Das Gespenst vom Montmartre

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poetix

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Das Gespenst vom Montmartre


Ein sonniger, warmer Septembervormittag kroch aus dem Nebel. Jean-Marie packte seine Malutensilien auf dem Place du Tertre aus. Die letzte Nacht war für ihn zu kurz gewesen und seine Müdigkeit wollte nicht weichen. Sogar sein morgendliches Gebet in der Kirche Sacré-Coeur hatte er ausgelassen. Missmutig hockte er sich vor seine Staffelei. Er brauchte nicht lange auf Kundschaft zu warten. Ein unscheinbarer Mann trat heran und bat um ein Portrait. Eigentlich wäre es das Normalste von der Welt gewesen – bei jedem anderen Kunden. Aber bei diesem Mann wurde Jean-Marie von Unbehagen gepackt. Er konnte nicht genau sagen, was nicht stimmte. Es gab nichts Auffälliges an dem Mann. Das wiederum irritierte ihn gerade. Er fand nichts, was er im Portrait hätte herausarbeiten können. Das Gesicht des Mannes erwies sich auf eine merkwürdige Weise nichtssagend, entzog sich jeglicher Charakterisierung. Sein Blick war leer.

Ein leichter Schauer lief dem Maler über den Rücken. Er hätte das Portrait lieber nicht malen wollen, durfte es aber auch nicht abschlagen. Es gab ein ungeschriebenes Gesetz auf dem Place du Tertre, dass jeder, der ein Portrait bestellte, es auch bekommen musste. Das gehörte zum Geschäft. Also musste er in den sauren Apfel beißen und begann seine Arbeit. Wenn sein Gegenüber nichts Charakteristisches an sich hatte, musste er eben mehr von sich selbst in das Werk legen. Das tat er. Es kostete ihn Überwindung, aber er tat es.

Die Zeit zog sich. Er durchlitt ein Martyrium, während das Bild nach und nach unter seinen Händen entstand. Seine eigene Persönlichkeit floss in das Portrait ein anstelle der nicht vorhandenen des Portraitier-ten. Mit seiner Persönlichkeit ging auch seine Energie auf das Werk über. Es saugte ihn aus. Schwäche breitete sich in ihm aus. Er zit-terte. Schaudernd bemerkte er, dass das Portrait immer mehr ihm selbst ähnelte. Alles in ihm sträubte sich, aber er konnte nicht aufhören zu malen …

Schließlich beendete er das Bild. Der Anflug eines traurigen Lächelns stahl sich in das bisher ausdruckslose Gesicht seines Kunden. Er bezahlte nicht, nahm auch das Bild nicht mit, schlich einfach nur davon, ohne etwas zu sagen. Jean-Marie hatte nicht die Kraft zu protestieren, fühlte sich ausgelaugt. Er sackte zusammen wie ein nasser Sack. Wie sollte er so arbeiten? Matt schlich er nach Hause und legte sich ins Bett.

Dort blieb er für die nächsten Tage. Ein leichtes Fieber hatte ihn befallen und erlaubte ihm nur die nötigsten Verrichtungen zu erledigen. Und es kam noch schlimmer: Zwar legt sich das Fieber nach und nach, doch die Mattigkeit blieb. Nicht einmal zur Malerei raffte er sich auf. Sein Zimmer auf dem Montmartre gab er auf, lebte auf der Straße, vegetierte nur noch vor sich hin. Tag und Nacht verschwammen in einem Nebel. Tags dämmerte er vor sich hin, nachts schlief er nicht. Nichts ergab einen Sinn, nichts berührte ihn. Sogar der Hunger erlosch und Jean-Marie hörte auf zu essen. Hatte er früher gern ein Gläschen Rotwein genossen, trank er jetzt überhaupt nichts mehr, nicht einmal Wasser. Dass er auf diese Weise überlebte, hätte ihn wundern müssen, aber er nahm es einfach als gegeben hin.

Er lebte wie ein Clochard und auch wieder nicht. Er trieb sich unter den Seine-Brücken herum wie sie, aber er durchwühlte nicht wie sie den Müll nach etwas Brauchbarem. Er brauchte nichts. Wenn er überhaupt einen Wunsch gehabt hätte, dann den: einzuschlafen und nicht wieder aufzuwachen. Doch nicht einmal das wurde ihm gewährt. Es blieb bei seinem Schattendasein. Er geisterte in der Stadt herum – ohne mit jemandem zu sprechen und ohne irgendjemandem in die Augen zu sehen. Die Leute, wenn sie überhaupt Notiz von ihm nahmen, sprachen von ihm als „dem Gespenst“.

So verging die Zeit, bis ihn seine ziellosen Streifzüge eines Vormittags auf den Place du Tertre führten. Zum ersten Mal seit Jahren lenkte etwas seine Aufmerksamkeit auf sich: Ein junger, unausgeschlafen wirkender Portraitmaler packte seine Malutensilien aus. Es zog ihn zu ihm hin. Mit einer Stimme, die, weil ewig nicht mehr benutzt, brüchig und heiser klang, bat er darum, portraitiert zu werden. Er sah, wie sich die Kiefermuskulatur des Malers anspannte, als er die Zähne zusammenbiss. Der Auftrag passte dem anderen nicht, ganz offensichtlich, aber er durfte ihn nicht ablehnen. Während der Künstler arbeitete, fühlte Jean-Marie nach langer Zeit wieder ein klein wenig Kraft durch seinen Körper strömen. Ein Seufzer entrang sich seiner Brust. Nicht dass er sich in sein früheres Leben zurückversetzt gefühlt hätte, bei weitem nicht, aber immerhin spürte er eine Änderung. Und alles, was anders war, war gut. Ein Silberstreif am Horizont. Als der Maler den letzten Pinselstrich getan hatte, drehte Jean-Marie sich um und schlich wortlos davon. Langsam, wie in Trance, bewegte er sich. Niemand hielt ihn auf, niemand verfolgte ihn. Er suchte die nächste Parkbank auf und streckte sich darauf aus. Sofort schlief er ein … und wachte nie mehr auf.
 

poetix

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Das Gespenst vom Montmartre


Ein sonniger, warmer Septembervormittag kroch aus dem Nebel. Jean-Marie packte seine Malutensilien auf dem Place du Tertre aus. Die letzte Nacht war für ihn zu kurz gewesen und seine Müdigkeit wollte nicht weichen. Sogar sein morgendliches Gebet in der Kirche Sacré-Coeur hatte er ausgelassen. Missmutig hockte er sich vor seine Staffelei. Er brauchte nicht lange auf Kundschaft zu warten. Ein unscheinbarer Mann trat heran und bat um ein Portrait. Eigentlich wäre es das Normalste von der Welt gewesen – bei jedem anderen Kunden. Aber bei diesem Mann wurde Jean-Marie von Unbehagen gepackt. Er hätte nicht genau sagen können, was nicht stimmte. Es gab nichts Auffälliges an dem Mann. Das wiederum irritierte ihn gerade. Er fand nichts, was er im Portrait hätte herausarbeiten können. Das Gesicht des Mannes erwies sich auf eine merkwürdige Weise nichtssagend, entzog sich jeglicher Charakterisierung. Sein Blick war leer.

Ein leichter Schauer lief dem Maler über den Rücken. Er hätte das Portrait lieber nicht malen wollen, durfte es aber auch nicht abschlagen. Es gab ein ungeschriebenes Gesetz auf dem Place du Tertre, dass jeder, der ein Portrait bestellte, es auch bekommen musste. Das gehörte zum Geschäft. Also musste er in den sauren Apfel beißen und begann seine Arbeit. Wenn sein Gegenüber nichts Charakteristisches an sich hatte, musste er eben mehr von sich selbst in das Werk legen. Das tat er. Es kostete ihn Überwindung, aber er tat es.

Die Zeit zog sich. Er durchlitt ein Martyrium, während das Bild nach und nach unter seinen Händen entstand. Seine eigene Persönlichkeit floss in das Portrait ein anstelle der nicht vorhandenen des Portraitier-ten. Mit seiner Persönlichkeit ging auch seine Energie auf das Werk über. Es saugte ihn aus. Schwäche breitete sich in ihm aus. Er zit-terte. Schaudernd bemerkte er, dass das Portrait immer mehr ihm selbst ähnelte. Alles in ihm sträubte sich, aber er konnte nicht aufhören zu malen …

Schließlich beendete er das Bild. Der Anflug eines traurigen Lächelns stahl sich in das bisher ausdruckslose Gesicht seines Kunden. Er bezahlte nicht, nahm auch das Bild nicht mit, schlich einfach nur davon, ohne etwas zu sagen. Jean-Marie hatte nicht die Kraft zu protestieren, fühlte sich ausgelaugt. Er sackte zusammen wie ein nasser Sack. Wie sollte er so arbeiten? Matt schlich er nach Hause und legte sich ins Bett.

Dort blieb er für die nächsten Tage. Ein leichtes Fieber hatte ihn befallen und erlaubte ihm nur die nötigsten Verrichtungen zu erledigen. Und es kam noch schlimmer: Zwar legt sich das Fieber nach und nach, doch die Mattigkeit blieb. Nicht einmal zur Malerei raffte er sich auf. Sein Zimmer auf dem Montmartre gab er auf, lebte auf der Straße, vegetierte nur noch vor sich hin. Tag und Nacht verschwammen in einem Nebel. Tags dämmerte er vor sich hin, nachts schlief er nicht. Nichts ergab einen Sinn, nichts berührte ihn. Sogar der Hunger erlosch und Jean-Marie hörte auf zu essen. Hatte er früher gern ein Gläschen Rotwein genossen, trank er jetzt überhaupt nichts mehr, nicht einmal Wasser. Dass er auf diese Weise überlebte, hätte ihn wundern müssen, aber er nahm es einfach als gegeben hin.

Er lebte wie ein Clochard und auch wieder nicht. Er trieb sich unter den Seine-Brücken herum wie sie, aber er durchwühlte nicht wie sie den Müll nach etwas Brauchbarem. Er brauchte nichts. Wenn er überhaupt einen Wunsch gehabt hätte, dann den: einzuschlafen und nicht wieder aufzuwachen. Doch nicht einmal das wurde ihm gewährt. Es blieb bei seinem Schattendasein. Er geisterte in der Stadt herum – ohne mit jemandem zu sprechen und ohne irgendjemandem in die Augen zu sehen. Die Leute, wenn sie überhaupt Notiz von ihm nahmen, sprachen von ihm als „dem Gespenst“.

So verging die Zeit, bis ihn seine ziellosen Streifzüge eines Vormittags auf den Place du Tertre führten. Zum ersten Mal seit Jahren lenkte etwas seine Aufmerksamkeit auf sich: Ein junger, unausgeschlafen wirkender Portraitmaler packte seine Malutensilien aus. Es zog ihn zu ihm hin. Mit einer Stimme, die, weil ewig nicht mehr benutzt, brüchig und heiser klang, bat er darum, portraitiert zu werden. Er sah, wie sich die Kiefermuskulatur des Malers anspannte, als er die Zähne zusammenbiss. Der Auftrag passte dem anderen nicht, ganz offensichtlich, aber er durfte ihn nicht ablehnen. Während der Künstler arbeitete, fühlte Jean-Marie nach langer Zeit wieder ein klein wenig Kraft durch seinen Körper strömen. Ein Seufzer entrang sich seiner Brust. Nicht dass er sich in sein früheres Leben zurückversetzt gefühlt hätte, bei weitem nicht, aber immerhin spürte er eine Änderung. Und alles, was anders war, war gut. Ein Silberstreif am Horizont. Als der Maler den letzten Pinselstrich getan hatte, drehte Jean-Marie sich um und schlich wortlos davon. Langsam, wie in Trance, bewegte er sich. Niemand hielt ihn auf, niemand verfolgte ihn. Er suchte die nächste Parkbank auf und streckte sich darauf aus. Sofort schlief er ein … und wachte nie mehr auf.
 

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Ein sonniger, warmer Septembervormittag kroch aus dem Nebel. Jean-Marie packte seine Malutensilien auf dem Place du Tertre aus. Die letzte Nacht war für ihn zu kurz gewesen und seine Müdigkeit wollte nicht weichen. Sogar sein morgendliches Gebet in der Kirche Sacré-Coeur hatte er ausgelassen. Missmutig hockte er sich vor seine Staffelei. Er brauchte nicht lange auf Kundschaft zu warten. Ein unscheinbarer Mann trat heran und bat um ein Portrait. Eigentlich wäre es das Normalste von der Welt gewesen – bei jedem anderen Kunden. Aber bei diesem Mann wurde Jean-Marie von Unbehagen gepackt. Er hätte nicht genau sagen können, was nicht stimmte. Es gab nichts Auffälliges an dem Mann. Vielleicht irritierte ihn gerade das. Er fand nichts, was er im Portrait hätte herausarbeiten können. Das Gesicht des Mannes erwies sich auf eine merkwürdige Weise nichtssagend, entzog sich jeglicher Charakterisierung. Sein Blick war leer.

Ein leichter Schauer lief dem Maler über den Rücken. Er hätte das Portrait lieber nicht malen wollen, durfte es aber auch nicht abschlagen. Es gab ein ungeschriebenes Gesetz auf dem Place du Tertre, dass jeder, der ein Portrait bestellte, es auch bekommen musste. Das gehörte zum Geschäft. Also musste er in den sauren Apfel beißen und begann seine Arbeit. Wenn sein Gegenüber nichts Charakteristisches an sich hatte, musste er eben mehr von sich selbst in das Werk legen. Das tat er. Es kostete ihn Überwindung, aber er tat es.

Die Zeit zog sich. Er durchlitt ein Martyrium, während das Bild nach und nach unter seinen Händen entstand. Seine eigene Persönlichkeit floss in das Portrait ein anstelle der nicht vorhandenen des Portraitier-ten. Mit seiner Persönlichkeit ging auch seine Energie auf das Werk über. Es saugte ihn aus. Schwäche breitete sich in ihm aus. Er zit-terte. Schaudernd bemerkte er, dass das Portrait immer mehr ihm selbst ähnelte. Alles in ihm sträubte sich, aber er konnte nicht aufhören zu malen …

Schließlich beendete er das Bild. Der Anflug eines traurigen Lächelns stahl sich in das bisher ausdruckslose Gesicht seines Kunden. Er bezahlte nicht, nahm auch das Bild nicht mit, schlich einfach nur davon, ohne etwas zu sagen. Jean-Marie hatte nicht die Kraft zu protestieren, fühlte sich ausgelaugt. Er sackte zusammen wie ein nasser Sack. Wie sollte er so arbeiten? Matt schlich er nach Hause und legte sich ins Bett.

Dort blieb er für die nächsten Tage. Ein leichtes Fieber hatte ihn befallen und erlaubte ihm nur die nötigsten Verrichtungen zu erledigen. Und es kam noch schlimmer: Zwar legt sich das Fieber nach und nach, doch die Mattigkeit blieb. Nicht einmal zur Malerei raffte er sich auf. Sein Zimmer auf dem Montmartre gab er auf, lebte auf der Straße, vegetierte nur noch vor sich hin. Tag und Nacht verschwammen in einem Nebel. Tags dämmerte er vor sich hin, nachts schlief er nicht. Nichts ergab einen Sinn, nichts berührte ihn. Sogar der Hunger erlosch und Jean-Marie hörte auf zu essen. Hatte er früher gern ein Gläschen Rotwein genossen, trank er jetzt überhaupt nichts mehr, nicht einmal Wasser. Dass er auf diese Weise überlebte, hätte ihn wundern müssen, aber er nahm es einfach als gegeben hin.

Er lebte wie ein Clochard und auch wieder nicht. Er trieb sich unter den Seine-Brücken herum wie sie, aber er durchwühlte nicht wie sie den Müll nach etwas Brauchbarem. Er brauchte nichts. Wenn er überhaupt einen Wunsch gehabt hätte, dann den: einzuschlafen und nicht wieder aufzuwachen. Doch nicht einmal das wurde ihm gewährt. Es blieb bei seinem Schattendasein. Er geisterte in der Stadt herum – ohne mit jemandem zu sprechen und ohne irgendjemandem in die Augen zu sehen. Die Leute, wenn sie überhaupt Notiz von ihm nahmen, sprachen von ihm als „dem Gespenst“.

So verging die Zeit, bis ihn seine ziellosen Streifzüge eines Vormittags auf den Place du Tertre führten. Zum ersten Mal seit Jahren lenkte etwas seine Aufmerksamkeit auf sich: Ein junger, unausgeschlafen wirkender Portraitmaler packte seine Malutensilien aus. Es zog ihn zu ihm hin. Mit einer Stimme, die, weil ewig nicht mehr benutzt, brüchig und heiser klang, bat er darum, portraitiert zu werden. Er sah, wie sich die Kiefermuskulatur des Malers anspannte, als er die Zähne zusammenbiss. Der Auftrag passte dem anderen nicht, ganz offensichtlich, aber er durfte ihn nicht ablehnen. Während der Künstler arbeitete, fühlte Jean-Marie nach langer Zeit wieder ein klein wenig Kraft durch seinen Körper strömen. Ein Seufzer entrang sich seiner Brust. Nicht dass er sich in sein früheres Leben zurückversetzt gefühlt hätte, bei weitem nicht, aber immerhin spürte er eine Änderung. Und alles, was anders war, war gut. Ein Silberstreif am Horizont. Als der Maler den letzten Pinselstrich getan hatte, drehte Jean-Marie sich um und schlich wortlos davon. Langsam, wie in Trance, bewegte er sich. Niemand hielt ihn auf, niemand verfolgte ihn. Er suchte die nächste Parkbank auf und streckte sich darauf aus. Sofort schlief er ein … und wachte nie mehr auf.
 

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Das Gespenst vom Montmartre


Ein sonniger, warmer Septembervormittag kroch aus dem Nebel. Jean-Marie packte seine Malutensilien auf dem Place du Tertre aus. Die letzte Nacht war für ihn zu kurz gewesen und seine Müdigkeit wollte nicht weichen. Sogar sein morgendliches Gebet in der Kirche Sacré-Coeur hatte er ausgelassen. Missmutig hockte er sich vor seine Staffelei. Er brauchte nicht lange auf Kundschaft zu warten. Ein unscheinbarer Mann trat heran und bat um ein Portrait. Eigentlich wäre es das Normalste von der Welt gewesen – bei jedem anderen Kunden. Aber bei diesem Mann wurde Jean-Marie von Unbehagen gepackt. Er hätte nicht genau sagen können, was nicht stimmte. Es gab nichts Auffälliges an dem Mann. Vielleicht irritierte ihn gerade das. Er fand nichts, was er im Portrait hätte herausarbeiten können. Das Gesicht des Mannes erwies sich auf eine merkwürdige Weise als nichtssagend, entzog sich jeglicher Charakterisierung. Sein Blick war leer.

Ein leichter Schauer lief dem Maler über den Rücken. Er hätte das Portrait lieber nicht malen wollen, durfte es aber auch nicht abschlagen. Es gab ein ungeschriebenes Gesetz auf dem Place du Tertre, dass jeder, der ein Portrait bestellte, es auch bekommen musste. Das gehörte zum Geschäft. Also musste er in den sauren Apfel beißen und begann seine Arbeit. Wenn sein Gegenüber nichts Charakteristisches an sich hatte, musste er eben mehr von sich selbst in das Werk legen. Das tat er. Es kostete ihn Überwindung, aber er tat es.

Die Zeit zog sich. Er durchlitt ein Martyrium, während das Bild nach und nach unter seinen Händen entstand. Seine eigene Persönlichkeit floss in das Portrait ein anstelle der nicht vorhandenen des Portraitier-ten. Mit seiner Persönlichkeit ging auch seine Energie auf das Werk über. Es saugte ihn aus. Schwäche breitete sich in ihm aus. Er zit-terte. Schaudernd bemerkte er, dass das Portrait immer mehr ihm selbst ähnelte. Alles in ihm sträubte sich, aber er konnte nicht aufhören zu malen …

Schließlich beendete er das Bild. Der Anflug eines traurigen Lächelns stahl sich in das bisher ausdruckslose Gesicht seines Kunden. Er bezahlte nicht, nahm auch das Bild nicht mit, schlich einfach nur davon, ohne etwas zu sagen. Jean-Marie hatte nicht die Kraft zu protestieren, fühlte sich ausgelaugt. Er sackte zusammen wie ein nasser Sack. Wie sollte er so arbeiten? Matt schlich er nach Hause und legte sich ins Bett.

Dort blieb er für die nächsten Tage. Ein leichtes Fieber hatte ihn befallen und erlaubte ihm nur die nötigsten Verrichtungen zu erledigen. Und es kam noch schlimmer: Zwar legt sich das Fieber nach und nach, doch die Mattigkeit blieb. Nicht einmal zur Malerei raffte er sich auf. Sein Zimmer auf dem Montmartre gab er auf, lebte auf der Straße, vegetierte nur noch vor sich hin. Tag und Nacht verschwammen in einem Nebel. Tags dämmerte er vor sich hin, nachts schlief er nicht. Nichts ergab einen Sinn, nichts berührte ihn. Sogar der Hunger erlosch und Jean-Marie hörte auf zu essen. Hatte er früher gern ein Gläschen Rotwein genossen, trank er jetzt überhaupt nichts mehr, nicht einmal Wasser. Dass er auf diese Weise überlebte, hätte ihn wundern müssen, aber er nahm es einfach als gegeben hin.

Er lebte wie ein Clochard und auch wieder nicht. Er trieb sich unter den Seine-Brücken herum wie sie, aber er durchwühlte nicht wie sie den Müll nach etwas Brauchbarem. Er brauchte nichts. Wenn er überhaupt einen Wunsch gehabt hätte, dann den: einzuschlafen und nicht wieder aufzuwachen. Doch nicht einmal das wurde ihm gewährt. Es blieb bei seinem Schattendasein. Er geisterte in der Stadt herum – ohne mit jemandem zu sprechen und ohne irgendjemandem in die Augen zu sehen. Die Leute, wenn sie überhaupt Notiz von ihm nahmen, sprachen von ihm als „dem Gespenst“.

So verging die Zeit, bis ihn seine ziellosen Streifzüge eines Vormittags auf den Place du Tertre führten. Zum ersten Mal seit Jahren lenkte etwas seine Aufmerksamkeit auf sich: Ein junger, unausgeschlafen wirkender Portraitmaler packte seine Malutensilien aus. Es zog ihn zu ihm hin. Mit einer Stimme, die, weil ewig nicht mehr benutzt, brüchig und heiser klang, bat er darum, portraitiert zu werden. Er sah, wie sich die Kiefermuskulatur des Malers anspannte, als er die Zähne zusammenbiss. Der Auftrag passte dem anderen nicht, ganz offensichtlich, aber er durfte ihn nicht ablehnen. Während der Künstler arbeitete, fühlte Jean-Marie nach langer Zeit wieder ein klein wenig Kraft durch seinen Körper strömen. Ein Seufzer entrang sich seiner Brust. Nicht dass er sich in sein früheres Leben zurückversetzt gefühlt hätte, bei weitem nicht, aber immerhin spürte er eine Änderung. Und alles, was anders war, war gut. Ein Silberstreif am Horizont. Als der Maler den letzten Pinselstrich getan hatte, drehte Jean-Marie sich um und schlich wortlos davon. Langsam, wie in Trance, bewegte er sich. Niemand hielt ihn auf, niemand verfolgte ihn. Er suchte die nächste Parkbank auf und streckte sich darauf aus. Sofort schlief er ein … und wachte nie mehr auf.
 

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Ein sonniger, warmer Septembervormittag kroch aus dem Nebel. Jean-Marie packte seine Malutensilien auf dem Place du Tertre aus. Die letzte Nacht war für ihn zu kurz gewesen und seine Müdigkeit wollte nicht weichen. Sogar sein morgendliches Gebet in der Kirche Sacré-Coeur hatte er ausgelassen. Missmutig hockte er sich vor seine Staffelei. Er brauchte nicht lange auf Kundschaft zu warten. Ein unscheinbarer Mann trat heran und bat um ein Portrait. Eigentlich wäre es das Normalste von der Welt gewesen – bei jedem anderen Kunden. Aber bei diesem Mann wurde Jean-Marie von Unbehagen gepackt. Er hätte nicht genau sagen können, was nicht stimmte. Es gab nichts Auffälliges an dem Mann. Vielleicht irritierte ihn gerade das. Er fand nichts, was er im Portrait hätte herausarbeiten können. Das Gesicht des Mannes erwies sich auf eine merkwürdige Weise als nichtssagend, entzog sich jeglicher Charakterisierung. Sein Blick war leer.

Ein leichter Schauer lief dem Maler über den Rücken. Er hätte das Portrait lieber nicht malen wollen, durfte es aber auch nicht abschlagen. Es gab ein ungeschriebenes Gesetz auf dem Place du Tertre, dass jeder, der ein Portrait bestellte, es auch bekommen musste. Das gehörte zum Geschäft. Also musste er in den sauren Apfel beißen und begann seine Arbeit. Wenn sein Gegenüber nichts Charakteristisches an sich hatte, musste er eben mehr von sich selbst in das Werk legen. Das tat er. Es kostete ihn Überwindung, aber er tat es.

Die Zeit zog sich. Er durchlitt ein Martyrium, während das Bild nach und nach unter seinen Händen entstand. Seine eigene Persönlichkeit floss in das Portrait ein anstelle der nicht vorhandenen des Portraitierten. Mit seiner Persönlichkeit ging auch seine Energie auf das Werk über. Es saugte ihn aus. Schwäche breitete sich in ihm aus. Er zitterte. Schaudernd bemerkte er, dass das Portrait immer mehr ihm selbst ähnelte. Alles in ihm sträubte sich, aber er konnte nicht aufhören zu malen …

Schließlich beendete er das Bild. Der Anflug eines traurigen Lächelns stahl sich in das bisher ausdruckslose Gesicht seines Kunden. Er bezahlte nicht, nahm auch das Bild nicht mit, schlich einfach nur davon, ohne etwas zu sagen. Jean-Marie hatte nicht die Kraft zu protestieren, fühlte sich ausgelaugt. Er sackte zusammen wie ein nasser Sack. Wie sollte er so arbeiten? Matt schlich er nach Hause und legte sich ins Bett.

Dort blieb er für die nächsten Tage. Ein leichtes Fieber hatte ihn befallen und erlaubte ihm nur die nötigsten Verrichtungen zu erledigen. Und es kam noch schlimmer: Zwar legt sich das Fieber nach und nach, doch die Mattigkeit blieb. Nicht einmal zur Malerei raffte er sich auf. Sein Zimmer auf dem Montmartre gab er auf, lebte auf der Straße, vegetierte nur noch vor sich hin. Tag und Nacht verschwammen in einem Nebel. Tags dämmerte er vor sich hin, nachts schlief er nicht. Nichts ergab einen Sinn, nichts berührte ihn. Sogar der Hunger erlosch und Jean-Marie hörte auf zu essen. Hatte er früher gern ein Gläschen Rotwein genossen, trank er jetzt überhaupt nichts mehr, nicht einmal Wasser. Dass er auf diese Weise überlebte, hätte ihn wundern müssen, aber er nahm es einfach als gegeben hin.

Er lebte wie ein Clochard und auch wieder nicht. Er trieb sich unter den Seine-Brücken herum wie sie, aber er durchwühlte nicht wie sie den Müll nach etwas Brauchbarem. Er brauchte nichts. Wenn er überhaupt einen Wunsch gehabt hätte, dann den: einzuschlafen und nicht wieder aufzuwachen. Doch nicht einmal das wurde ihm gewährt. Es blieb bei seinem Schattendasein. Er geisterte in der Stadt herum – ohne mit jemandem zu sprechen und ohne irgendjemandem in die Augen zu sehen. Die Leute, wenn sie überhaupt Notiz von ihm nahmen, sprachen von ihm als „dem Gespenst“.

So verging die Zeit, bis ihn seine ziellosen Streifzüge eines Vormittags auf den Place du Tertre führten. Zum ersten Mal seit Jahren lenkte etwas seine Aufmerksamkeit auf sich: Ein junger, unausgeschlafen wirkender Portraitmaler packte seine Malutensilien aus. Es zog ihn zu ihm hin. Mit einer Stimme, die, weil ewig nicht mehr benutzt, brüchig und heiser klang, bat er darum, portraitiert zu werden. Er sah, wie sich die Kiefermuskulatur des Malers anspannte, als er die Zähne zusammenbiss. Der Auftrag passte dem anderen nicht, ganz offensichtlich, aber er durfte ihn nicht ablehnen. Während der Künstler arbeitete, fühlte Jean-Marie nach langer Zeit wieder ein klein wenig Kraft durch seinen Körper strömen. Ein Seufzer entrang sich seiner Brust. Nicht dass er sich in sein früheres Leben zurückversetzt gefühlt hätte, bei weitem nicht, aber immerhin spürte er eine Änderung. Und alles, was anders war, war gut. Ein Silberstreif am Horizont. Als der Maler den letzten Pinselstrich getan hatte, drehte Jean-Marie sich um und schlich wortlos davon. Langsam, wie in Trance, bewegte er sich. Niemand hielt ihn auf, niemand verfolgte ihn. Er suchte die nächste Parkbank auf und streckte sich darauf aus. Sofort schlief er ein … und wachte nie mehr auf.
 

UtaW

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Ich habe die Geschichte mit wachsender Spannung gelesen. Aber das Ende ist mir unklar. Ich hatte das Ganze so verstanden, dass sein Kunde ihm das Leben beraubt hat. Nun bekommt er es von dem anderen Maler wieder, der daraufhin zum Gespenst wird. Stattdessen stirbt er und mir ist nicht klar, warum.
Trotzdem sehr stimmungsvoll.
 

poetix

Mitglied
Hallo UtaW,
vielen Dank für die Kommentare. Ja, warum stirbt er? Er konnte ja nicht mehr in sein früheres Leben zurück. Zwar hatte er sich jetzt auch eine Identität "geraubt", aber es war nicht seine eigene. Immerhin konnte er jetzt das, was er sich gewünscht hatte: Frieden finden.
Viele Grüße
poetix
 

Namenstag

Mitglied
wundersam

Weder mit politisch korrekt erhobenem Zeigefinger geschrieben, noch eine kunstvoll zusammengebastelte Blödelei. Erstaunlich, dass die Geschichte zur besten des Monats gekürt wurde. Was die vielen Verbesserungsvorschläge angeht - darüber kann man zwar diskutieren, im Wesentlichen aber eine Besserwisserei zur Selbstdarstellung. Ich finde die Geschichte absolut gelungen, wurde von ihrer Atmosphäre be - geistert.
 

poetix

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Das Gespenst vom Montmartre


Ein sonniger, warmer Septembervormittag kroch aus dem Nebel. Jean-Marie packte seine Malutensilien auf dem Place du Tertre aus. Die letzte Nacht war für ihn zu kurz gewesen und seine Müdigkeit wollte nicht weichen. Sogar sein morgendliches Gebet in der Kirche Sacré-Coeur hatte er ausgelassen. Missmutig hockte er sich vor seine Staffelei. Er brauchte nicht lange auf Kundschaft zu warten. Ein unscheinbarer Mann trat heran und bat um ein Portrait. Eigentlich wäre es das Normalste von der Welt gewesen – bei jedem anderen Kunden. Aber bei diesem Mann wurde Jean-Marie von Unbehagen gepackt. Er hätte nicht genau sagen können, was nicht stimmte. Es gab nichts Auffälliges an dem Mann. Vielleicht irritierte ihn gerade das. Er fand nichts, was er im Portrait hätte herausarbeiten können. Das Gesicht des Mannes erwies sich auf eine merkwürdige Weise als nichtssagend, entzog sich jeglicher Charakterisierung. Sein Blick war leer.

Ein leichter Schauer lief dem Maler über den Rücken. Er hätte das Portrait lieber nicht malen wollen, durfte es aber auch nicht abschlagen. Es gab ein ungeschriebenes Gesetz auf dem Place du Tertre, dass jeder, der ein Portrait bestellte, es auch bekommen musste. Das gehörte zum Geschäft. Also musste er in den sauren Apfel beißen und begann seine Arbeit. Wenn sein Gegenüber nichts Charakteristisches an sich hatte, musste er eben mehr von sich selbst in das Werk legen. Das tat er. Es kostete ihn Überwindung, aber er tat es.

Die Zeit zog sich. Er durchlitt ein Martyrium, während das Bild nach und nach unter seinen Händen entstand. Seine eigene Persönlichkeit floss in das Portrait ein anstelle der nicht vorhandenen des Portraitierten. Mit seiner Persönlichkeit ging auch seine Energie auf das Werk über. Es saugte ihn aus. Schwäche breitete sich in ihm aus. Er zitterte. Schaudernd bemerkte er, dass das Portrait immer mehr ihm selbst ähnelte. Alles in ihm sträubte sich, aber er konnte nicht aufhören zu malen …

Schließlich beendete er das Bild. Der Anflug eines traurigen Lächelns stahl sich in das bisher ausdruckslose Gesicht seines Kunden. Er bezahlte nicht, nahm auch das Bild nicht mit, schlich einfach nur davon, ohne etwas zu sagen. Jean-Marie hatte nicht die Kraft zu protestieren, fühlte sich ausgelaugt. Er sackte zusammen wie ein nasser Sack. Wie sollte er so arbeiten? Matt schlich er nach Hause und legte sich ins Bett.

Dort blieb er für die nächsten Tage. Ein leichtes Fieber hatte ihn befallen und erlaubte ihm nur, die nötigsten Verrichtungen zu erledigen. Und es kam noch schlimmer: Zwar legt sich das Fieber nach und nach, doch die Mattigkeit blieb. Nicht einmal zur Malerei raffte er sich auf. Sein Zimmer auf dem Montmartre gab er auf, lebte auf der Straße, vegetierte nur noch vor sich hin. Tag und Nacht verschwammen in einem Nebel. Tags dämmerte er vor sich hin, nachts schlief er nicht. Nichts ergab einen Sinn, nichts berührte ihn. Sogar der Hunger erlosch und Jean-Marie hörte auf zu essen. Hatte er früher gern ein Gläschen Rotwein genossen, trank er jetzt überhaupt nichts mehr, nicht einmal Wasser. Dass er auf diese Weise überlebte, hätte ihn wundern müssen, aber er nahm es einfach als gegeben hin.

Er lebte wie ein Clochard und auch wieder nicht. Er trieb sich unter den Seine-Brücken herum wie sie, aber er durchwühlte nicht wie sie den Müll nach etwas Brauchbarem. Er brauchte nichts. Wenn er überhaupt einen Wunsch gehabt hätte, dann den: einzuschlafen und nicht wieder aufzuwachen. Doch nicht einmal das wurde ihm gewährt. Es blieb bei seinem Schattendasein. Er geisterte in der Stadt herum – ohne mit jemandem zu sprechen und ohne irgendjemandem in die Augen zu sehen. Die Leute, wenn sie überhaupt Notiz von ihm nahmen, sprachen von ihm als „dem Gespenst“.

So verging die Zeit, bis ihn seine ziellosen Streifzüge eines Vormittags auf den Place du Tertre führten. Zum ersten Mal seit Jahren lenkte etwas seine Aufmerksamkeit auf sich: Ein junger, unausgeschlafen wirkender Portraitmaler packte seine Malutensilien aus. Es zog ihn zu ihm hin. Mit einer Stimme, die, weil ewig nicht mehr benutzt, brüchig und heiser klang, bat er darum, portraitiert zu werden. Er sah, wie sich die Kiefermuskulatur des Malers anspannte, als er die Zähne zusammenbiss. Der Auftrag passte dem anderen nicht, ganz offensichtlich, aber er durfte ihn nicht ablehnen. Während der Künstler arbeitete, fühlte Jean-Marie nach langer Zeit wieder ein klein wenig Kraft durch seinen Körper strömen. Ein Seufzer entrang sich seiner Brust. Nicht dass er sich in sein früheres Leben zurückversetzt gefühlt hätte, bei weitem nicht, aber immerhin spürte er eine Änderung. Und alles, was anders war, war gut. Ein Silberstreif am Horizont. Als der Maler den letzten Pinselstrich getan hatte, drehte Jean-Marie sich um und schlich wortlos davon. Langsam, wie in Trance, bewegte er sich. Niemand hielt ihn auf, niemand verfolgte ihn. Er suchte die nächste Parkbank auf und streckte sich darauf aus. Sofort schlief er ein … und wachte nie mehr auf.
 



 
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