Blick zurück
Wir sind zum Jahreswechsel in die Stadt meiner Kindheit gefahren. Erstmals nach 53 Jahren habe ich wieder einige Tage in Stadtilm verbracht.
Wir gehen bedächtig durch alte Straßen, über den Markt, der auch heute noch weiträumig ist.
Majestätisch grüßen die Türme der Stadtkirche herüber – ein Postkartenmotiv, das meine Kinderaugen nie wahrgenommen haben.
Ich bin erstaunt, wie mühelos ich in die alte Atmosphäre eintauche. Wo der Gasthof zum Bären stand, unserm Haus gegenüber, gähnt heute Parkplatzleere, doch ich spüre noch die Sonnenwärme der Steinstufen dort, die wir im Sommer genossen haben. Ein anderer Lieblingsplatz war die breite, steinerne Brüstung der Kellerbrücke. Dort haben wir gehockt und die Militärkonvois der Russen bestaunt oder auch fremde Zivilautos gezählt. Doch fast alle hatten sie das langweilige „ST“ - „Sowjetzone Thüringen“ im Nummernschild.
Ich kenne hier niemand mehr, doch die Häuser geben sich mir zu erkennen. Gewiss, dort ist eine Treppe angebaut, hier eine Ladentür zugemauert, das Farbkleid hat gewechselt. Aber sie sind da, die allermeisten. Erstaunlich, wie viel sich in einem halben Jahrhundert NICHT geändert hat.
Die Menschen gehen ein, gehen aus, aber ihre Gehäuse bleiben - und das Zueinander der kleinen und größeren Gebäude in den gebogenen Straßen. Da wird reichlich getratscht von Haus zu Haus; über die feschen Farben, die manche zur Schau tragen, über blinde Fenster und entblößtes Fachwerk, über den Schnee, der damals wie heute die Straßen verstopft, über die Autos, die alles noch enger machen.
Merkwürdig, da haben wir in den letzten beiden Jahren, in unserem Gegenwartsleben, ein Haus gebaut, erleben dieses Haus voll und ganz als unser Werk, und erst hier, am Kindheitsort, wird mir wirklich bewusst, dass wir etwas schaffen, was uns Jahrzehnte überdauern wird, sogar Jahrhunderte überleben könnte, wenn es geschätzt würde und von der Abrisslust selbstverliebter Bauherrn verschont bliebe.
Welche Würde gestehen wir eigentlich dem Werk unserer Hände zu? Welchen Sinn bilden wir aus, wenn wir diese Mauer setzen und jenen Balken kerben? Erledigen das für uns die Maschinen? Doch wie sollen sie dem Menschen ein Heim und dem Haus einen Hüter schaffen?
An einem stolzen, vierstöckigen Fachwerkhaus im nahe gelegenen Arnstadt entdeckte ich die Jahreszahl 1633: Ein Zeuge aus dem dreißigjährigen Krieg. Welche Botschaft überbringt er aus schlimmer Zeit in unsere wilden Jahre?
Die Häuser reden auch mit den Bäumen und Sträuchern. Als Gruppe, die den Hohlweg säumt, als Laubdach, unter dem sich der Fluss schlängelt, als Wald überm Buchberg, scheinen sie unberührt von der Zeit, wie Berg und Tal. Doch als Einzelne haben sie Schicksale wie wir Menschen.
Die jungen Straßenpappeln, an denen vorbei ich täglich zweimal unsere Gänse treiben musste, stehen alt und mächtig, als wollten sie behaupten, dass ihnen auch weitere 50 Jahre Autoqualm nichts anhaben können. Meine Traum-Kirschbäume dagegen sind verschwunden, bis auf das Jammerbild von ein, zwei Kirschruinen, saftlos und zerrissen.
Und erst die Kastanien hinter unserem Haus, in breiter Allee entlang der Stadtmauer. Wenige künden noch von vergangener Pracht, die anderen mussten Stürmen und Krankheiten und den Fahrspuren und Stellplätzen der Busse weichen.
Eine eigenartige Verquickung von Enge und Weite zeichnet dieses Städtchen aus. Wo es sein muss, stehen alte Gemäuer trotzig im Weg, doch an vielen anderen Stellen wird der Durchgangsverkehr, wenn schon nicht elegant, so doch zügig geleitet. Und hat er die einst ruhige Gartenstrasse aufgefressen, so musste er im Gegenzug die überforderte Erfurter Straße frei geben, die auf einmal schüchtern Schönheit zeigt.
Dass die Bahn trotzig an einem schönen Kleinstadtbahnhof festgehalten hätte, kann man ihr wahrlich nicht nachsagen. Wo einst eine komplette kleine Bahnhofslandschaft dampfte, zischte und klirrte, steht heute eine einsame Glaswand auf freiem Feld, der einzig ein sturmerprobter Fahrkartenautomat Gesellschaft leistet. Wozu braucht es einen Güterbahnhof (die Rampen meines Kohlenklaus von 1948 sind noch zu finden), wenn die Betriebe der örtlichen Industrie einer nach dem anderen ihre Tore geschlossen haben? Ihre solide gefügten, backsteinroten Werkbauten sind tot, verdorben, geplündert, erwürgt vom „freien Markt“ – auch die Schuhfabrik, in der Onkel Heinemann arbeitete, auch die Saline Oberilm, in der meine Schwester gelernt hat, ja sogar der große Block der Stadtilmer Metallwarenfabrik, vormals Carl Liebmann, umschwärmte Geburtsstätte meiner Modelleisenbahn. Wie sollen die Menschen gut leben, bei so viel Zerstörung nebenan?
Von Kampf und Aufruhr in alter Zeit künden die Burg- und Klosterruinen der Umgebung. Werden die Ruinen in der Stadt nur von heutiger Verwirrung und Fügsamkeit berichten?
Wie dem auch sei, einstweilen rattert noch eine Regionalbahn, kühn designed, im 2-Stunden-Takt über die Gleise, schwingt sich hoch über die Stadt, wenn sie das imposante Viadukt passiert. Das haben beherzte Stadtilmer Bürger und eine Befehlsverweigerung im April 1945 vor dem Ruinenschicksal bewahrt.
Im bombensicheren Keller unter der Mittelschule dachte keiner an Befehlsverweigerung. Hier forschte Hitlers Atomelite.
Noch im Februar 1945 streiten Werner Heisenberg, Carl Friedrich von Weizsäcker, der Reichskoordinator für Kernphysik, Dr. Gerlach und der Stadtilmer Laborchef Diebner im Stadtilmer Keller: Starten wir hier den letzten großen Kernversuch oder doch lieber in Heisenbergs Labor in Schwaben?
Am 8. April ist der Spuk zu Ende. Dr. Diebner und Begleiter und Lastwagenkonvoi werden evakuiert. Wohin führt ihr Weg? Geradewegs in amerikanische Gefangenschaft. Kostbare Elitegefangene.
Von all dem haben wir Kinder natürlich nichts geahnt. Und die Erwachsenen in einer Stadt, in der nichts unbemerkt bleibt? „Bibelforscher“ nannten manche die verschwiegenen Gestalten, die in den Gewölben einer rätselhaften Tätigkeit nachgingen.
In der Schule, unter der sich das Atomlabor befand hat später meine Schwester die mittlere Reife abgelegt. Heute ist die Schule verschwunden. Aber die dicken Mauern des Eingangs zum Atomkeller stehen noch - sehr, sehr schweigsam.
Unser Kurzurlaub geht zu Ende.
Und ich weiß nicht, ob er uns mehr in die Vergangenheit oder mehr in die Gegenwart geführt hat.