mehr gestorben.“
Dann verschwand mein Vater wieder und ich – ich warte ..
Allerdings hatte ich damit gerechnet, dass ich, vom Körper befreit, gleich weiter gehen konnte, doch etwas hielt mich zurück. Nicht nur meine Neugier. Deshalb musste ich noch einen Blick auf das werfen, was wir verursacht hatten: Hustende, schreiende, brennende Menschen. Menschen, die sich aus Fenstern hinabstürzten, um dorthin zu gelangen, wo ich schon war, Menschen, die von Trümmern erschlagen und vom Staub erstickt wurden. Männer, Frauen, Kinder. Ich zuckte mit den Schultern meines Sphärenkörpers. Es war nicht meine Schuld, dass sie dort waren, als ich meinen Auftrag zu Ende führte. Es war ihr Schicksal, Kismet, und deshalb wollte ich mich abwenden.
„Nein, schau hin!“, sagte eine Stimme neben mir, die mir wohl vertraut war. Doch auch damit hatte ich gerechnet, dass mir statt eines himmlischen Wesens mein Vater entgegenkommen würde, um mich auf dem Weg zu begleiten, der direkt ins Paradies führen sollte. Kein Engel wäre besser geeignet, dachte ich und weinte so wie er, während wir uns umarmten. Nur kurz währte dieser Augenblick des Friedens, da stieß er mich von sich.
„Schau hin“, sagte er noch einmal, und er wies mit gestrecktem Arm auf die Szenen, die sich vor und unter uns abspielten. Während ich stumm beobachtete, hörte ich ihn auf einmal leise sagen: „Ich musste dich zu früh verlassen.“
Endlich, der Staub hatte sich gelegt, die Flammen waren gelöscht und der Rauch hatte sich verzogen, gab mir mein Vater einen Wink mit der Hand, der mir bedeutete, ihm zu folgen.
Ich begann, ihm zu erzählen, wie es zu diesem Anschlag gekommen war. Wie begeistert ich von denen war, die uns auserwählten, wie mühsam, nervenzermürbend und kompliziert die Vorbereitungen waren und wie viel Wut aber auch Vertrauen in die Richtigkeit unserer Sache wir aufbringen mussten. Ich wollte, dass er stolz auf mich ist. Nachdem er immer nur mit „Ich weiß, mein Sohn“, antwortete, während er vor mir herging, kam mir indessen mit einem Mal die Erkenntnis, dass er mich ja bestimmt die ganze Zeit beobachten konnte. Welchen Sinn machte es da noch, ihm alles, was er schon wusste, noch einmal zu erzählen. Ich war doch der Unwissende.
„Vater“, sprach ich ihn deshalb an, „wie ist es im Paradies?“
Als er sich umdrehte, um mir zu antworten, sah ich, dass er immer noch weinte. „Es ist mit Worten kaum zu beschreiben“, antwortete er. „Es ist Erkenntnis. Es ist Glückseligkeit und Friede. Wärst du nicht mein Sohn, ich hätte es nicht verlassen.“
„Weinst du deshalb, Vater, weil du es für mich verlassen musstest?“
Er schüttelte den Kopf, wandte sich ab und ging weiter.
„Gott ist groß, nicht wahr?“, fuhr ich fort.
Wieder hielt er inne und sah mich forschend an. „Ja“, sagte er, „so groß ist er, dass er den Menschen die Freiheit gegeben hat.“
„Und doch“, sagte ich, „hält er uns in seiner Hand, bestimmt unser Schicksal, nicht wahr?“
Wieder schüttelte mein Vater den Kopf. „Nein, mein Sohn, das hast du falsch verstanden. Dann wären wir doch nur Marionetten. Wir sind frei. Nichts ist vorherbestimmt. Wäre es anders, könnte kein Mensch sündigen.“
„Aber den Menschen, die dort in diesem Hochhaus waren, denen war es doch vorherbestimmt, sich gerade zu dem Zeitpunkt dort aufzuhalten, als wir das Flugzeug als Bombe benutzten.“
„Gott hat nichts vorherbestimmt. Noch einmal: Wir sind nicht seine Marionetten. Jeder lenkt seine Schritte selbst. Manchmal mag uns Gott eine Brücke bauen, aber ob wir sie betreten, bestimmen wir selber.“
„Wie ist dann Gott? Du hast ihn doch gesehen. Wie sieht er aus.“
„Er ist der Schöpfer aller Menschen. Er ist die Liebe, mein Sohn, und er hat nie etwas anderes gewollt, als die Liebe. Hast du etwas ohne Liebe zu den Menschen getan, so kannst du es nicht für Gott getan haben.“
Noch bevor ich ihm darauf antworten konnte, hielt er abrupt inne und wies mit dem ausgestreckten Arm auf eine Stelle, noch weit fort von uns, an der ein Licht strahlte, zu dem es mich mit aller Sehnsucht hinzog. „Dort“, sagte er, „dorthin musst du. Dorthin kehre auch ich gleich zurück. Aber begleiten darf ich dich nur bis hierhin.“ Dann drehte er sich wieder zu mir herum. „Setz dich hin“, forderte er mich auf. „Du musst hier warten. Ich werde dein Kommen ankündigen. Aber wenn du eine Frage hast, die ich dir noch nicht beantwortet habe, dann rufe mich und ich werde gleich bei dir sein.“
„Ja Vater, eine Frage habe ich noch. Auch wenn es mich nicht betreffen wird...“ Verlegen lachte ich auf. „Die Hölle, weißt du auch, wie die Hölle ist.“
Er zögerte, ehe er mir antwortete. „Auch die Hölle ist Erkenntnis.“
Ich verstand nicht, wollte mehr wissen. Er aber sagte nichts mehr, winkte mir zu und war auf einmal verschwunden. Verwirrt schaute ich mich um. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass um mich herum nur grenzenlose Leere war, ein dämmriges Grau und weit fort, aber umso verlockender, dieses Licht, zu dem es mich zog. Ich versuchte, mich zu erheben, um mich ihm zu nähern, doch ich konnte nur dort sitzen und warten. Also wartete ich, klopfte mit dem rechten Zeigefinger einen Takt und zählte, wie oft ich klopfte. Es kam mir der Gedanke, mir die Zeit mit einem Schläfchen zu verkürzen, aber ich war nicht müde, nicht hungrig und nicht durstig. Alles was ich wollte, war nur, zu diesem Licht zu kommen.
Ich begann schon, die Geduld zu verlieren und wollte meinen Vater rufen. Da erspähte ich plötzlich, in weiter Ferne eine Gestalt. Es war eine Frau in westlichen Kleidern. Ihr Gesicht kam mir vertraut vor, aber ich konnte es zunächst keinem Ereignis in meinem Leben zuordnen. Erwartungsvoll erhob ich mich, um sie zu begrüßen. Würde sie diejenige sein, die mich abholte, um entgültig ins Paradies zu gelangen? War sie gar eine von diesen 72 Jungfrauen, von denen die Rede gewesen war? Ich hatte dem nie Glauben schenken können, denn Begehren ist irdisch und körperlich, und den irdischen Körper lassen wir doch zurück, wenn wir ins Paradies einkehren.
Sie lächelte mich an, als sie unmittelbar vor mir stand, hob die Hand zum Gruß und nannte meinen Namen, bevor sie sich mit ihrem vorstellte.
„Sind wir uns schon einmal begegnet?“, fragte ich sie.
„Nicht direkt“, antwortete sie. „Ich war eine von denen, die aus dem Fenster sprangen, nachdem ihr das Flugzeug in den Wolkenkratzer gelenkt hattet. Hatte dein Vater dich nicht dazu ermahnt, hinzuschauen, als ich fiel, bis mein irdischer Körper auf dem Asphalt zerschellte?“
Ich senkte den Blick, versuchte meine Gedanken zu sammeln, ehe ich ihr antworten konnte. „Doch“, sagte ich, „ich erinnere mich. Du hast geschrieen. Du musst große Angst vor dem Tod gehabt haben.“
Ihre Augen suchten meine. „Ja, ich hatte Angst. Angst vor dem Sterben und genau so große Angst um meine Kinder, die nun ihre Mutter vermissen.“
„Ach, du hattest Kinder? Wie viele?“
„Drei. Ein Junge und zwei Mädchen. Aber lass mich von Anfang an erzählen. Lass mich zu dem Zeitpunkt beginnen, als mich meine Mutter zum ersten Mal spürte. Denn dazu bin ich hierher gekommen.“
Ich verstand nicht. „Wozu?“
„Um dir mein Leben zu erzählen, jeden Augenblick, von Anfang bis zum Ende.“
„Das ist bestimmt interessant, aber ich weiß nicht, ob ich so viel Zeit habe. Ich möchte dort zum Licht, ins Paradies.“
„Du kannst dich dem Licht erst nähern, wenn du dir mein Leben angehört hast.“
„Wie alt bist du geworden?“
„Nur 35 Jahre. Die musst du noch einmal mit mir erleben. Jede Freude, jede Sehnsucht, jedes Verlangen und jeden Schmerz. Ich werde dir alles so erzählen, dass du es mit mir empfinden kannst. Es wird also auch sehr spannend sein.“
„Nein, das will ich nicht. Das dauert mir zu lange.“
„Es bleibt dir keine andere Wahl.“
Sie hatte Recht. Es half mir nicht, die Ohren zuzuhalten. Ihr Stimme drang immer zu mir. Es half mir auch nicht die Augen zu schließen, denn wovon sie erzählte sah ich mit ihren Augen, ja, ich nahm sogar die Gerüche wahr, Duftendes aber auch Stinkendes, die einst in ihre Nase gedrungen waren und ich fühlte, was sie fühlte. Nur wenn sie schlief, und sie schlief nach jedem Tag, den sie mir erzählte, saß, stand oder lag ich wach und mir blieb nichts zu tun, als sie zu betrachten, über das Erzählte nachzudenken oder mich der Leere um mich herum und der übermächtigen Sehnsucht nach dem Licht, das so weit fort war, auszusetzen.
Auf einmal wurde ich dessen gewahr, dass ich, je länger ich sie betrachtete und je mehr ich von ihr erfuhr, begann, sie zu lieben. Nicht so, wie ein Mann eine Frau liebt, diese Liebe war frei von Begehren, eher so, wie ein Bruder seine Schwester, wie ein Vater seine Tochter, wie der Schöpfer das ihm anvertraute Geschöpf liebt. Zugleich wuchs meine Angst, je weiter ich sie auf ihrem Lebensweg begleitete, ihre Erlebnisse im Kindergarten, die erste scheue Liebe in der Schule, ihre Erfolge an der Universität, die große Liebe, die sie dort fand, die Geburt ihrer Kinder, die Angst vor dem Tag, an dem sie zum letzten Mal in diesen Wolkenkratzer zur Arbeit ging. Wie gerne hätte ich jetzt das Flugzeug umgelenkt, wie gerne ihr den Weg durch den Rauch zu der rettenden Treppe gewiesen, wie gerne hätte ich sie aufgefangen. Doch da war nichts mehr, was ich tun konnte. Nicht einmal in meinen Armen konnte ich sie halten, um sie zu trösten, als sie um ihre Kinder weinte, die ihre Mutter verloren hatten und um den Mann, der ohne ihre Liebe sein Leben meistern musste.
Es blieb mir nichts, als mich viele hundert Mal bei ihr zu entschuldigen und um Vergebung zu bitten. „Ich kannte dich nicht“, sagte ich. „Ich wusste nicht, wie viel Kraft, wie viel Liebe und Güte in dir ist. Für mich warst du nur ein Phantom, eine Ungläubige.“
„Dann hast du nicht gewusst, dass auch die, die ihr Ungläubige nennt, Geschöpfe Gottes sind? Und dass es doch nur einen Schöpfer gibt?“
Ich wand mich, suchte nach Ausreden und schließlich musste ich gestehen: „Doch, das habe ich eigentlich gewusst.“
Da verstand ich auf einmal, was mein Vater gemeint hatte, als er von der Hölle sprach. Ja, auch sie ist Erkenntnis. Sie ist die Erkenntnis dessen, was wir anderen Menschen angetan haben, das Begreifen der Größe unserer Schuld. Ich war in der Hölle.
Die Hände schlug ich vor mein Gesicht, warf mich vor der Frau nieder und flehte: „Vergib mir, bitte vergib mir, denn ich wusste nicht, was ich tat.“
Da antwortete sie:„Ich kenne deine Geschichte und deshalb vergebe ich dir. Sonst dürftest du dich nicht dem Licht nähern.“ Dann winkte auch sie mir Lebwohl und war auf einmal verschwunden.
Verzweifelt ging ich einen Schritt auf das Licht zu und versuchte den nächsten. Der aber war mir nicht möglich. Und so musste ich mich wieder setzen und dachte über das Leben der Frau nach und kaute an der Erkenntnis meiner Schuld, an den Schmerzen, die ich ihr angetan hatte, ihren Kindern, ihrem Mann und ihren Eltern und dem Verlust ihres Lebens, bis mir ein Gedanke kam.
„Vater!“, brüllte ich, „Vater, wo bist du?“
Daraufhin erklang hinter mir seine Stimme. „Was kann ich für dich tun, mein Sohn?“
„Ich komme nicht mehr weiter vor zum Licht. Was kann ich tun?“
„Du musst warten, mein Junge.“
„Worauf?“
„Auf den nächsten Menschen, den du geopfert hast. Auch er wird dir sein Leben erzählen.“
Ich heulte auf, sank auf die Knie. „Und wie lange“, schrie ich, „wie lange muss ich auf ihn warten?“
„So lange“, antwortete er, „wie das Leben gedauert hätte, dass die Frau vorhin noch hätte leben können, hättest du es nicht beendet.“
„Vierzig, fünfzig Jahre Leere um mich herum und die Erkenntnis der Schuld in mir, das halte ich nicht aus Vater. Gibt es denn keine Hoffnung, keinen Trost?“
„Gott ist gütig“, antwortete mein Vater. „Nach dieser Zeit, darfst du wieder einen Schritt vor und eines Tages kommst dann auch du zum Licht.“
„Ist das ein Trost?“, rief ich aus. „Wie viele Menschen waren es denn? Ich habe nicht alle gezählt, als du mir sagtest: Schau hin mein Sohn, schau hin. Kannst du denn gar nichts für mich tun? Sprichst du denn nicht mit Gott?“
„Ich habe getan, was ich tun konnte“, antwortete er. „Ich betete und flehte und warf mich vor ihm nieder. Und er erwirkte Wunder für mich. Sonst wären noch viel mehr gestorben.“
Dann verschwand mein Vater wieder und ich – ich warte ..