Bibi hustet nicht
„Denk dran, dass du Bibi noch den Saft gibst, bevor sie schlafen geht.“
Schon wieder diese Hektik, Bibi hinten, Bibi vorne. Ich habe Druck, diesen Knoten im Magen, den ich nur zu gut kenne.
„Ja, ja, mach ich.“
Ich weiß, der Stickhusten, ich weiß, dass ich mit dem Kind alleine bin, bis Lilo wiederkommt, ich weiß, dass Lilo nur in der Kneipe jobben muss, weil ich meine Stelle verloren habe. Ich weiß, dass Lilo sagt, dass ich meine Stelle nicht verloren, sondern versoffen habe. Nicht zum erstenmal, und wahrscheinlich auch nicht zum letzten Mal, ich weiß, ich weiß, ich weiß.
„Bitte bleib wach, bis ich zurück bin, du weißt, was du machen musst, wenn Bibi einen Hustenanfall bekommt.“
Immer diese Rumrennerei, immer diese Nörgelei. Ich weiß Bescheid. Viel mehr Sorgen macht mir der Druck. Er wird immer stärker. Ich spüre, wie sich dieses Gefühl in mir breit macht.
Kämpfen, ich muss kämpfen. Sie darf es nicht merken, bitte lieber Gott hilf mir, ich will es nicht, bitte bitte lieber Gott.
„Ja, ja, ich weiß Bescheid.“
„Gib Mami ein Küsschen, mein Kleines. Mami muss jetzt zur Arbeit. Papi ist bei dir. Gleich gehst du schön ins Bettchen und träumst was Schönes.“
„Lilo, ich glaube.....“
„Ich hab jetzt keine Zeit mehr, Schatz. Pass auf die Kleine auf, ich muss los. So Bibi, ab ins Bettchen. Papi gibt dir noch deinen Saft, und dann wird schön heia gemacht, ja? Mami hat dich lieb.“
„Tschüs Schatz, ich muss.“
„Tschüs.“
Etwas Ruhe. Jetzt der Saft, dann Fernsehen. Nein, kein Fernsehen.
Ablenken, ich muss mich ablenken, irgendwas tun, ein Buch lesen. Die Ameisen im Bauch, dieses Kribbeln macht mich wahnsinnig.
Aus dem Fenster starren.
Einsamkeit.
Ich bin allein, fühle mich verloren, nicht wahrgenommen.
Angst, ich habe Angst.
Schaffe ich es?
Oh lieber Gott, bitte hilf mir.
Im Magen wächst ein Eisklumpen. Er schickt seine kalten Pseudopodien durch den ganzen Bauch, bis in das Herz, es tut so weh. Die Kälte kriecht in die Arme, in die Beine, windet sich durch alle Blutgefäße bis hinauf ins Gehirn. Sie ist überall, diese schreckliche Kälte.
Mir ist schlecht.
Ich habe Angst.
Es geht nicht.
Ich muss.
Nur ein kleines Glas.
Nur die Reserve.
Nur ein kleines Glas.
Sie wird es nicht merken.
Bibi schläft! -- Schläft Bibi? -- Hustet Bibi?
Nur ein ganz kleines Glas.
Lieber Gott mach dieses Gefühl weg, lieber Gott, du weißt doch, wie es weitergeht, lieber Gott, warum lässt du mich allein?
Ich brauche es nicht!!
Was macht Bibi? -- Bibi schläft! -- Bibi hustet nicht.
Gestern Nacht ist sie auch nur einmal wachgeworden. Es ist kein Problem. In meiner jetzigen Verfassung kann ich ihr auch nicht helfen. Ich muss fit sein, wenn was ist, wenn sie hustet.
So bin ich keine Hilfe. Ich brauche einen kleinen Schluck, um fit zu sein. Nur ein kleiner, nur einer.
Aber wenn es dann weitergeht?
Aber es geht nicht weiter!!
Ich habe das heute unter Kontrolle. Ich darf ja auch gar nicht, weil, wenn Bibi hustet, muss ich ja fit sein. Das wird mir helfen. Das wird mir helfen, wirklich nur einen kleinen Schluck zu nehmen. Das hilft, der kleine Schluck wird mir schon helfen, und außerdem bin ich dann fit, wenn ich helfen muss, wenn Bibi hustet. Bei nur einem kleinen Schluck kann nichts passieren.
Dieses Gefühl macht mich... lieber Gott, mach dieses entsetzliche Gefühl weg. Ich kann das nicht ertragen, das weißt du, bitte, bitte hilf mir. Ich kann das nicht ertragen, ich werde schwach, ich habe keine Kraft mehr. Alles wird ganz schwer. Das Atmen wird schwer, ich muss immer tief Luft holen, um zu prüfen, ob ich noch atmen kann. Alles wird entsetzlich schwer, der ganze Körper, die Gedanken, vor allem die Gedanken. Die Gedanken wiegen Tonnen, sie drücken mich zu Boden. Du weißt, dass ich mit einem kleinen Schluck die Gedanken zum Schweben bringe. Luft strömt durch jede meiner Zellen und ich fühle mich leicht und gut, so gut, so unwahrscheinlich gut.
Bibi hustet nicht! -- Bibi wird schlafen! -- Bibi wird nichts merken!
Ich bin allein und habe Angst.
Nur ein ganz kleiner.
Ganz wenig.
Es wird mir sofort besser gehen, und dann ist Schluss, dann bin ich fit, dann bin ich auch wieder klar und kann aufhören. Dann kann ich auch helfen, falls Bibi hustet, so wie ich jetzt drauf bin, kann ich nichts tun. So wie jetzt kann ich das nicht, nicht in dem Zustand.
Der Kleine wird helfen.
Lilo wird nichts merken, Lilo wird stolz auf mich sein. Ich will Lilo nicht enttäuschen. Schon allein deshalb nur einen ganz kleinen aus der Reserve.
Ich weiß auch gar nicht, warum es alle so entsetzlich finden.
Alle saufen!
Wenn ich nur einen oder zwei Kleine trinke, kann das nicht so schlimm sein.
Ist auch nicht so schlimm!
Ich tue es ja nicht, weil ich mich zuschütten will, sondern weil ich helfen möchte. Ich will das Kind ja nicht alleine lassen, wenn es einen Hustenanfall bekommt. Ich tue es ja nur für die Kleine. Wenn sich die Gedanken klären, geht es mir besser und ich bin fit. Ich sehe auch nichts Schlimmes, ich habe mich total in der Gewalt.
Wenn das Schlimmste vorbei ist, wird es schnell besser. Dann sind es auch nur noch kurze Attacken. Wenn die Angst geht und die Gedanken leicht werden, brauche ich nicht mehr so viel. Dann geht es gut und ich bin gut drauf.
Ich sehe die Gedanken schweben, ich kann sie sehen. Sie schweben unter der Decke, - Korktapete. Wahnsinn, diese Korktapete. Ich wollte sie gar nicht, diese Korktapete. Lilo wollte sie, diese Korktapete, diese Korktapete, diese Korktapete.
Schönes Wort: Korktapete. Man kann es ganz langsam sagen, dann klingt es am besten. Wenn ich ganz langsam Korktapete sage, dann kann ich sehen, wie das Wort aus meinem Mund schlüpft und langsam zur Decke hochsteigt, langsam und majestätisch, wie ein Rauchring. Meine Mutter hat früher immer Rauchringe mit ihrer Zigarette gemacht. Schön, diese Rauchringe. Sie sahen ein bisschen so aus wie das Wort Korktapete, was jetzt zur Decke hochschwebt. Vielleicht geht das auch mit anderen Worten. Zum Beispiel mit, na komm schon, jetzt fällt mir kein Wort ein, zum Beispiel mit, na mit `Wort`. Das Wort `Wort` kann man schon wieder nicht so gut sehen. Bibi kann man wieder gut sehen. Wenn ich ganz langsam Biiiiibiiiii sage, schwebt das Wort ganz sanft nach oben. Ganz sanft und langsam.
Das ist so eine Sache mit den Worten. Es sind auch die Gedanken und die Gefühle. Man kann sie auch manchmal sehen. So wie vorhin. Die Gedanken kamen an und wollten in mein Zimmer. Sie standen vor der Tür, sie haben geklopft und gerufen. Dann kam die Angst und hat gesagt, ich soll die Gedanken vor der Tür lassen.
`Lass sie nicht rein`, sagt die Angst, und ich stemme mich gegen die Tür. Die Gedanken machen ein höllisches Spektakel und drücken und treten gegen die Tür. Die Tür ist in meinem Kopf und sie drückt, und die Angst wird ganz groß und hilft mir, die Tür zu versperren, so dass die Gedanken draußen bleiben müssen. Und dann ein kleiner Schluck, und schwups sind sie alle weg. Die Gedanken haben keine Kraft mehr. Sie machen keinen Lärm mehr, und die Angst wird ganz klein, weil sie nicht mehr gebraucht wird, und schwups, geht es mir gut. Wie mit dem Wort Korktapete, das ist auch gut.
Es ist feucht. Der Eisklumpen in meinem Magen ist getaut und ausgelaufen. Alles über meine Hose gelaufen. Alles über die Hose. Ist ja nur geschmolzenes Eis, ganz warm, aber nicht schlimm, kann ich gleich wegmachen, gleich wegmachen, wegmachen, Eiswarmwasserwegmacheneis.
Ganze Menge Worte schon unter der Decke. Schweben alle rum und gucken auf mich runter, alle Worte auf einmal. Weiß gar nicht, dass ich soviel geredet habe, sind bestimmt auch Gedanken dabei. Will die Gedanken lieber nicht sehen, ist lustig, will Gedanken nicht sehen. Ist lustig, glaube ich, weil man Gedanken nicht sehen kann, ich glaube, Worte auch nicht, muss Lilo fragen. Ob sie lacht?
Lilo schwebt auch nach oben, ist schön. Ich sage `Liiiiloooo`, sieht schön aus. Sind die zwei schönsten Worte unter der Decke, Korkdeckentapete.
Sie leuchten, die Worte. Wollen was sagen, wollen zurück. Wollen zurück in meinen Kopf. Hab ich alles nur für euch getan, ihr zwei schönen Worte. Weißt du, du `Wort`, du bist nett, du willst wieder zu mir zurück, du magst mich wohl. Sonst mag mich kaum einer, nur Liiiiloooo und Biiiibiiii. Schöne Worte.
Husten, ich muss husten. Als ich klein war, hatte ich eine schlimme Krankheit mit Husten, hat Lilo mir heute Abend gesagt. Ich soll aufpassen, hat sie gesagt, dass ich die schlimme Krankheit mit Husten heute nacht nicht wieder kriege. Wenn ich die schlimme Krankheit mit Husten wieder kriege, muss Biiiibiiii vielleicht sterben, hat Liiiiloooo gesagt. Das habe ich nicht verstanden. Warum muss Bibi sterben, wenn ich eine schlimme Krankheit mit Husten habe? Jetzt sieht die Deckenkorktapetendecke nicht mehr so schön aus, weil überall neben Biiiibiiii und Liiiiloooo der blöde Husten steht. Überall steht `Husten`. Man kann das Wort fast hören. Für jedes `Husten` gibt es ein Geräusch. Komisch. Für Korkdeckentapete gibt es kein Geräusch. Nur das Wort wird immer länger und schwerer. Ich muss die Hustengeräusche verscheuchen, indem ich Liiiiloooo und Biiiibiiii sage. Das muss ich tun, sonst stirbt Bibi vielleicht, weil soviel Husten unter der Korkdeckentapetendecke schwebt. Sieht auch böse aus, der Husten, aber wenigstens ist er jetzt still. Ich muss aufstehen und das geschmolzene Eiswasser aus meinem Magen von der Hose und vom Boden wischen. Es ist nicht mehr so warm wie vorhin, sieht aber komisch aus, gelb. Gelbes Eis? Mageneis ist vielleicht gelb. Muss Lilo fragen, ob Mageneis gelb ist und beim Schmelzen auf die Hose laufen kann. Überall Flaschen. Muss Lilo sagen, dass sie aufräumen muss. So geht das nicht. Wenn Bibi Flaschen sieht, muss sie husten und stirbt vielleicht, weil ich früher schlimme Hustenkrankheiten unter der Korkdeckentapete hatte und dann mein gelbes Mageneiswasser nicht mehr trinken konnte. Dann haben die Gedanken die Angst gedrückt und es war alles so leicht, viel leichter als heute, obwohl es mir gut geht heute.
Lilo ist da.
Ganz viele Worte kommen aus Lilo.
Sie steht vor mir. Warum schüttelt sie mich?
Ganz viele Worte, nein, auch ganz viele Leute sind mit Lilo hier. Was wollen die alle hier? Mir geht es doch gut, Lilo, mir geht es doch so gut, nur ein bisschen Mageneiswasser ist ausgelaufen.
Komisch, ich sage was, aber ich höre nichts. Lilo sagt was, und ich verstehe sie nicht. Alle sagen was, und ich kann immer noch nichts verstehen. Alle kümmern sich um mich, alle fassen mich an, alle sind lieb, alle schütteln mich, ich mag das.
Bei Lilo sind Wassertropfen im Gesicht. Ich habe das Wort für `Wassertropfen im Gesicht` vergessen, obwohl es bestimmt einfacher war als `Wassertropfen im Gesicht`, das könnte ich schwören.
Ich werde Lilo die Worte an der Korkdecke zeigen, sie wird sich freuen, das Liiiiloooo und Biiiibiiii so schön aussehen, aber die vielen Leute haben die Worte verscheucht, wie wir Kinder früher die Rauchringe meiner Mutter weggeblasen haben.
Die Leute tragen Bibi herein. Sie schläft doch. Ich muss den Leuten sagen, dass das Kind schläft, und dass, wenn es wach wird und ich husten muss, das Kind vielleicht stirbt.
Lilo hat den Mund ganz weit auf, aber ich höre immer noch nichts. Die Wassertropfen in ihrem Gesicht machen mich etwas traurig, und ich weiß gar nicht warum.
Aber Bibi schläft ganz fest. Bibi wird nicht wach und braucht nicht husten.
Bibi schläft ganz fest.
Bibi wird niemals mehr husten müssen. Das Kind hat großes Glück.
Bestimmt!
„Denk dran, dass du Bibi noch den Saft gibst, bevor sie schlafen geht.“
Schon wieder diese Hektik, Bibi hinten, Bibi vorne. Ich habe Druck, diesen Knoten im Magen, den ich nur zu gut kenne.
„Ja, ja, mach ich.“
Ich weiß, der Stickhusten, ich weiß, dass ich mit dem Kind alleine bin, bis Lilo wiederkommt, ich weiß, dass Lilo nur in der Kneipe jobben muss, weil ich meine Stelle verloren habe. Ich weiß, dass Lilo sagt, dass ich meine Stelle nicht verloren, sondern versoffen habe. Nicht zum erstenmal, und wahrscheinlich auch nicht zum letzten Mal, ich weiß, ich weiß, ich weiß.
„Bitte bleib wach, bis ich zurück bin, du weißt, was du machen musst, wenn Bibi einen Hustenanfall bekommt.“
Immer diese Rumrennerei, immer diese Nörgelei. Ich weiß Bescheid. Viel mehr Sorgen macht mir der Druck. Er wird immer stärker. Ich spüre, wie sich dieses Gefühl in mir breit macht.
Kämpfen, ich muss kämpfen. Sie darf es nicht merken, bitte lieber Gott hilf mir, ich will es nicht, bitte bitte lieber Gott.
„Ja, ja, ich weiß Bescheid.“
„Gib Mami ein Küsschen, mein Kleines. Mami muss jetzt zur Arbeit. Papi ist bei dir. Gleich gehst du schön ins Bettchen und träumst was Schönes.“
„Lilo, ich glaube.....“
„Ich hab jetzt keine Zeit mehr, Schatz. Pass auf die Kleine auf, ich muss los. So Bibi, ab ins Bettchen. Papi gibt dir noch deinen Saft, und dann wird schön heia gemacht, ja? Mami hat dich lieb.“
„Tschüs Schatz, ich muss.“
„Tschüs.“
Etwas Ruhe. Jetzt der Saft, dann Fernsehen. Nein, kein Fernsehen.
Ablenken, ich muss mich ablenken, irgendwas tun, ein Buch lesen. Die Ameisen im Bauch, dieses Kribbeln macht mich wahnsinnig.
Aus dem Fenster starren.
Einsamkeit.
Ich bin allein, fühle mich verloren, nicht wahrgenommen.
Angst, ich habe Angst.
Schaffe ich es?
Oh lieber Gott, bitte hilf mir.
Im Magen wächst ein Eisklumpen. Er schickt seine kalten Pseudopodien durch den ganzen Bauch, bis in das Herz, es tut so weh. Die Kälte kriecht in die Arme, in die Beine, windet sich durch alle Blutgefäße bis hinauf ins Gehirn. Sie ist überall, diese schreckliche Kälte.
Mir ist schlecht.
Ich habe Angst.
Es geht nicht.
Ich muss.
Nur ein kleines Glas.
Nur die Reserve.
Nur ein kleines Glas.
Sie wird es nicht merken.
Bibi schläft! -- Schläft Bibi? -- Hustet Bibi?
Nur ein ganz kleines Glas.
Lieber Gott mach dieses Gefühl weg, lieber Gott, du weißt doch, wie es weitergeht, lieber Gott, warum lässt du mich allein?
Ich brauche es nicht!!
Was macht Bibi? -- Bibi schläft! -- Bibi hustet nicht.
Gestern Nacht ist sie auch nur einmal wachgeworden. Es ist kein Problem. In meiner jetzigen Verfassung kann ich ihr auch nicht helfen. Ich muss fit sein, wenn was ist, wenn sie hustet.
So bin ich keine Hilfe. Ich brauche einen kleinen Schluck, um fit zu sein. Nur ein kleiner, nur einer.
Aber wenn es dann weitergeht?
Aber es geht nicht weiter!!
Ich habe das heute unter Kontrolle. Ich darf ja auch gar nicht, weil, wenn Bibi hustet, muss ich ja fit sein. Das wird mir helfen. Das wird mir helfen, wirklich nur einen kleinen Schluck zu nehmen. Das hilft, der kleine Schluck wird mir schon helfen, und außerdem bin ich dann fit, wenn ich helfen muss, wenn Bibi hustet. Bei nur einem kleinen Schluck kann nichts passieren.
Dieses Gefühl macht mich... lieber Gott, mach dieses entsetzliche Gefühl weg. Ich kann das nicht ertragen, das weißt du, bitte, bitte hilf mir. Ich kann das nicht ertragen, ich werde schwach, ich habe keine Kraft mehr. Alles wird ganz schwer. Das Atmen wird schwer, ich muss immer tief Luft holen, um zu prüfen, ob ich noch atmen kann. Alles wird entsetzlich schwer, der ganze Körper, die Gedanken, vor allem die Gedanken. Die Gedanken wiegen Tonnen, sie drücken mich zu Boden. Du weißt, dass ich mit einem kleinen Schluck die Gedanken zum Schweben bringe. Luft strömt durch jede meiner Zellen und ich fühle mich leicht und gut, so gut, so unwahrscheinlich gut.
Bibi hustet nicht! -- Bibi wird schlafen! -- Bibi wird nichts merken!
Ich bin allein und habe Angst.
Nur ein ganz kleiner.
Ganz wenig.
Es wird mir sofort besser gehen, und dann ist Schluss, dann bin ich fit, dann bin ich auch wieder klar und kann aufhören. Dann kann ich auch helfen, falls Bibi hustet, so wie ich jetzt drauf bin, kann ich nichts tun. So wie jetzt kann ich das nicht, nicht in dem Zustand.
Der Kleine wird helfen.
Lilo wird nichts merken, Lilo wird stolz auf mich sein. Ich will Lilo nicht enttäuschen. Schon allein deshalb nur einen ganz kleinen aus der Reserve.
Ich weiß auch gar nicht, warum es alle so entsetzlich finden.
Alle saufen!
Wenn ich nur einen oder zwei Kleine trinke, kann das nicht so schlimm sein.
Ist auch nicht so schlimm!
Ich tue es ja nicht, weil ich mich zuschütten will, sondern weil ich helfen möchte. Ich will das Kind ja nicht alleine lassen, wenn es einen Hustenanfall bekommt. Ich tue es ja nur für die Kleine. Wenn sich die Gedanken klären, geht es mir besser und ich bin fit. Ich sehe auch nichts Schlimmes, ich habe mich total in der Gewalt.
Wenn das Schlimmste vorbei ist, wird es schnell besser. Dann sind es auch nur noch kurze Attacken. Wenn die Angst geht und die Gedanken leicht werden, brauche ich nicht mehr so viel. Dann geht es gut und ich bin gut drauf.
Ich sehe die Gedanken schweben, ich kann sie sehen. Sie schweben unter der Decke, - Korktapete. Wahnsinn, diese Korktapete. Ich wollte sie gar nicht, diese Korktapete. Lilo wollte sie, diese Korktapete, diese Korktapete, diese Korktapete.
Schönes Wort: Korktapete. Man kann es ganz langsam sagen, dann klingt es am besten. Wenn ich ganz langsam Korktapete sage, dann kann ich sehen, wie das Wort aus meinem Mund schlüpft und langsam zur Decke hochsteigt, langsam und majestätisch, wie ein Rauchring. Meine Mutter hat früher immer Rauchringe mit ihrer Zigarette gemacht. Schön, diese Rauchringe. Sie sahen ein bisschen so aus wie das Wort Korktapete, was jetzt zur Decke hochschwebt. Vielleicht geht das auch mit anderen Worten. Zum Beispiel mit, na komm schon, jetzt fällt mir kein Wort ein, zum Beispiel mit, na mit `Wort`. Das Wort `Wort` kann man schon wieder nicht so gut sehen. Bibi kann man wieder gut sehen. Wenn ich ganz langsam Biiiiibiiiii sage, schwebt das Wort ganz sanft nach oben. Ganz sanft und langsam.
Das ist so eine Sache mit den Worten. Es sind auch die Gedanken und die Gefühle. Man kann sie auch manchmal sehen. So wie vorhin. Die Gedanken kamen an und wollten in mein Zimmer. Sie standen vor der Tür, sie haben geklopft und gerufen. Dann kam die Angst und hat gesagt, ich soll die Gedanken vor der Tür lassen.
`Lass sie nicht rein`, sagt die Angst, und ich stemme mich gegen die Tür. Die Gedanken machen ein höllisches Spektakel und drücken und treten gegen die Tür. Die Tür ist in meinem Kopf und sie drückt, und die Angst wird ganz groß und hilft mir, die Tür zu versperren, so dass die Gedanken draußen bleiben müssen. Und dann ein kleiner Schluck, und schwups sind sie alle weg. Die Gedanken haben keine Kraft mehr. Sie machen keinen Lärm mehr, und die Angst wird ganz klein, weil sie nicht mehr gebraucht wird, und schwups, geht es mir gut. Wie mit dem Wort Korktapete, das ist auch gut.
Es ist feucht. Der Eisklumpen in meinem Magen ist getaut und ausgelaufen. Alles über meine Hose gelaufen. Alles über die Hose. Ist ja nur geschmolzenes Eis, ganz warm, aber nicht schlimm, kann ich gleich wegmachen, gleich wegmachen, wegmachen, Eiswarmwasserwegmacheneis.
Ganze Menge Worte schon unter der Decke. Schweben alle rum und gucken auf mich runter, alle Worte auf einmal. Weiß gar nicht, dass ich soviel geredet habe, sind bestimmt auch Gedanken dabei. Will die Gedanken lieber nicht sehen, ist lustig, will Gedanken nicht sehen. Ist lustig, glaube ich, weil man Gedanken nicht sehen kann, ich glaube, Worte auch nicht, muss Lilo fragen. Ob sie lacht?
Lilo schwebt auch nach oben, ist schön. Ich sage `Liiiiloooo`, sieht schön aus. Sind die zwei schönsten Worte unter der Decke, Korkdeckentapete.
Sie leuchten, die Worte. Wollen was sagen, wollen zurück. Wollen zurück in meinen Kopf. Hab ich alles nur für euch getan, ihr zwei schönen Worte. Weißt du, du `Wort`, du bist nett, du willst wieder zu mir zurück, du magst mich wohl. Sonst mag mich kaum einer, nur Liiiiloooo und Biiiibiiii. Schöne Worte.
Husten, ich muss husten. Als ich klein war, hatte ich eine schlimme Krankheit mit Husten, hat Lilo mir heute Abend gesagt. Ich soll aufpassen, hat sie gesagt, dass ich die schlimme Krankheit mit Husten heute nacht nicht wieder kriege. Wenn ich die schlimme Krankheit mit Husten wieder kriege, muss Biiiibiiii vielleicht sterben, hat Liiiiloooo gesagt. Das habe ich nicht verstanden. Warum muss Bibi sterben, wenn ich eine schlimme Krankheit mit Husten habe? Jetzt sieht die Deckenkorktapetendecke nicht mehr so schön aus, weil überall neben Biiiibiiii und Liiiiloooo der blöde Husten steht. Überall steht `Husten`. Man kann das Wort fast hören. Für jedes `Husten` gibt es ein Geräusch. Komisch. Für Korkdeckentapete gibt es kein Geräusch. Nur das Wort wird immer länger und schwerer. Ich muss die Hustengeräusche verscheuchen, indem ich Liiiiloooo und Biiiibiiii sage. Das muss ich tun, sonst stirbt Bibi vielleicht, weil soviel Husten unter der Korkdeckentapetendecke schwebt. Sieht auch böse aus, der Husten, aber wenigstens ist er jetzt still. Ich muss aufstehen und das geschmolzene Eiswasser aus meinem Magen von der Hose und vom Boden wischen. Es ist nicht mehr so warm wie vorhin, sieht aber komisch aus, gelb. Gelbes Eis? Mageneis ist vielleicht gelb. Muss Lilo fragen, ob Mageneis gelb ist und beim Schmelzen auf die Hose laufen kann. Überall Flaschen. Muss Lilo sagen, dass sie aufräumen muss. So geht das nicht. Wenn Bibi Flaschen sieht, muss sie husten und stirbt vielleicht, weil ich früher schlimme Hustenkrankheiten unter der Korkdeckentapete hatte und dann mein gelbes Mageneiswasser nicht mehr trinken konnte. Dann haben die Gedanken die Angst gedrückt und es war alles so leicht, viel leichter als heute, obwohl es mir gut geht heute.
Lilo ist da.
Ganz viele Worte kommen aus Lilo.
Sie steht vor mir. Warum schüttelt sie mich?
Ganz viele Worte, nein, auch ganz viele Leute sind mit Lilo hier. Was wollen die alle hier? Mir geht es doch gut, Lilo, mir geht es doch so gut, nur ein bisschen Mageneiswasser ist ausgelaufen.
Komisch, ich sage was, aber ich höre nichts. Lilo sagt was, und ich verstehe sie nicht. Alle sagen was, und ich kann immer noch nichts verstehen. Alle kümmern sich um mich, alle fassen mich an, alle sind lieb, alle schütteln mich, ich mag das.
Bei Lilo sind Wassertropfen im Gesicht. Ich habe das Wort für `Wassertropfen im Gesicht` vergessen, obwohl es bestimmt einfacher war als `Wassertropfen im Gesicht`, das könnte ich schwören.
Ich werde Lilo die Worte an der Korkdecke zeigen, sie wird sich freuen, das Liiiiloooo und Biiiibiiii so schön aussehen, aber die vielen Leute haben die Worte verscheucht, wie wir Kinder früher die Rauchringe meiner Mutter weggeblasen haben.
Die Leute tragen Bibi herein. Sie schläft doch. Ich muss den Leuten sagen, dass das Kind schläft, und dass, wenn es wach wird und ich husten muss, das Kind vielleicht stirbt.
Lilo hat den Mund ganz weit auf, aber ich höre immer noch nichts. Die Wassertropfen in ihrem Gesicht machen mich etwas traurig, und ich weiß gar nicht warum.
Aber Bibi schläft ganz fest. Bibi wird nicht wach und braucht nicht husten.
Bibi schläft ganz fest.
Bibi wird niemals mehr husten müssen. Das Kind hat großes Glück.
Bestimmt!