Der blinde Kellner hatte die hintere Tür in der Lichtschleuse geschlossen und die vordere geöffnet, doch sie blieb wie erstarrt stehen vor der rabenschwarzen Finsternis. Ihre Augen versuchten, sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, konnten aber nicht die geringste Einzelheit erkennen, so angestrengt sie auch in den lichtlosen Raum vor ihr starrten. Der Kellner fasste ihr Handgelenk, und sie folgte ihm in blindem Vertrauen. Stimmen und Tellergeklapper waren die einzigen Hinweise, dass sie sich in einem Restaurant befand. Was für eine verrückte Idee. Hätte man sich nicht einfach auf einer Parkbank treffen können?
„Tisch zehn, bitte sehr.“
Sie tastete sich an ihren Stuhl und setzte sich behutsam. War ihre Verabredung schon da? Sie war ganz Auge und Ohr, konnte sich aber kein Bild davon machen, ob ihr jemand gegenüber saß. Mit der Hand herüberzutasten schien ihr taktlos.
„Guten Abend“ richtete sie ihre Stimme, etwas zaghaft, ins Nichts.
„Guten Abend, ich hatte schon Sorge, Sie kämen nicht mehr.“
Unwillkürlich versuchte sie, auf ihre Armbanduhr zu schauen. Wie albern. Wo man die Hand nicht vor Augen sehen konnte.
Bin ich zu spät? Ohne Licht gibt es auch keine Zeit.“
„Die Zeit ist die Dimension des Klanges. Die Zeit entzieht sich unseren Blicken, doch wir vermögen sie zu hören.“
Die Stimme ihres Gegenübers gefiel ihr, war sehr wohlklingend, tief, männlich, er klang fast so wie - wie jemand, der ihr partout nicht einfallen wollte. Die Stimme setzte wieder an.
„Mein Großvater hatte nach seiner Pensionierung begonnen, Uhren zu reparieren. Erst nur für die Nachbarschaft, später für die halbe Stadt. Viele davon durfte er behalten, sein Haus war schließlich bis unters Dach mit Uhren vollgestopft. Auch in dem Zimmer, wo ich schlief, wenn ich zu Besuch war, tickte es aus allen Ecken. Um Mitternacht gaben die Standuhren ein großes Konzert. Ich weiß nicht, was ich mehr gefürchtet habe: die Dunkelheit des fremden Zimmers oder die Gesellschaft der Uhren.“
„Ich hatte noch nie Angst vor der Dunkelheit. Aber dieses undurchdringliche Nichts hier nimmt mir die Luft. Es kriecht an die Seele.“
„Dann müssen wir sofort etwas essen. Wir Menschen fühlen uns um so wohler, je mehr Sinne angesprochen sind. Lesen, Musik hören, dabei sich noch am Geruch und Geschmack eines Weines erfreuen. Wir müssen immerzu etwas sehen, etwas hören. Man klagt zwar über den Lärm, aber sind wir ehrlich, fürchten wir nichts mehr als völlige Stille. Nehmen wir beide das Tagesmenü?“
„Eigentlich hätte ich noch gerne die Speisekarte studiert ...“
„Gut.“ Das Wort kam lang und gedehnt und hatte einen Anflug von Heiterkeit. Unbemerkt hatte er den Kellner herangeholt und bestellte für beide. Die Finsternis nahm ihr die Schüchternheit, sie lächelte zu ihrem Visavis, diesem Mann, der
Sätze aus mehr als drei Wörtern zu bilden wusste und eine Stimme hatte wie -
„Nehmen wir einen Weißwein dazu?“
Sie nickte. Ohne ihre hörbare Zustimmung abzuwarten, bestellte er eine Flasche Sancerre. Ein Mann, der nicht lang zögerte. Sie zupfte am Nackenhaar, das sich im Träger ihres schulterfreien Sommerkleides verfangen hatte.
Gleich nach der Vorsuppe brachte der Kellner das Hauptgericht.
„Was essen wir jetzt eigentlich? Ob sie es in der Küche noch appetitlich anrichten? Eigentlich brauchten sie es ja nur so auf den Teller zu klatschen. Das Auge isst hier ja nicht mit.“
„Sie sind wirklich ein unverbesserlicher Augenmensch.“ Seine Stimme klang belustigt und interessiert.
„Durch Messer und Gabel haben wir schon ganz verlernt, unsere Nahrung zu erfühlen. Fragen Sie nicht mich, fragen Sie ihre Fingerspitzen. Patschen Sie nach Herzenslust ins Essen, es sieht sie ja keiner, darum ist es auch nicht unanständig.“
Mit den ihr verbliebenen Sinnen begann sie, das Rätsel auf dem Teller vor ihr zu lösen. Ein glibberiges Etwas, sie schnupperte an den Fingerspitzen, wahrscheinlich Scampi. Danach ertastete sie Kartoffeln und ein in der Mitte zusammengebundenes Bündel schlabberiger Stangen. Sie führte eine zum Mund und biss hinein. Ihre Vermutung bestätigte sich: Spargel.
Neben sich hörte sie ein Plöp, der Ober schenkte ein.
„Zum Wohle.“
Sie suchte mit fettigen Fingern nach ihrem Glas.
„Ich glaube, wir verzichten darauf, mit den Gläsern anzustoßen. Das gestaltet sich hier etwas schwierig. Und es gilt ja als unhöflich, sich zuzuprosten und dabei nicht anzublicken.“
„Außerdem gibt das sieben Jahre schlechten Sex.“
Er ließ ein warmes Lachen hören.
„Ach, in der Finsternis, da drückt die Liebesgöttin schon mal ein Auge zu. Mögen Sie den Sancerre? Kennen Sie das Loiretal?“
„Ich liebe die Loire. Frankreich und Deutschland, das ist wie Licht und Schatten. Die Sprache, das Essen, die Farbe der Landschaft!“
Und die Franzosen, die einfach besser aussehen als ihre Landsleute. Aber das behielt sie für sich. Die Stimme. Mit einem Mal wusste sie es.
„Ihre Stimme, sie klingen wie Jean Reno.“
„Jean Reno, der Schauspieler?“ raspelte es zurück. „Ein sehr guter Schauspieler. In welchem Film mochten Sie ihn besonders?“
„Weiß ich nicht. In allen Filmen. Jean Reno ist einfach geil.“
Es war ihr so herausgerutscht. Egal. Im Dunkeln konnte sie rot werden, ohne sich zu schämen.
„Selbst wenn ich so klänge - leider bin ich weder Geheimagent noch Kriminalkommissar. Mir ist das hier Abenteuer genug.“
„Dieses Restaurant ist sicherlich ungewöhnlich, aber bestehen wir hier ein Abenteuer?“
„Meines begann, als Sie sich mir gegenüber setzten.“
Sie rutschte auf dem Stuhl zurück und schob die Hände unter ihre Oberschenkel. Während sie sich für eine Weile anschwiegen, hibbelte sie unruhig mit den Knien.
„Wie kann ich hier etwas finden, obwohl ich nichts sehen kann?“
„Dies ist hier kein Ort der Ziele. Wir sind gefangen, zum Gespräch, an diesem Ort.“
„Ich muss aber auf einen stillen Ort!“
Sie horchte verlegen auf seine Reaktion, aber es kam nichts. Plötzlich war wie von Geisterhand die Bedienung am Tisch, er flüsterte dem Ober etwas Unverständliches zu, es klang amüsiert. Der Kellner fasste sie wieder am Handgelenk, sie folgte ihm ohne Aufsehen durch die Tischreihen, bis er ihre Hand an einer Türklinke entließ.
Auf dem Klo war etwas Licht, rote Leuchtbänder am Fußboden. Die Tür schloss sie erst ab, als sie schon auf der Brille hockte. Danach war es stockfinster. Sie fingerte in ihrer Handtasche herum und wühlte nach einer neuen Slipeinlage. Und ihrem Lippenstift. Im spärlich erleuchteten Spiegel über dem Handwaschbecken konnte sie sich nur schemenhaft erkennen. Sie schminkte sich nach, mehr aus Gewohnheit. Ob der Kellner draußen auf sie wartete? Sie zögerte, dann riss sie die Tür auf.
Gleißend helles Licht schlug ihr entgegen, weiß, kalt, unbarmherzig. Sie blinzelte in den hell erleuchteten Raum, geblendet, auch die Stimmen schienen ihr lauter als vorhin. Die Dark Hour war vorüber. Andere Gäste schauten zu ihr hin, mal beiläufig, mal musternd, sie senkte die Augen und zupfte am Brustsaum ihres roten Kleides.
Nachdem sie tief Luft geholt hatte, schaute sie wieder auf, um ihren Tisch zu finden. Etwa dreißig Leute saßen im Speiseraum, meist Pärchen. Links war einer allein, ein hagerer Endvierziger mit schütterem Haar und Hängeschultern. Nein, sie hatte doch rechts gesessen.
Dort, an dem Ecktisch, war ein leerer Stuhl, davor ein gutaussehender Schwarzhaariger. Bei Licht betrachtet, konnte er ein Neffe von Jean Reno sein. Sie steuerte auf den Tisch zu, baute sich vor ihm auf und strahlte ihn an. Er schaute zurück, neigte seinen Kopf zur Seite, als wollte er sie etwas fragen. Reglos, sprachlos standen sie sich eine kleine Ewigkeit gegenüber, musterten sich mit Blicken.
„Kann ich da mal durch?“
Sie spürte den Körper einer jungen Frau, die sich an ihr vorbei drückte und auf dem Stuhl Platz nahm. Der Mann neigte sich zu seiner Tischnachbarin herüber und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie flüsterte zurück, beide schauten sich um, mit gespitzten Lippen, als müssten sie sich das Lachen verbeißen.
Wie von einem Windstoss umgewirbelt drehte sie sich ab, flüchtete, den Blicken der anderen Gäste ausweichend, aus dem Lokal und lief hastig über den Bürgersteig durch das Halbdunkel der Abenddämmerung davon. Unter jeder Straßenlaterne schaute sie sich um, doch niemand verfolgte sie, niemand würde sie wiederfinden in der riesigen Stadt. War sie jetzt eine Zechprellerin? Der Wind trieb Plastikbecher und leere Schachteln über die Straße. Im Fast Food Restaurant saßen hässliche Menschen bei Neon-Licht, aßen schweigend aus ihrem Plastikmüll. Der Müll wird gesammelt, sie pressen Parkbänke daraus. Wo war nur eine Parkbank, auf die sie sich jetzt setzen könnte, um zu heulen.
„Tisch zehn, bitte sehr.“
Sie tastete sich an ihren Stuhl und setzte sich behutsam. War ihre Verabredung schon da? Sie war ganz Auge und Ohr, konnte sich aber kein Bild davon machen, ob ihr jemand gegenüber saß. Mit der Hand herüberzutasten schien ihr taktlos.
„Guten Abend“ richtete sie ihre Stimme, etwas zaghaft, ins Nichts.
„Guten Abend, ich hatte schon Sorge, Sie kämen nicht mehr.“
Unwillkürlich versuchte sie, auf ihre Armbanduhr zu schauen. Wie albern. Wo man die Hand nicht vor Augen sehen konnte.
Bin ich zu spät? Ohne Licht gibt es auch keine Zeit.“
„Die Zeit ist die Dimension des Klanges. Die Zeit entzieht sich unseren Blicken, doch wir vermögen sie zu hören.“
Die Stimme ihres Gegenübers gefiel ihr, war sehr wohlklingend, tief, männlich, er klang fast so wie - wie jemand, der ihr partout nicht einfallen wollte. Die Stimme setzte wieder an.
„Mein Großvater hatte nach seiner Pensionierung begonnen, Uhren zu reparieren. Erst nur für die Nachbarschaft, später für die halbe Stadt. Viele davon durfte er behalten, sein Haus war schließlich bis unters Dach mit Uhren vollgestopft. Auch in dem Zimmer, wo ich schlief, wenn ich zu Besuch war, tickte es aus allen Ecken. Um Mitternacht gaben die Standuhren ein großes Konzert. Ich weiß nicht, was ich mehr gefürchtet habe: die Dunkelheit des fremden Zimmers oder die Gesellschaft der Uhren.“
„Ich hatte noch nie Angst vor der Dunkelheit. Aber dieses undurchdringliche Nichts hier nimmt mir die Luft. Es kriecht an die Seele.“
„Dann müssen wir sofort etwas essen. Wir Menschen fühlen uns um so wohler, je mehr Sinne angesprochen sind. Lesen, Musik hören, dabei sich noch am Geruch und Geschmack eines Weines erfreuen. Wir müssen immerzu etwas sehen, etwas hören. Man klagt zwar über den Lärm, aber sind wir ehrlich, fürchten wir nichts mehr als völlige Stille. Nehmen wir beide das Tagesmenü?“
„Eigentlich hätte ich noch gerne die Speisekarte studiert ...“
„Gut.“ Das Wort kam lang und gedehnt und hatte einen Anflug von Heiterkeit. Unbemerkt hatte er den Kellner herangeholt und bestellte für beide. Die Finsternis nahm ihr die Schüchternheit, sie lächelte zu ihrem Visavis, diesem Mann, der
Sätze aus mehr als drei Wörtern zu bilden wusste und eine Stimme hatte wie -
„Nehmen wir einen Weißwein dazu?“
Sie nickte. Ohne ihre hörbare Zustimmung abzuwarten, bestellte er eine Flasche Sancerre. Ein Mann, der nicht lang zögerte. Sie zupfte am Nackenhaar, das sich im Träger ihres schulterfreien Sommerkleides verfangen hatte.
Gleich nach der Vorsuppe brachte der Kellner das Hauptgericht.
„Was essen wir jetzt eigentlich? Ob sie es in der Küche noch appetitlich anrichten? Eigentlich brauchten sie es ja nur so auf den Teller zu klatschen. Das Auge isst hier ja nicht mit.“
„Sie sind wirklich ein unverbesserlicher Augenmensch.“ Seine Stimme klang belustigt und interessiert.
„Durch Messer und Gabel haben wir schon ganz verlernt, unsere Nahrung zu erfühlen. Fragen Sie nicht mich, fragen Sie ihre Fingerspitzen. Patschen Sie nach Herzenslust ins Essen, es sieht sie ja keiner, darum ist es auch nicht unanständig.“
Mit den ihr verbliebenen Sinnen begann sie, das Rätsel auf dem Teller vor ihr zu lösen. Ein glibberiges Etwas, sie schnupperte an den Fingerspitzen, wahrscheinlich Scampi. Danach ertastete sie Kartoffeln und ein in der Mitte zusammengebundenes Bündel schlabberiger Stangen. Sie führte eine zum Mund und biss hinein. Ihre Vermutung bestätigte sich: Spargel.
Neben sich hörte sie ein Plöp, der Ober schenkte ein.
„Zum Wohle.“
Sie suchte mit fettigen Fingern nach ihrem Glas.
„Ich glaube, wir verzichten darauf, mit den Gläsern anzustoßen. Das gestaltet sich hier etwas schwierig. Und es gilt ja als unhöflich, sich zuzuprosten und dabei nicht anzublicken.“
„Außerdem gibt das sieben Jahre schlechten Sex.“
Er ließ ein warmes Lachen hören.
„Ach, in der Finsternis, da drückt die Liebesgöttin schon mal ein Auge zu. Mögen Sie den Sancerre? Kennen Sie das Loiretal?“
„Ich liebe die Loire. Frankreich und Deutschland, das ist wie Licht und Schatten. Die Sprache, das Essen, die Farbe der Landschaft!“
Und die Franzosen, die einfach besser aussehen als ihre Landsleute. Aber das behielt sie für sich. Die Stimme. Mit einem Mal wusste sie es.
„Ihre Stimme, sie klingen wie Jean Reno.“
„Jean Reno, der Schauspieler?“ raspelte es zurück. „Ein sehr guter Schauspieler. In welchem Film mochten Sie ihn besonders?“
„Weiß ich nicht. In allen Filmen. Jean Reno ist einfach geil.“
Es war ihr so herausgerutscht. Egal. Im Dunkeln konnte sie rot werden, ohne sich zu schämen.
„Selbst wenn ich so klänge - leider bin ich weder Geheimagent noch Kriminalkommissar. Mir ist das hier Abenteuer genug.“
„Dieses Restaurant ist sicherlich ungewöhnlich, aber bestehen wir hier ein Abenteuer?“
„Meines begann, als Sie sich mir gegenüber setzten.“
Sie rutschte auf dem Stuhl zurück und schob die Hände unter ihre Oberschenkel. Während sie sich für eine Weile anschwiegen, hibbelte sie unruhig mit den Knien.
„Wie kann ich hier etwas finden, obwohl ich nichts sehen kann?“
„Dies ist hier kein Ort der Ziele. Wir sind gefangen, zum Gespräch, an diesem Ort.“
„Ich muss aber auf einen stillen Ort!“
Sie horchte verlegen auf seine Reaktion, aber es kam nichts. Plötzlich war wie von Geisterhand die Bedienung am Tisch, er flüsterte dem Ober etwas Unverständliches zu, es klang amüsiert. Der Kellner fasste sie wieder am Handgelenk, sie folgte ihm ohne Aufsehen durch die Tischreihen, bis er ihre Hand an einer Türklinke entließ.
Auf dem Klo war etwas Licht, rote Leuchtbänder am Fußboden. Die Tür schloss sie erst ab, als sie schon auf der Brille hockte. Danach war es stockfinster. Sie fingerte in ihrer Handtasche herum und wühlte nach einer neuen Slipeinlage. Und ihrem Lippenstift. Im spärlich erleuchteten Spiegel über dem Handwaschbecken konnte sie sich nur schemenhaft erkennen. Sie schminkte sich nach, mehr aus Gewohnheit. Ob der Kellner draußen auf sie wartete? Sie zögerte, dann riss sie die Tür auf.
Gleißend helles Licht schlug ihr entgegen, weiß, kalt, unbarmherzig. Sie blinzelte in den hell erleuchteten Raum, geblendet, auch die Stimmen schienen ihr lauter als vorhin. Die Dark Hour war vorüber. Andere Gäste schauten zu ihr hin, mal beiläufig, mal musternd, sie senkte die Augen und zupfte am Brustsaum ihres roten Kleides.
Nachdem sie tief Luft geholt hatte, schaute sie wieder auf, um ihren Tisch zu finden. Etwa dreißig Leute saßen im Speiseraum, meist Pärchen. Links war einer allein, ein hagerer Endvierziger mit schütterem Haar und Hängeschultern. Nein, sie hatte doch rechts gesessen.
Dort, an dem Ecktisch, war ein leerer Stuhl, davor ein gutaussehender Schwarzhaariger. Bei Licht betrachtet, konnte er ein Neffe von Jean Reno sein. Sie steuerte auf den Tisch zu, baute sich vor ihm auf und strahlte ihn an. Er schaute zurück, neigte seinen Kopf zur Seite, als wollte er sie etwas fragen. Reglos, sprachlos standen sie sich eine kleine Ewigkeit gegenüber, musterten sich mit Blicken.
„Kann ich da mal durch?“
Sie spürte den Körper einer jungen Frau, die sich an ihr vorbei drückte und auf dem Stuhl Platz nahm. Der Mann neigte sich zu seiner Tischnachbarin herüber und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie flüsterte zurück, beide schauten sich um, mit gespitzten Lippen, als müssten sie sich das Lachen verbeißen.
Wie von einem Windstoss umgewirbelt drehte sie sich ab, flüchtete, den Blicken der anderen Gäste ausweichend, aus dem Lokal und lief hastig über den Bürgersteig durch das Halbdunkel der Abenddämmerung davon. Unter jeder Straßenlaterne schaute sie sich um, doch niemand verfolgte sie, niemand würde sie wiederfinden in der riesigen Stadt. War sie jetzt eine Zechprellerin? Der Wind trieb Plastikbecher und leere Schachteln über die Straße. Im Fast Food Restaurant saßen hässliche Menschen bei Neon-Licht, aßen schweigend aus ihrem Plastikmüll. Der Müll wird gesammelt, sie pressen Parkbänke daraus. Wo war nur eine Parkbank, auf die sie sich jetzt setzen könnte, um zu heulen.