Bertl Schreiner
Mitglied
Auf der Brücke
Kalter Dunst lag auf der Flussniederung und überzog die Stahlkonstruktion mit einem Hauch von Feuchte. Er lastete auch auf der dunklen Gestalt, die sich langsam auf dem Fußweg der Brücke entlang schleppte und schließlich stehen blieb. Die Wassertropfen auf dem breiten Handlauf des grau lackierten Eisengeländers blitzten zuweilen im Licht eines vorbeifahrenden Autos auf. Mit einer zittrigen Handbewegung wischte der alte Mann eine kleine Stelle frei, um sich an dem nassen Metall festzuhalten. Sein Atem keuchte nicht nur wegen der kalten Luft; es hatte für ihn eine übergroße Anstrengung bedeutet, von der nahen Bushaltestelle aus sich über eine eiserne Wendeltreppe zur Fahrbahn hoch zu arbeiten und dann bis fast zur Mitte der Brücke zu schleppen, die den breiten Strom überspannte. Doch er hatte sich vorgenommen, sich mit letzter Kraft an diese höchste Stelle über der Fahrrinne vorzukämpfen. Nur hier, so hatte er sich immer wieder eingeredet, versprachen die Fallhöhe und die reißende Strömung ein sicheres Gelingen seines Vorhabens.
Er klammerte sich an das Geländer; die Kälte kroch die Arme hoch und ließ seinen ganzen Körper frösteln. Sein kraftloser Blick verlor sich in den bleigrauen Fluten, die fast lautlos tief unter der Brücke vorwärts drängten und sich in der Ferne mit trübem Dunst und schwarzgrauem Gewölk vereinten. Was trieb ihn an diesem Spätnachmittag im Dezember hierher, an diese unwirtliche Stelle, von der es kein Zurück mehr geben sollte? Sicher keine spontane Reaktion über eine schwere Enttäuschung oder eine durch jemand verursachte Kränkung. Seit mehreren Jahren hatte er sich sein Vorgehen immer wieder ausgemalt, zunächst selten, etwa in einem belastenden Krankheitsschub, dann aber häufiger, da seine Beschwerden schleichend zunahmen.
Auch jetzt noch klangen die wohlmeinenden Ratschläge der Ärzte wie Hohn in seinen Ohren: Seine Krankheit sei zwar nicht heilbar, aber auch nicht lebensbedrohlich. Er müsse sich eben damit abfinden und sich auf die schönen Dinge des Lebens konzentrieren. Doch konnte er diese positiven Momente überhaupt sehen, wenn seine Schmerzen sich ihm inzwischen fast den ganzen Tag über in Erinnerung brachten? Wenn seine Unternehmungen wegen fortschreitender Schwäche immer bescheidener ausfielen? Wenn er schließlich fast nur noch unnütz zu Hause saß oder lag? So jedenfalls glaubte er, dass die anderen über ihn dachten, von denen er sich mehr und mehr abkapselte. An nichts konnte er sich anhaltend freuen, weder an der Schönheit der Natur, noch an der Vitalität seiner Enkelkinder. Was nützte ihm sein scharfer Verstand, wenn er ihn vor allem dazu nutzte, sich ständig neue Möglichkeiten auszudenken, dieses für ihn sinnlose Leben zu beenden? Doch genau genommen waren es gerade diese Fantasien, die ihm die längste Erleichterung verschafften, wenn er sich in dem Gedanken badete, dass bald nichts mehr von ihm übrig sei und Angst und Schmerz ihn nicht mehr angreifen könnten.
Unmerklich brach die Dämmerung herein und ließ die Wassermassen noch dunkler und bedrohlicher erscheinen. Wie würde die bleigraue Tiefe ihn aufnehmen, seinen matten Körper vielleicht lautlos schlucken? War es ihm überhaupt möglich, sich von dem Geländer zu lösen und seinen vor Kälte fast starren Leib über die Brüstung zu rollen? Wenn er nicht bald seine letzten Kräfte mobilisierte, wäre er nicht mehr fähig sein Vorhaben zu Ende zu bringen! In einer Mischung aus Verzweiflung und ohnmächtigem Zorn legte er seinen Oberkörper auf das breite Eisenprofil, hob unter Schmerzen sein rechtes Bein über die Brüstung und rutschte tatsächlich langsam nach außen. Doch instinktiv krampften sich seine Hände fest und die Beine fanden Halt auf dem Betonvorsprung außerhalb des Geländers. Konnte es denn so schwer sein, die unbewusst ablaufenden Überlebensreaktionen zu überwinden und sich endlich dem erlösenden Fall hinzugeben? Mit geschlossenen Augen und keuchendem Atem versuchte er die klammen Hände zu öffnen, doch sie gehorchten ihm nicht.
Während sich die Minuten zwischen Leben und Sterben fast unendlich dehnten, drang eine leise, sehr vorsichtige Stimme an sein Ohr: "Hallo, bitte erschrecken Sie nicht. Ich bin nahe bei Ihnen." Hörte er gerade auf Grund der zurückliegenden Anstrengung Stimmen aus dem Jenseits? War er vielleicht schon abgestürzt und befand sich in einer anderen Welt? Doch seine schmerzenden Hände umklammerten noch das Geländer und seine zitternden Beine hielten sich auf dem Betonvorsprung. Langsam öffnete er die Augen, bereit, sich bei der geringsten Überraschung nach hinten fallen zu lassen. Im trüben Licht der Brückenbeleuchtung erkannte er den Umriss eines in eine pelzbesetzte Kapuze eingehüllten Gesichts. Gleichzeitig vernahm er wieder die warme Stimme:
"Ich möchte mich gern kurz mit Ihnen unterhalten, vielleicht an Ihrer Not teilhaben." "Niemand kann mir helfen oder mich von meinem Entschluss abbringen", dachte er, antwortete aber nicht.
Doch die Fremde redete weiter, als wolle sie ihn mit Worten zu sich heran ziehen: "Ich kenne mich hier aus auf dieser Brücke."
Am liebsten hätte er sie angefaucht, sie solle sich zum Teufel scheren, doch er konnte noch nie andere Menschen bewusst verletzen. Immer schon hatte er sich zurück genommen und Anfeindungen in sich hinein gefressen. Doch die ältere Dame in ihrem schwarzen Mantel wollte ihm sicher nichts Böses; ihre einfühlsame Stimme drang allmählich bis in sein Inneres vor und erreichte, dass seine ablehnende Haltung sich ein wenig lockerte. Kaum hörbar flüsterte er vor ich hin:
"Es hat keinen Sinn."
"Was hat keinen Sinn?"
"Alles, das Leben, die Welt..."
"Ihr Leben oder unser Leben?"
Verdammt, was ging hier vor? Hatte sie eben "unser" gesagt? Mit dem Ärger über dieses Wort kehrte ein wenig Energie in den entkräfteten Körper zurück:
"Bitte lassen sie mich in Ruhe! Sie machen alles noch komplizierter."
"Es ist immer kompliziert, sein Leben zu beenden, glauben Sie mir!"
Erst jetzt wurde ihm klar, dass er sich seit einer gefühlten Ewigkeit festkrallte, als könne er nicht von etwas lassen, das er längst abgeschlossen glaubte; sein ohnehin geringer Widerstand schwand allmählich und er begann ihre behutsamen Worte in sich aufzunehmen:
"Möchten Sie nicht noch einmal an Ihre Familie denken, vielleicht an Ihre Kinder oder Enkel?"
"Schon Hunderte Mal habe ich mit diesen Gedanken gerungen, mir so viel Schönes vorzustellen versucht. Aber es hat keinen Sinn; Der Schmerz frisst alles auf."
Ohne es bewusst zu erkennen, ließ er sich in ein Gespräch ziehen, in dessen Verlauf die Fremde noch mehr aufzählte, für das es sich zu leben lohne. Doch nichts davon konnte ihn wirklich überzeugen. Manchmal schüttelte er ein wenig den Kopf und flüsterte mit erstickter Stimme, es hätte eben keinen Sinn weiterzuleben. Sie hatte inzwischen ganz vorsichtig eine Hand auf seine Finger gelegt, ohne dass er sich dagegen wehrte. Als sie erkannte, dass alle ihre Bemühungen umsonst waren, fasste sie mit Nachdruck seine beiden Hände,während es tief aus ihrem Inneren herausbrach:
"Leben Sie, bitte!" Und nach einer kleinen Pause: "Tun Sie es für mich! Ich bin doch so hilflos!"
Zum ersten Mal blickte er in ihr Gesicht und bemerkte die Tränen in ihren geröteten Augen. Soviel Anteilnahme, aber auch so viel hilflose Verzweiflung waren ihm noch nie begegnet. Unbewusst drängte sich sein Körper fest an das Geländer und an ihren Körper, der sich ihm zuneigte. Sie schlang ihre Arme um ihn und krallte ihre Finger in seinen Mantel, als sie spürte, wie den zitternden Leib jenseits der Brüstung die Kräfte verließen und er langsam in sich zusammenzusacken drohte. Sollte alles vergeblich gewesen sein, jetzt, da er anscheinend bereit war, sich helfen zu lassen? In ihrer Verzweiflung schrie sie um Hilfe, doch kein Fußgänger war in der Nähe; und die wenigen Autofahrer achteten nicht auf die dunklen Gestalten am Rand des Gehwegs. Doch ihr Schrei mobilisierte auch in ihrem Gegenüber anscheinend letzte Kräfte. Sein Oberkörper drückte sich an sie, folgte ihrem verzweifelten Ziehen und rollte tatsächlich über das Geländer. Die Fremde verlor den Halt und wankte zu Boden, ließ ihn aber nicht los, so dass beide auf den Gehweg sanken.
Niemand nahm Notiz von den beiden erschöpft nach Luft ringenden alten Menschen. Es dauerte sicher einige Minuten, bis sie sich langsam voneinander lösten und sich aufsetzten. Nun lehnten sie nebeneinander an den Eisenstreben und versuchten sich in der Situation zurechtzufinden. Die Frau fasste sich als erste, holte ihre Tasche, die zu Boden gefallen war, und zog eine Thermosflasche heraus. Sie schraubte den Becher ab, goss heißen Tee ein und bot ihn dem neben ihr Kauernden an. Mit jedem Schluck beruhigten sich die vor Kälte zitternden Hände ein wenig. Langsam begann er zu begreifen, dass er sich auf der sicheren Seite des Geländers befand und dass er tatsächlich noch lebte; aber er wusste mit diesem Gedanken nichts anzufangen. So überließ er sich der Fürsorge seiner Begleiterin, die eine angebrochene Tafel Schokolade aus ihrer Tasche kramte, einige Stücke abbrach, ihm davon anbot und auch selbst zugriff. In dem Maß, wie die kalte Schokolade allmählich in seinem Mund schmolz und die herbe Süße ihm ein wenig Kraft einflößte, meldete sich zaghaft das Leben in ihm zurück.
Sollte er der Fremden dankbar sein, die mit ihrem Verhalten sein Leben gerettet hatte? Doch sie erwartete in dieser Situation keine Äußerung von ihm. Sie konzentrierte sich darauf, dass sie beide endlich von dem nassen Gehsteig aufstanden und möglichst schnell einen wärmenden Raum erreichten. Mit dem Hinweis, in einer Gaststätte ganz in der Nähe gebe es eine kräftige Suppe, half sie ihm auf die Beine. Sich gegenseitig stützend näherten sie sich dem Ende der Brücke und tasteten sich dann Stufe für Stufe die Wendeltreppe zur Uferpromenade hinab. Als er wieder festen Boden unter sich spürte, fragte er unvermittelt, wieso sie plötzlich in seiner Nähe gewesen sei.
"Ich bin fast jeden Abend auf der Brücke, seit mein Mann..." Hier versagte ihre Stimme, aber sie drückte sich noch fester an ihren Begleiter, während sie sich langsam den Lichtergirlanden der Hafenkneipe näherten.
Kalter Dunst lag auf der Flussniederung und überzog die Stahlkonstruktion mit einem Hauch von Feuchte. Er lastete auch auf der dunklen Gestalt, die sich langsam auf dem Fußweg der Brücke entlang schleppte und schließlich stehen blieb. Die Wassertropfen auf dem breiten Handlauf des grau lackierten Eisengeländers blitzten zuweilen im Licht eines vorbeifahrenden Autos auf. Mit einer zittrigen Handbewegung wischte der alte Mann eine kleine Stelle frei, um sich an dem nassen Metall festzuhalten. Sein Atem keuchte nicht nur wegen der kalten Luft; es hatte für ihn eine übergroße Anstrengung bedeutet, von der nahen Bushaltestelle aus sich über eine eiserne Wendeltreppe zur Fahrbahn hoch zu arbeiten und dann bis fast zur Mitte der Brücke zu schleppen, die den breiten Strom überspannte. Doch er hatte sich vorgenommen, sich mit letzter Kraft an diese höchste Stelle über der Fahrrinne vorzukämpfen. Nur hier, so hatte er sich immer wieder eingeredet, versprachen die Fallhöhe und die reißende Strömung ein sicheres Gelingen seines Vorhabens.
Er klammerte sich an das Geländer; die Kälte kroch die Arme hoch und ließ seinen ganzen Körper frösteln. Sein kraftloser Blick verlor sich in den bleigrauen Fluten, die fast lautlos tief unter der Brücke vorwärts drängten und sich in der Ferne mit trübem Dunst und schwarzgrauem Gewölk vereinten. Was trieb ihn an diesem Spätnachmittag im Dezember hierher, an diese unwirtliche Stelle, von der es kein Zurück mehr geben sollte? Sicher keine spontane Reaktion über eine schwere Enttäuschung oder eine durch jemand verursachte Kränkung. Seit mehreren Jahren hatte er sich sein Vorgehen immer wieder ausgemalt, zunächst selten, etwa in einem belastenden Krankheitsschub, dann aber häufiger, da seine Beschwerden schleichend zunahmen.
Auch jetzt noch klangen die wohlmeinenden Ratschläge der Ärzte wie Hohn in seinen Ohren: Seine Krankheit sei zwar nicht heilbar, aber auch nicht lebensbedrohlich. Er müsse sich eben damit abfinden und sich auf die schönen Dinge des Lebens konzentrieren. Doch konnte er diese positiven Momente überhaupt sehen, wenn seine Schmerzen sich ihm inzwischen fast den ganzen Tag über in Erinnerung brachten? Wenn seine Unternehmungen wegen fortschreitender Schwäche immer bescheidener ausfielen? Wenn er schließlich fast nur noch unnütz zu Hause saß oder lag? So jedenfalls glaubte er, dass die anderen über ihn dachten, von denen er sich mehr und mehr abkapselte. An nichts konnte er sich anhaltend freuen, weder an der Schönheit der Natur, noch an der Vitalität seiner Enkelkinder. Was nützte ihm sein scharfer Verstand, wenn er ihn vor allem dazu nutzte, sich ständig neue Möglichkeiten auszudenken, dieses für ihn sinnlose Leben zu beenden? Doch genau genommen waren es gerade diese Fantasien, die ihm die längste Erleichterung verschafften, wenn er sich in dem Gedanken badete, dass bald nichts mehr von ihm übrig sei und Angst und Schmerz ihn nicht mehr angreifen könnten.
Unmerklich brach die Dämmerung herein und ließ die Wassermassen noch dunkler und bedrohlicher erscheinen. Wie würde die bleigraue Tiefe ihn aufnehmen, seinen matten Körper vielleicht lautlos schlucken? War es ihm überhaupt möglich, sich von dem Geländer zu lösen und seinen vor Kälte fast starren Leib über die Brüstung zu rollen? Wenn er nicht bald seine letzten Kräfte mobilisierte, wäre er nicht mehr fähig sein Vorhaben zu Ende zu bringen! In einer Mischung aus Verzweiflung und ohnmächtigem Zorn legte er seinen Oberkörper auf das breite Eisenprofil, hob unter Schmerzen sein rechtes Bein über die Brüstung und rutschte tatsächlich langsam nach außen. Doch instinktiv krampften sich seine Hände fest und die Beine fanden Halt auf dem Betonvorsprung außerhalb des Geländers. Konnte es denn so schwer sein, die unbewusst ablaufenden Überlebensreaktionen zu überwinden und sich endlich dem erlösenden Fall hinzugeben? Mit geschlossenen Augen und keuchendem Atem versuchte er die klammen Hände zu öffnen, doch sie gehorchten ihm nicht.
Während sich die Minuten zwischen Leben und Sterben fast unendlich dehnten, drang eine leise, sehr vorsichtige Stimme an sein Ohr: "Hallo, bitte erschrecken Sie nicht. Ich bin nahe bei Ihnen." Hörte er gerade auf Grund der zurückliegenden Anstrengung Stimmen aus dem Jenseits? War er vielleicht schon abgestürzt und befand sich in einer anderen Welt? Doch seine schmerzenden Hände umklammerten noch das Geländer und seine zitternden Beine hielten sich auf dem Betonvorsprung. Langsam öffnete er die Augen, bereit, sich bei der geringsten Überraschung nach hinten fallen zu lassen. Im trüben Licht der Brückenbeleuchtung erkannte er den Umriss eines in eine pelzbesetzte Kapuze eingehüllten Gesichts. Gleichzeitig vernahm er wieder die warme Stimme:
"Ich möchte mich gern kurz mit Ihnen unterhalten, vielleicht an Ihrer Not teilhaben." "Niemand kann mir helfen oder mich von meinem Entschluss abbringen", dachte er, antwortete aber nicht.
Doch die Fremde redete weiter, als wolle sie ihn mit Worten zu sich heran ziehen: "Ich kenne mich hier aus auf dieser Brücke."
Am liebsten hätte er sie angefaucht, sie solle sich zum Teufel scheren, doch er konnte noch nie andere Menschen bewusst verletzen. Immer schon hatte er sich zurück genommen und Anfeindungen in sich hinein gefressen. Doch die ältere Dame in ihrem schwarzen Mantel wollte ihm sicher nichts Böses; ihre einfühlsame Stimme drang allmählich bis in sein Inneres vor und erreichte, dass seine ablehnende Haltung sich ein wenig lockerte. Kaum hörbar flüsterte er vor ich hin:
"Es hat keinen Sinn."
"Was hat keinen Sinn?"
"Alles, das Leben, die Welt..."
"Ihr Leben oder unser Leben?"
Verdammt, was ging hier vor? Hatte sie eben "unser" gesagt? Mit dem Ärger über dieses Wort kehrte ein wenig Energie in den entkräfteten Körper zurück:
"Bitte lassen sie mich in Ruhe! Sie machen alles noch komplizierter."
"Es ist immer kompliziert, sein Leben zu beenden, glauben Sie mir!"
Erst jetzt wurde ihm klar, dass er sich seit einer gefühlten Ewigkeit festkrallte, als könne er nicht von etwas lassen, das er längst abgeschlossen glaubte; sein ohnehin geringer Widerstand schwand allmählich und er begann ihre behutsamen Worte in sich aufzunehmen:
"Möchten Sie nicht noch einmal an Ihre Familie denken, vielleicht an Ihre Kinder oder Enkel?"
"Schon Hunderte Mal habe ich mit diesen Gedanken gerungen, mir so viel Schönes vorzustellen versucht. Aber es hat keinen Sinn; Der Schmerz frisst alles auf."
Ohne es bewusst zu erkennen, ließ er sich in ein Gespräch ziehen, in dessen Verlauf die Fremde noch mehr aufzählte, für das es sich zu leben lohne. Doch nichts davon konnte ihn wirklich überzeugen. Manchmal schüttelte er ein wenig den Kopf und flüsterte mit erstickter Stimme, es hätte eben keinen Sinn weiterzuleben. Sie hatte inzwischen ganz vorsichtig eine Hand auf seine Finger gelegt, ohne dass er sich dagegen wehrte. Als sie erkannte, dass alle ihre Bemühungen umsonst waren, fasste sie mit Nachdruck seine beiden Hände,während es tief aus ihrem Inneren herausbrach:
"Leben Sie, bitte!" Und nach einer kleinen Pause: "Tun Sie es für mich! Ich bin doch so hilflos!"
Zum ersten Mal blickte er in ihr Gesicht und bemerkte die Tränen in ihren geröteten Augen. Soviel Anteilnahme, aber auch so viel hilflose Verzweiflung waren ihm noch nie begegnet. Unbewusst drängte sich sein Körper fest an das Geländer und an ihren Körper, der sich ihm zuneigte. Sie schlang ihre Arme um ihn und krallte ihre Finger in seinen Mantel, als sie spürte, wie den zitternden Leib jenseits der Brüstung die Kräfte verließen und er langsam in sich zusammenzusacken drohte. Sollte alles vergeblich gewesen sein, jetzt, da er anscheinend bereit war, sich helfen zu lassen? In ihrer Verzweiflung schrie sie um Hilfe, doch kein Fußgänger war in der Nähe; und die wenigen Autofahrer achteten nicht auf die dunklen Gestalten am Rand des Gehwegs. Doch ihr Schrei mobilisierte auch in ihrem Gegenüber anscheinend letzte Kräfte. Sein Oberkörper drückte sich an sie, folgte ihrem verzweifelten Ziehen und rollte tatsächlich über das Geländer. Die Fremde verlor den Halt und wankte zu Boden, ließ ihn aber nicht los, so dass beide auf den Gehweg sanken.
Niemand nahm Notiz von den beiden erschöpft nach Luft ringenden alten Menschen. Es dauerte sicher einige Minuten, bis sie sich langsam voneinander lösten und sich aufsetzten. Nun lehnten sie nebeneinander an den Eisenstreben und versuchten sich in der Situation zurechtzufinden. Die Frau fasste sich als erste, holte ihre Tasche, die zu Boden gefallen war, und zog eine Thermosflasche heraus. Sie schraubte den Becher ab, goss heißen Tee ein und bot ihn dem neben ihr Kauernden an. Mit jedem Schluck beruhigten sich die vor Kälte zitternden Hände ein wenig. Langsam begann er zu begreifen, dass er sich auf der sicheren Seite des Geländers befand und dass er tatsächlich noch lebte; aber er wusste mit diesem Gedanken nichts anzufangen. So überließ er sich der Fürsorge seiner Begleiterin, die eine angebrochene Tafel Schokolade aus ihrer Tasche kramte, einige Stücke abbrach, ihm davon anbot und auch selbst zugriff. In dem Maß, wie die kalte Schokolade allmählich in seinem Mund schmolz und die herbe Süße ihm ein wenig Kraft einflößte, meldete sich zaghaft das Leben in ihm zurück.
Sollte er der Fremden dankbar sein, die mit ihrem Verhalten sein Leben gerettet hatte? Doch sie erwartete in dieser Situation keine Äußerung von ihm. Sie konzentrierte sich darauf, dass sie beide endlich von dem nassen Gehsteig aufstanden und möglichst schnell einen wärmenden Raum erreichten. Mit dem Hinweis, in einer Gaststätte ganz in der Nähe gebe es eine kräftige Suppe, half sie ihm auf die Beine. Sich gegenseitig stützend näherten sie sich dem Ende der Brücke und tasteten sich dann Stufe für Stufe die Wendeltreppe zur Uferpromenade hinab. Als er wieder festen Boden unter sich spürte, fragte er unvermittelt, wieso sie plötzlich in seiner Nähe gewesen sei.
"Ich bin fast jeden Abend auf der Brücke, seit mein Mann..." Hier versagte ihre Stimme, aber sie drückte sich noch fester an ihren Begleiter, während sie sich langsam den Lichtergirlanden der Hafenkneipe näherten.