Hallo,
mein Name ist Ati und ich habe 2008 das Schreiben für mich entdeckt. Mittlerweile bin ich süchtig danach.
Bislang habe ich mich nur an längeren Texten versucht. Kürzlich wurde ich jedoch darauf angesprochen, ob ich mich nicht einmal an einer Kurzgeschichte versuchen will. Obwohl von Anfang an klar war, dass allein der Versuch zum Scheitern verurteilt war (Ati und kurz passt einfach nicht zusammen), bekam ich die Idee nicht mehr aus meinem Kopf. Mein Gedankenkarussell (was für ein Thema?) kreiste ununterbrochen und außerdem kribbelten meine Fingerspitzen unermüdlich.
Herausgekommen ist letztlich die nachfolgende Geschichte. Der Titel entstand aus der Erinnerung an einen Zeitungsartikel einer regionalen Zeitung. In dem wurde unter anderem vom Soldatenloch im Lundener Koog geschrieben. Eigentlich ist es keine Kurzgeschichte - dazu ist sie zu lang und außerdem fehlt das eine oder andere, was in einer Kurzgeschichte m. E. unabdingbar ist. Außerdem weiß ich nicht genau, welchem Genre ich sie zuordnen soll. Aber ich denke hier drin passt sie am ehesten. Ich freu mich jedenfalls schon auf eventuelle Kommentare.
Bis dahin
viele Grüße Ati
Ich nehme an, Sie kennen das. Man ringt mit sich, trifft dann eine Entscheidung, und kurz bevor dieser Entschluss Früchte trägt, stellt man ihn infrage. Natürlich kennen Sie das, so etwas erlebt jeder irgendwann. Ich gehöre allerdings zu denen, die sich ihr Leben lang so verhalten. Für einen Schritt nach vorne habe ich vermutlich stets zwei zurückgemacht. Deshalb bin ich auch nie über Lehe bzw. der Umgebung in einem Radius von 200 km hinausgekommen. Sie wissen nicht, wo Lehe liegt? Keine Sorge damit sind sie garantiert nicht alleine. Das ist eine kleine Gemeinde in Schleswig-Holstein, genauer gesagt in Dithmarschen. Dort wurde ich, Anne Peters, vor exakt 26 Jahren geboren. Dort bin ich aufgewachsen. Und eigentlich dachte ich bis vor vier Monaten auch noch, dass ich dort heiraten, meine Kinder kriegen und alt werden würde. Klingt schrecklich abgeklärt und langweilig, nicht wahr? Aber keine Sorge - wie heißt es so schön? Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt.
Vor vier Monaten entdeckte ich meinen (mittlerweilen Ex-) Freund in den Armen einer Frau – nackt, in Aktion, in unserem gemeinsamen Bett. Ich weiß nicht, wie Sie das sehen, aber für mich ist das ein absolutes no-go. Deshalb zog ich noch am gleichen Tag aus seiner Wohnung aus und mietete ein möbliertes Zimmer (auch wenn der Tourismus meinen Heimatort eher streift als trifft, gibt es glücklicherweise Leute, die so was vermieten). Sascha nannte mich eine hysterische Zicke, schien mich ansonsten aber nicht sonderlich zu vermissen. Vielleicht war ich ihm zu klein, zu blond, zu sehr Kindfrau? Sein Seitensprung war jedenfalls das genaue Gegenteil von mir. Was auch immer - der Dorfklatsch blühte.
So sehr, dass ich mich nur noch zur Arbeit (nach Hamburg) aus dem Haus traute. Fünf Wochen später kündigte ich diese Arbeit. Nicht sehr klug in der heutigen Zeit, ich weiß. Doch dummerweise war ich der Freundin meines Chefs, die fatalerweise gleichzeitig meine Abteilungsleiterin und Personalchefin war ein Dorn im Auge. Zu dem Dorn entwickelte ich mich, nachdem er und ich eine vollkommen harmlose Nacht zusammen verbrachten. Wir landeten freitags nach Büroschluss in einem Aufzug und der wiederum weigerte sich uns wieder raus zu lassen. Wir steckten bis zum nächsten Mittag darin fest und unterhielten uns über alles Mögliche. Schließlich springt nicht jede alleinstehende Frau jeden Mann an, sobald ein Aufzug stecken bleibt, oder? Seiner Freundin war unsere Geschichte trotzdem suspekt. Zum einen, weil sie grundsätzlich eifersüchtig reagierte und weil Marc (mein Chef) sich, nachdem ich ihm in dem Aufzug mein persönliches Dilemma erzählte, in der Folgewoche geradezu rührend um mich kümmerte. Das ließ sie zu einer Frau mutieren, gegen die die fünf Harpyien und die Medusa (keine der Hesperiden sondern die Gorgone) vereint wie zahme Lämmchen wirken. Sprich, sie machte mir das Leben innerhalb von zwei Wochen so zur Hölle, dass ich freiwillig ging.
Auf der Rückseite meiner Kündigungsbestätigung schrieb ich noch am selben Abend eine Liste. Das mache ich immer, wenn ich nicht weiter weiß. Und genau genommen stand ich mit meinen knapp 26 Jahren vor dem Nichts. Lehe ist klein und … sagen wir mal sehr ländlich. Ich lebte, nachdem ich mit Sascha Schluss gemacht hatte, in einem möblierten Zimmer. Das einfach deshalb, weil vor etwas mehr als einem Jahr das reetgedeckte Haus abbrannte, in dem meine Familie und zuletzt ich schon seit 1600-irgendwas lebte. Mit allem was drin und was wert war. Aus den Trümmern konnte man nur eine uralte Kassette retten, die die Feuerwehr unter den verkohlten Bodendielen am nächsten Tag dort fand und mir übergab. Die hütete ich seither wie einen Schatz. Da ich unterversichert und darüber hinaus ja für meine Begriffe eigentlich mit Sascha glücklich war, suchte ich mir keine eigene Wohnung sondern zog damals einfach zu ihm. Als Einzelkind von Einzelkindern (sowas scheint bei uns in der Familie zu liegen) gab es keine weiteren Angehörigen mehr, nachdem meine Eltern vor knapp drei Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben kamen.
Zurück zu der Liste: Nachdem ich solche Dinge wie „von der Eiderbrücke springen“, schnell wieder von meiner Liste strich, fanden sich so kluge Einfälle wie „neuen Job suchen“, „neue Wohnung suchen“, „neue Freunde suchen“ darauf. Leider gehöre ich zu dem Schlag Menschen, der eigene Freundschaften zugunsten des Partners aufgibt. Blöd, ich weiß.
Bereits einen Tag später begann ich akribisch meine kleine To-do-Liste abzuarbeiten. Ganz oben stand die Suche nach einem neuen Job. Wer Dithmarschen kennt, weiß, dass es ziemlich schwer ist, hier eine Arbeit zu finden. Wohnungen gibt es dagegen wie Sand am Meer. Da man Letztere aber bezahlen möchte und muss, wäre es sinnvoll einen guten Job zu haben, was hier oben wiederum schwierig wird. Deshalb dehnte ich meine Suche nach Wohnung und Job gleich am ersten Tag bundesweit aus. Es verblüffte mich völlig, als ich ausgerechnet in München innerhalb einer Woche zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen wurde und die Stelle auch noch bekam. Noch überraschter war ich, als ich ebenfalls mehr durch Zufall als durch gezielte Suche eine bezahl- und annehmbare Wohnung fand. Womöglich meinte es das Schicksal tatsächlich gut mit mir?
Tja, wie gesagt, meine Kündigung war das i-Tüpfelchen auf dem Scherbenhaufen meines bisherigen Lebens und die Idee mit dem Neuanfang war gleichermaßen erschreckend wie aufregend. Es war eigentlich alles okay, die neue Wohnung fertig eingerichtet, mein erster Arbeitstag rückte in greifbare Nähe. Sogar eine Einladung von meinen neuen Nachbarn für eine Party lag bereits auf dem Garderobenschrank. Alles bestens – und dann kam dieses alte „soll ich wirklich“-Gefühl. Und der Einfall noch einen letzten Abstecher nach Lehe zu machen. Ausgerechnet heute, an meinem Geburtstag. Dank der Billigfluglinien fand ich wider Erwarten sogar einen supergünstigen Hin- und Rückflug und befand mich schneller in Hamburg als normale Leute „tu’s nicht“ sagen können.
Bereits auf der Fahrt vom Flughafen nach Lehe verdichtete sich das Gedankenkarussell in meinem Kopf mehr und mehr. Ich bekam Heimweh, sobald ich an den ersten Windrädern vorbeifuhr. Jetzt konnte ich nur hoffen, meinem Ex nicht zu begegnen. Vermutlich würde ich losheulen, wenn wir uns tatsächlich über den Weg liefen. Genau genommen beherrschte mich gerade nur ein einziger Wunsch. Ich wollte trotz allem eigentlich nur hier bleiben. Die Idee mit dem Neuanfang sah plötzlich ziemlich dumm aus, obwohl rein vom Verstand her alles dafür sprach.
Obgleich die Chance Sascha zu begegnen eher unwahrscheinlich war (er arbeitete in Flensburg), stellte ich den Mietwagen außerhalb von Lunden, dem Nachbarort von Lehe, ab und lief einfach drauflos. Was gut war, mein Kopf wurde langsam freier – der Abschiedsschmerz blieb allerdings unverändert gleich. Dabei sollte ich jubeln, mich zumindest freuen oder einfach nur schrecklich neugierig sein. Ein Teil von mir riet, mich umgehend wieder in den Mietwagen zu setzen, nach Hamburg zurückzufahren und dort auf den Abflug zu warten. Idiotischerweise hatte ich die allerletzte Rückflugmöglichkeit gebucht – das war um kurz vor neun abends. Da ich den frühestmöglichen Flug genommen hatte, war es gerade erst zehn vor neun am Morgen. Wie ich die Zeit herumbringen sollte, war mir absolut schleierhaft, denn das Heimweh nagte an mir wie eine gefräßige Raupe. Ich würde – so viel war sicher - das nur ein paar Kilometer entfernte Meer, das Moor, die Deiche, die Weite und so ziemlich alles hier entsetzlich vermissen. Meine neue Wohnung in München befand sich mitten in der Stadt. Altbau, fünfter Stock. In Lehe und Umgebung war nichts außer den Windrädern, was auch nur annähernd so hoch wie die Häuser in München wäre. Ein erschreckender Gedanke.
Außerdem schien es fast, als wollte die Natur alles tun, um eben jenes bereits erwähnte, deutlich spürbare Heimweh zu schüren. Um mich an der Stelle zu halten, an der ich geboren und aufgewachsen war. Obwohl Dithmarschen nicht gerade als Costa del Sol bekannt ist, ist es besser als sein Ruf. Auch heute strahlte die Sonne von einem wolkenlosen, blauen Himmel. Genau wie in den vergangenen Wochen. Die Luft war warm, um nicht zu sagen heiß. Überall blühte es – es war einfach herrlich. Ich redete mir gut zu, dass ich hier immer noch Urlaub machen konnte. Jederzeit. Trotzdem fiel es mir schwer, mich einfach umzudrehen und zum Auto zu gehen. Stattdessen lief ich einfach weiter drauflos. Mein kleiner Spaziergang war mittlerweile zu einer bereits einstündigen Wanderung ausgeartet.
Das Flugticket knisterte leicht, als ich ein Bonbon aus der Brusttasche meiner Jacke fingerte. Warum ich das Ding bei mir trug, war mir ein Rätsel, aber auf den Gedanken, es im Auto zu lassen, bin ich gar nicht erst gekommen. Ich spreche jetzt von der Jacke, nicht vom Ticket. Während ich von dem holprigen Fahrweg abbog und mich querfeldein anschickte auf den Deich zu klettern, um einen Blick über die Eider zu werfen, packte ich das Bonbon aus und stopfte es in den Mund. Und verschluckte mich beinahe daran, weil ich im nächsten Moment fast über einen Mann stolperte, der am Boden lag. Ein Bein war leicht angezogen und das andere lag ausgestreckt darüber. Der rechte Arm lag leicht angewinkelt über seinem Kopf. Seine Augen waren geschlossen. Ich musste vorher total abgelenkt gewesen sein, denn ich hätte schwören können, dass die Stelle an der er lag, kurz zuvor leer war. Und außerdem kam so etwas hier draußen nicht allzu oft vor.
Im ersten Moment dachte ich, der Mann sei tot – wie gesagt, hier lag man nicht einfach so herum, obwohl sich eine laut Touristeninformation „idyllische Badestelle“ in unmittelbarer Nähe befand. Idyllisch war allerdings ein dehnbarer Begriff. Genau betrachtet waren Touristeninfos auch nur Werbung und bekanntermaßen war Werbung in den meisten Fällen gelinde gesagt leicht übertrieben. Die besagte Badestelle befand sich an der alten Hafeneinfahrt. Der Hafen war längst verschwunden, die alten Strudel und Wirbel, von denen meine Großmutter früher immer erzählte, waren jedoch geblieben. Wie viele Menschen letztlich in diesem Stück der Eider ertranken, wusste ich nicht; aber nach dem was meine Großmutter erzählte, kam das früher alljährlich vor. Heute wagten sich hier meist nur die Kinder aus dem nahegelegenen Jugendheim ins Wasser und die waren für meine Begriffe recht mutig. Außerdem befand sich die Badestelle bzw. die Liegewiese dahinter mitten auf einer momentan zugegebenermaßen leeren Schafweide. Leer allerdings nur im Sinne von „keine Schafe“. Ihre Hinterlassenschaften in Form von vermutlich Abertausenden Schafkötteln lagen überall herum.
Wie gesagt, im ersten Moment nahm ich an, der Mann sei tot. Zumindest jedoch bewusstlos. Dann allerdings fiel mir auf, dass er seine Augen geöffnet hatte und ziemlich träge auf einem Halm herum kaute, den er irgendwo (hoffentlich nicht auf dem Deich) gepflückt hatte. So was tun Tote oder Bewusstlose für gewöhnlich dann doch nicht. Und das Lächeln, das er mir schenkte, wirkte ebenfalls recht lebendig. Außerdem war seine Gesichtsfarbe viel zu gesund.
Puh – bei dem Lächeln wurde mein Mund schlagartig staubtrocken und ich bekam Schluckbeschwerden. Kennen Sie das? Man begegnet jemandem, der sagt nicht mal viel sondern sieht einen nur an, lächelt und man hat das Gefühl, einen Feuerball im Bauch zu haben? In meinem kribbelte es gerade zusätzlich so, als hätte es sich dort ein Ameisenvolk neben einer Horde Schmetterlinge gemütlich gemacht. Auch mein Sprachzentrum war betroffen. Mein „Moin-moin“ fiel recht krächzend aus. Obwohl ich normalerweise über ein gut funktionierendes Hirn verfügte, schien es gerade außer Betrieb zu sein.
Lange Rede, kurzer Sinn: Der Typ sah gemeingefährlich gut aus. Seine kurzen Haare waren dunkel, um nicht zu sagen schwarz, dicht und leicht gelockt. Obwohl er jung wirkte, war etwas an ihm, das darauf hindeutete, dass er nicht ganz so jung war. Auf den ersten Blick wirkte er wie Ende 20 – auf den Zweiten deutlich älter, auf den Dritten unbestimmbar. Seine Augen waren ungewöhnlich. In Romanen (jedenfalls in denen die ich gerne lese) würde stehen, dass sie förmlich glühten und glänzten. Sie waren von einer unbestimmbaren Farbe, erinnerten mich irgendwie am Hämatit, glänzend aber doch viel dunkler als dieser eben für gewöhnlich ist. Seine Augenbrauen waren genauso dunkel wie seine Kopfhaare, dicht gewachsen und leicht gebogen. Außerdem zierte ein Schurbart seine Oberlippe – etwas was ich normalerweise gar nicht abkann. Zu ihm passte es absolut. Ich ertappte mich dabei, dass ich ihn mit offenem Mund anstarrte, während er mich genauso ungeniert musterte, wie ich ihn. Seine Haut war gebräunt; von der Sonne, denn sein Hosenbund ließ einen schmalen weißen Streifen erkennen. Er war nicht sehr groß, vielleicht so 1,75 Meter. Schlank aber muskulös. Das konnte ich deshalb sehen, weil sein Hemd zusammengeknüllt unter seinem Kopf lag. Um seinen Hals lag ein altmodisches, silbernes Medaillon. Seine Beine steckten in schwarzen Hosen und Reitstiefeln, die schon mal bessere Tage gesehen hatten. Als er sich träge über die Brust strich, konnte ich erkennen, dass seine Hände kräftig, mit langen Fingern und sauber waren. Trotzdem konnte man ihnen deutlich ansehen, dass er viel damit arbeitete und zupacken konnte.
Ein Schnauben schreckte mich aus meiner Betrachtung. Zu meiner Überraschung stand ein Pferd in unmittelbarer Nähe. Es trug zwar Zaumzeug aber keinen Sattel. Überrascht war ich deshalb, weil hier auf dem Deich eigentlich keine Pferde erlaubt waren. Andererseits waren viele Dinge nicht erlaubt und genauso wie sich keiner daran hielt, störte es in den meisten Fällen so gut wie niemanden.
Sein Aussehen alleine haute mich fast um; aber als er meine Begrüßung nach einiger Zeit schließlich erwiderte, musste ich feststellen, dass seine Stimme sprichwörtlich dafür sorgte, dass ich in die Knie ging. Sie war sehr tief, leicht rau, und ich spürte das Vibrieren förmlich in meinem Bauch. Ich bin normalerweise eine vorsichtige, eher scheue Vertreterin meiner Art, aber heute wollte ich nichts mehr, als mich neben diesen Mann setzen, besser noch legen und mit ihm sprechen. Weiß der Geier warum, aber es war so. Und gleich darauf ertappte ich mich dabei, dass ich genau das machte. Ich saß schneller neben ihm, als er sich aufsetzen konnte. Das Pferd schnaubte wieder vor sich hin. Er stieß einen leisen Pfiff aus und es kam ein paar Schritte näher. Nicht einmal das erschreckte mich jetzt sonderlich. Obwohl ich ziemlichen Respekt vor diesen Tieren habe, blieb ich einfach so sitzen, während er dem Pferd über die weichen Nüstern strich.
Seine Sprache war etwas altmodisch, aber das konnte daran liegen, dass er nicht von hier kam. Letzteres konnte man deutlich an dem Akzent hören, mit dem er sprach. Alexander Stephanowitsch – er stellte sich tatsächlich auf eine total altmodische aber sehr anrührende Art vor - hörte sich irgendwie russisch für mich an. Und gleich darauf verriet er mir auch, dass er aus einem kleinen Dorf am Don stammte. Seufz. Vermutlich könnte er mir den Beipackzettel einer Hämorrhidensalbe vorlesen, und ich fände es geil, einfach weil er so eine fantastische Stimme hatte und ich seinen Mund und seine Augen - genau genommen den ganzen Kerl – einfach nur … anbetungswürdig … fand.
Tja, da lag ich nun auf dieser Deichwiese in Wollersum und unterhielt mich mit einem Wildfremden. Oder besser, ich quasselte ihn voll (dabei behaupteten die Leute immer, dass man mir jedes Wort aus der Nase ziehen müsste). Doch sein „du wirkst traurig“ sorgte dafür, dass ich zu erzählen anfing und noch lange nicht damit aufhörte, ihm zu verraten, dass ich von hier wegging und in München einen Neuanfang wagen wollte. Sogar wo ich dort wohnen würde, kam einfach so über meine Lippen. Kurz darauf hätte ich am liebsten geheult, weil mir wieder bewusst wurde, dass mir hier nur noch ein paar läppische Stunden blieben. Und das ausgerechnet jetzt, wo ich jemanden wie … ihn? … getroffen hatte. Noch so ein unter normalen Umständen völlig abwegiger Gedanke für mich. Ich stand mit beiden Beinen (mehr oder weniger) fest im Leben. Ich warf mich nicht einfach einem Wildfremden an den Hals und heulte fast bei dem Gedanken, von ihm weg zu müssen. Das war irgendwie nicht ich, aber genau das war es, was ich in dem Moment fühlte.
Alexander (er meinte ich solle ihn Sascha nennen, aber in Anbetracht der Tatsache, dass mein Ex so hieß, brachte ich das einfach nicht über meine Lippen) tröstete mich, indem er mich in den Arm nahm und vorsichtig wiegte. Und etwas sagte. Das meiste habe ich gar nicht mitbekommen. Dazu lenkte mich das Gefühl in seinem Arm zu sehr ab. Und sein Geruch, der … schwer zu beschreiben war. Ich roch alles Mögliche, aber er roch nicht wie die Männer, an denen ich schon mal so geschnuppert habe, wie an ihm. Also sein Geruch war definitiv zum Anbeißen und nicht abstoßend. Da war nichts Künstliches. Klingt vielleicht dumm, aber er roch äußerst männlich, ein wenig nach Rauch (von Feuer nicht von Zigaretten), etwas nach seinem Pferd und ansonsten einfach nur … nur … frisch, nein, das war es nicht allein. Er roch irgendwie … wie … das Lundener Moor an einem feuchten Tag? Keine Ahnung. Ich jedenfalls hätte am liebsten meine Nase für immer an seinem Hals vergraben.
Während ich noch seinen Geruch analysierte, bekam ich gerade noch mit, dass er heute Geburtstag hatte und dieser Tag doch deshalb eigentlich viel zu schade wäre, um so traurig zu sein. Das drang irgendwie glasklar zu mir durch und ich lächelte ihn an. So ein Zufall: Nicht nur dass er wie ein Traummann wirkte, nein, er hatte auch noch am gleichen Tag Geburtstag wie ich. So was müsste man tatsächlich feiern. Doch um irgendwo was trinken zu gehen, war es leider eindeutig zu früh. Also blieben wir zunächst einfach, wo wir waren und redeten und redeten.
Irgendwann habe ich gemerkt, dass sein Blick immer wieder an meiner linken Hand hängen blieb. Genauer gesagt, an dem Ring daran. Also habe ich ihn direkt vor sein Gesicht gehalten. „Schön, nicht?“
Okay, schön war ein relativer Begriff. Der Ring war eher für einen Mann als für eine Frau gemacht worden. Er war genauso schwer, wie er aussah. Selbst für meinen Daumen war er eigentlich zu groß. Ich konnte ihn nur tragen, weil ich als Kind immer an meinem linken Daumen lutschte und der deshalb etwas breiter war. Trotzdem habe ich ihn bereits ein paar Mal fast verloren. Ich wollte ihn allerdings auch nicht ändern lassen und ihn nicht zu tragen, kam ebenfalls nicht infrage, denn ohne ihn fühlte ich mich schrecklich nackt.
Nach dem Fund damals konnte ich es mir nicht verkneifen, mich damit schnurstracks für eine dieser Fernsehsendungen anzumelden, in denen unter anderem immer mal wieder alter, antiker Schmuck begutachtet und geschätzt wird. Dort wurde mir bestätigt, dass er aus Gold gearbeitet war. Auch die eingearbeiteten Steine waren echt. Der damals genannte Wert verschlug mir glatt die Sprache. Aber nicht er sondern die Geschichte dahinter machte ihn für mich wertvoll und schön.
Alexanders Nicken fiel kaum wahrnehmbar aus. Und einen Moment wirkte sein Gesicht förmlich versteinert. Dann lächelte er mich wieder an. „Er ist alt!“
Ich nickte. Er war definitiv alt. Auch wenn man „nur“ davon ausging, dass er genauso alt war, wie das was sich noch in dem Kästchen befunden hatte, welches der Feuerwehrmann mir nach dem Brand in die Hände drückte. Aber wie gesagt, ich hütete den Inhalt seither wie einen Schatz. Ich hatte noch niemandem wirklich erzählt, was genau sich noch darin befand. Bei Alexander sprudelten jedoch auch jetzt die Worte einfach nur aus mir heraus.
„Er ist, soweit ich weiß, von einer Vorfahrin von mir. Sie hieß auch Anne Peters – genau wie ich und wir haben sogar am gleichen Tag Geburtstag. Und sie war meine - warte – Ur-ur-ur-ur-ur-ur-ur-ur-ur-ur-ur-Großmutter. Sie wurde 1694 in Lehe geboren. Der Ring war so eine Art … Liebesgabe. Wo genau er herkommt, weiß ich nicht, aber laut einem Gutachter muss er wohl im 17. Jahrhundert gefertigt worden sein. Jedenfalls gehörte er einem Soldaten, einem Kosaken, der ihn anscheinend für besondere Verdienste von seinem Zaren bekommen hat. Und dieser Soldat hat ihn … Hier waren vielleicht mal Vorfahren von dir, wusstest du das?“
„Ja. Fast hier an der Stelle, an der wir jetzt sitzen, lagen 1713/1714 die Zelte von Zar Peter I.“
Seine Antwort überraschte mich etwas. Abgesehen davon, das stimmte, was er sagte, verblüffte mich, dass er es wusste. Ich selbst hatte bis vor dem Brand keine Ahnung davon und ich war hier aufgewachsen. Abgesehen von einer Person wusste vermutlich niemand aus meinem Bekanntenkreis viel darüber. Und hier saß ein Fremder neben mir und erzählte ganz selbstverständlich und in gewisser Weise stolz davon. Gerade deutete er mit dem Arm auf die andere Flussseite.
„Da drüben, in Tönning, stand eine Festung. Die Schweden haben sich dort verschanzt und Zar Peter und seine Soldaten kamen ihnen hierher nach. Hier, in Wollersum, standen seine Zelte. Der Rest der Truppen lag zwischen Friedrichstadt und Lunden, der Generalquartierstab in Heide. 3.000 Mann. Kosaken vom Don und vom Djnepr, Kalmücken aus der westlichen Mongolei und die russische Infanterie unter Bauer.“
Schwer vorstellbar. Ich meine, dass es so viele waren. Die Gegend um Lehe ist relativ dünn besiedelt. Da musste so eine Armee ziemlichen Staub aufgewirbelt haben. Allerdings zu wenig, um groß in den Geschichtsbüchern vermerkt zu werden. Im Internet fand ich jedenfalls kaum etwas, als ich der Geschichte aus der kleinen Schatulle nachgehen wollte.
„Ich bin beeindruckt. Hast du was mit Geschichte zu tun?“
Er blinzelte einen Moment verwirrt und schien gedanklich meilenweit entfernt gewesen zu sein. „Geschichte? Nein, ich …“ Sein Lächeln lenkte fast von dem seltsamen Ausdruck seiner Augen ab. Er wirkte eindeutig schmerzlich.
Um ihn aufzumuntern, plapperte ich einfach weiter. „Willst du noch was über den Ring wissen?“
Seine Kopfbewegung war unbestimmt und hätte auch ein „Nein“ ausdrücken können. Ich nahm sie jedoch einfach als „ja“ und redete weiter. Das Gefühl, das mich durchzuckte, als er meine Hand in seine schwieligen Finger nahm und sanft streichelte, störte meine Konzentration jedoch ziemlich – nur so nebenbei bemerkt: Es war geradezu göttlich!
„Also: Es gibt da eine Geschichte, dass unweit von hier – hinter der Biegung da drüben – im sogenannten Soldatenloch ein Soldat versenkt wurde. Allerdings 1814, da sind die Kosakentruppen sozusagen über Nacht hier eingefallen. Angeblich soll er der Tochter eines Bauern ziemlich nachgestellt und sie vergewaltigt haben. Der Bauer hat ihn darauf erschlagen und im Soldatenloch versenkt.“
An der Stelle unterbrach Alexander mich ernst. „Und wie kommst du dann darauf, dass der Ring eine Liebesgabe war?“
Ich lächelte. „Weil es nicht ganz so war, wie erzählt wird. Ich denke, dass es sich bei der Bauerntochter um Anne Peters gehandelt hat. Die beiden hatten tatsächlich was miteinander. Sonst würde ich hier heute vermutlich gar nicht sitzen. Meine Vorfahrin wurde nämlich schwanger. Aber nicht weil er sie vergewaltigt hat. Die beiden haben sich, nach dem was ich gefunden habe, ineinander verliebt und er hat ihr den Ring gegeben.“
„Dann denkst du also, dass die Geschichte vom Soldatenloch erfunden ist?“
Jetzt schüttelte ich den Kopf und wurde genauso ernst wie er. „Ja und nein. Die Jahreszahlen stimmen irgendwie nicht. Meine Vorfahrin wurde bereits 1694 geboren. Dann kann sie unmöglich 1814 mit diesem Kosaken liiert gewesen sein. Aber ich habe verschiedene Jahreszahlen gefunden, als ich nach irgendwelchen schriftlichen Aufzeichnungen von dem Vorfall gesucht habe. Einmal ist von 1814 die Rede, dann sogar von 1613 oder so. Ich glaube, dass der Vorfall sich tatsächlich im Sommer 1713 zugetragen hat. Der Soldat wurde ermordet und dort versenkt. Aber eben nicht, weil er sie vergewaltigt hat.
Er und Anne Peters sind sich näher gekommen, als ihrem Vater lieb war. Die Dithmarscher Bauern waren für ihr – wie soll ich sagen – aufbrausendes Wesen? bekannt. Die haben anscheinend ziemlich schnell und ziemlich nachhaltig für Abhilfe gesorgt. Jan Peters hat die Wahrheit aus Anne heraus geprügelt, auch den Ort an dem sie und der Soldat sich immer trafen. Er hat ihr verboten, ihn noch einmal zu treffen und geschworen, dass er ihn erschlägt, wenn sie es trotzdem tut. Da sie sich dem Verbot widersetzte, hat er die Drohung wahrgemacht und ihr hinterher erzählt, was er und ein paar Knechte mit dem Soldaten gemacht und dass sie seine Leiche im Soldatenloch versenkt haben.
Anne hat 1714 eine Tochter bekommen. Nach dem, was ich in Erfahrung bringen konnte, soll sie nach dem Mord recht wirr im Kopf gewesen sein. Ihr Vater hat ihr danach so gut wie jeden Wunsch erfüllt, wobei sie nicht mehr viele Wünsche hatte. Abgeblich musste man sie längere Zeit einsperren, weil sie immer weglaufen wollte. Einzig ihrer Tochter gegenüber soll sie sich normal verhalten und diese geradezu vergöttert haben. Zehn Jahre später verschwand sie dann tatsächlich. Einfach so. Ich denke, dass sie ihrem Leben im Soldatenloch ein Ende gesetzt hat, denn sie hat eine Art Abschiedsbrief und etwas wie ein Tagebuch hinterlassen – das bestand aus einem Bündel Seiten, die mit einem dicken Faden mehr oder weniger zusammengeheftet waren. Zusammen mit dem Ring und dem Kästchen, in dem alles versteckt lag. Allerdings weiß ich nicht, ob ihre Tochter oder irgendjemand vor mir überhaupt etwas von dem Kästchen wusste und es je zu Gesicht bekam.“
„Sie konnte schreiben?“
Etwas wie Ehrfurcht klang aus seiner Stimme heraus und ich musste unweigerlich wieder lächeln. „Ja, ungewöhnlich für eine Frau ihrer Zeit. Soweit ich weiß, gab es zwar um 1700 schon eine Art Schulpflicht, aber erstens war sie ein Mädchen und zweitens mussten die Kinder vermutlich eher auf dem Hof helfen, als lesen lernen. Außerdem war Papier kostbar. Aber wie gesagt, Ihr Vater hat ihr so gut wie jeden Wunsch erfüllt. Vermutlich auch den nach Papier und Tinte.
Es war teilweise sehr schwer, die Schrift zu entziffern. Vieles konnte ich gar nicht lesen, weil es zu ungelenk oder auch verblasst war. Seinen Namen beispielsweise konnte ich nicht ein einziges Mal klar erkennen. Irgendetwas mit ‚oscha‘ hinten. Mehr habe ich nicht daraus lesen können. Leider, den Namen hätte ich gerne gewusst. Aber im Großen und Ganzen denke ich, dass sich die Geschichte so zugetragen hat, wie ich dir gerade erzählt habe.“
Leider sorgte das, was ich da sagte, dafür, dass Alexanders Lächeln wie weggewischt war. Er strahlte im Moment eine solche Traurigkeit und Verzweiflung aus, dass sie fast mit Händen greifbar war. Gerade stand er auf und klopfte sich ein paar Halme von seiner Hose, und reichte mir eine Hand, um mir aufzuhelfen.
„Musst du schon gehen?“ Es war etwas peinlich, weil meine Stimme bei dieser Frage geradezu entsetzt klang, aber ich konnte sie mir einfach nicht verkneifen. Glücklicherweise beruhigte sich mein bei der Aussicht rasend schnell klopfendes Herz wieder, sobald er mich ansah. Seine Stimme klang freundlich auffordernd.
„Nein, ich dachte, wir gehen ein paar Schritte. Vielleicht möchtest du mir das Soldatenloch zeigen? Ich würde es gerne einmal sehen.“
„Oh, okay, ja klar. Wir müssen da lang.“
Eine Zeitlang gingen wir schweigend nebeneinander her, mussten ein paar der niedrigen Zäune überwinden und dem einen oder anderen Schaf ausweichen. Ich konnte schon immer gut mit jemandem schweigen, aber mit ihm war dieses Schweigen einfach fantastisch. Ich fühlte mich noch nie so wohl bei jemandem, in meinem ganzen Leben nicht. Obwohl er gedanklich garantiert nicht bei mir war und seit ich ihm die Sache mit meiner Vorfahrin erzählt hatte, seltsam distanziert wirkte, hatte ich nicht das Gefühl allein zu sein. Klingt total abgehoben, aber es war fast, als hätte ich einen Seelengefährten gefunden. Mein Wunsch hier zu bleiben stand plötzlich mit mehreren Ausrufezeichen in meinem Gehirn, obwohl ich nichts von Alexander wusste. Nicht wo er wovon lebte, ob er verheiratet war, Kinder hatte. Nichts, ich wusste einfach gar nichts und wäre trotzdem am liebsten bei ihm geblieben. Es war als wäre ich … angekommen. Ja, genau so fühlte ich unerklärlicherweise in seiner Gegenwart. Dabei wollte ich nach Saschas Seitensprung eigentlich fürs Erste mit keinem Mann mehr was zu tun haben. Dazu hatte mich sein Verhalten einfach zu sehr verletzt.
Nach einiger Zeit waren wir am Soldatenloch angelangt. Alexander ließ die Zügel von Anouk los und ging, Händchenhaltend mit mir, in Richtung Wasser. Das Soldatenloch war nicht sehr groß, es sah auch nicht wirklich bedrohlich aus. Und doch … Ich war, seit ich von der Geschichte wusste, sechs oder sieben Mal hier gewesen. Heute wirkte es allerdings zum ersten Mal auf mich, als ob es ein Geheimnis barg, das ich vielleicht lieber nicht wissen wollte. Leicht fröstelnd zog ich meine Schultern nach oben und griff fester nach Alexanders Hand. Meine Unruhe schien sich auf ihn zu übertragen. Er wirkte angespannt, während er am Wasser entlang ging.
„Es soll angeblich von einer Sturmflut übrig geblieben sein. Bevor sie das Sperrwerk errichtet haben, wurde die Gegend jahrhundertelang und oft sehr stark überschwemmt. Ich hab gelesen, dass das Soldatenloch unergründlich tief sein soll. Schwer vorstellbar, wenn man es so sieht, nicht? Ich denke ja eher, dass eine unterirdische Verbindung zum Fluss seine und ihre Leiche mehr oder weniger rausgezogen hat. Wenn Ebbe ist, kommt da ein ziemlicher Sog zustande. Vielleicht war es damals auch tiefer und größer als heute, weil man beide, soweit ich in Erfahrung bringen konnte, nie gefunden hat.“
Was auch immer. Alexander war so fasziniert von dem Gewässer, dass er mir gar nicht richtig zuzuhören schien. Zwischenzeitlich hielten wir uns nicht mehr an der Hand. Auf mich wirkte er verkrampft, während er direkt an der Uferkante entlanglief. Ein paar Mal ging er in die Hocke und starrte auf die Wasseroberfläche; fast als erwarte er, dass im nächsten Moment etwas auftauchte.
Vielleicht war die eine Stelle besonders glitschig oder er war einfach etwas tollpatschig, denn plötzlich geriet er ins Straucheln und fiel beinahe ins Wasser. Da ich direkt neben ihm war, traf mich sein Arm und ich verlor das Gleichgewicht. Es war ein komisches Gefühl, weil ich gleichzeitig zu dem Stoß in meinem Rücken das Gefühl hatte, dass etwas mich nach vorne zerrte.
Alexander konnte mich gerade noch zurückziehen und fluchte ausgiebig in seiner Muttersprache. Seine Arme umfingen mich wie ein Schraubstock und ich spürte, dass er zitterte und nach wie vor völlig verkrampft war. Ich fühlte, wie er über meine Schulter aufs Wasser starrte.
Ganz ehrlich: Da ja eigentlich gar nichts passiert war, fand ich sein Verhalten etwas übertrieben und gleichermaßen süß wie verwirrend. Auch wenn es nicht dazu passte, dass er vorher ja direkt an der Gewässerkante entlanglief, ging ich davon aus, dass er vermutlich nicht schwimmen konnte. Das Wasser schien ihm jedenfalls eine Heidenangst einzujagen, obwohl wir vermutlich der Länge nach reinfallen könnten, ohne dass etwas passierte.
Es dauerte eine ganze Weile, bis ich mich endlich behutsam aus seiner Umklammerung lösen konnte. Mir schossen die unmöglichsten Gedanken durch den Kopf. Ich hoffte beispielsweise, dass er kein Epileptiker war, weil er nach wie vor fast schon gebannt auf die Wasseroberfläche starrte. Vor ein paar Jahren bekam ich in St. Peter einen solchen Anfall live mit. Der Mann stierte damals auch geradezu paralysiert auf die glitzernde Wasseroberfläche und – zack – im nächsten Augenblick lag er krampfend am Boden und biss sich die Zunge blutig.
Dann jedoch fiel mir etwas auf, was mich völlig verwirrte. Das Wasser hier glitzerte nicht – obwohl die Sonne gleißend hell schien. Es wirkte, ölig, fast schwarz, leblos. Jedenfalls auf den ersten Blick. Gleich darauf glaubte ich nämlich, eine leichte Bewegung darin gesehen zu haben. Und zwar eine, die von etwas Größerem herrührte. Das dunkle Wasser kräuselte sich und mich überlief unerklärlicherweise eine Gänsehaut. Ein Fisch war das garantiert nicht gewesen. Ein Antlitz tauchte auf und ich konnte gerade noch einen Aufschrei unterdrücken. Immerhin starrte mir mein eigenes Gesicht entgegen. Das wäre zu peinlich gewesen, wenn ich, erschrocken über mein eigenes Spiegelbild im Wasser, losgebrüllt hätte, auch wenn die Frisur anders wirkte, als sie tatsächlich war.
Trotzdem verstärkte sich dieses unbehagliche Gefühl in mir und ich wandte mich vom Wasser ab. Ein paar Tropfen bewirkten, dass wir beide aufsahen. Das Wetter hier oben konnte recht schnell umschlagen. Allerdings regnete es auch bei uns nicht von einem wolkenlosen Himmel. Und heute war weit und breit keine Wolke in Sicht. Gleich darauf spürte ich wieder etwas. Und zwar in meinem Rücken. Ich wollte mich gerade umwenden, als Alexander mich mit einem Ruck vom Soldatenloch weg und zu Anouk hin zog. Wieder überlief mich eine Gänsehaut, denn abgesehen von seinem Gesichtsausdruck, der eindeutig beunruhigt wirkte, spürte ich eindeutig einen nassen Handabdruck in meinem Rücken, zwischen den Schulterblättern. Ein kleiner Blick über meine Schulter zeigte mir, dass sich dort auch etwas befand. Verblüfft blieb ich stehen, schlüpfte aus den Ärmeln meines Shirts und drehte es nach vorne. Klar und deutlich leuchtete dort der schmutzig-feuchte Abdruck einer Hand.
„Sieh dir das an! Wo kommt das denn her?“
Meine Finger deuteten auf den Abdruck. Alexander zuckte die Schultern.
„Vielleicht … vorher, als ich ausgerutscht bin und dich dann in den Arm genommen habe …“
Er beendete den Satz lahm, als ob er selbst nicht an das glaubte, was er da von sich gab. Seine Stimme wirkte auf den ersten Blick ruhig, aber ich glaubte, ein Zittern darin wahrzunehmen. Und genau wie ich, lief er eindeutig schneller zurück, als wir hergekommen waren. Ich brauchte schon allein 400 Meter, bevor ich das Shirt wieder richtig anhatte.
Mit jedem Schritt, den wir uns vom Soldatenloch entfernten, fühlte ich mich leichter und befreiter. So sehr, dass ich über mich und meine komischen Gefühle vorher lachen musste.
„Was ist so komisch?“
Obwohl seine Stirn gerunzelt war, sah ich auch sein Lächeln wieder und mir wurde plötzlich bewusst, dass es mir vorher eindeutig gefehlt hatte.
„Ich lache über mich. Natürlich muss der Abdruck von dir sein. Ich bin normalerweise nicht hysterisch. Aber ich glaube, ich habe mich da eben von dem Teil der Geschichte zu dem Ring beeinflussen lassen, den ich dir noch nicht erzählt habe.“
Sein Blick wurde wieder ernst.
„Was hast du mir denn noch nicht erzählt?“
Ich kicherte und nickte leicht.
„Nur eine Kleinigkeit. Natürlich ist da nichts dran, aber gerade da am Wasser, wirkte es gar nicht mehr so abwegig auf mich.“
Zwischenzeitlich waren wir wieder an unserem vorigen Platz an der Wollersumer Badestelle angelangt. Mit ziemlicher Erleichterung merkte ich, dass sowohl sein Hemd als auch meine Jacke - mit Geldbeutel, Schlüsseln und Ticket - noch an der gleichen Stelle lag, an der wir sie vorher einfach vergessen hatten. Ein ruhiges, beschauliches Landleben hat durchaus seine Vorteile.
„Was hältst du davon, wenn wir woanders hingehen und du mir diese Geschichte weiter erzählst?“
Das klang in meinen Ohren nicht schlecht, auch wenn ich einen schnellen Blick auf die Uhr warf, um zu sehen, wie viel Zeit mir noch blieb.
„Hast du vielleicht Lust mich ins Moor zu begleiten? Ich bin gerne dort, es erinnert mich immer ein wenig an zuhause.“
„Das Moor? Klar! Sieht es denn am Don so aus? Irgendwie hätte ich mir die Gegend da anders vorgestellt. Bringst du mich nachher auf Anouk wieder her? Ich meine, wegen meinem Auto und zum Laufen ist es ja doch ein ganzes Stück. Ich …“, ich warf einen zögerlichen Blick auf die Uhr, „… ich muss heute Abend so gegen sechs losfahren, weil ich doch zurück nach München fliege.“
Offenbar schien mein letzter Satz Alexander ziemlich betroffen zu machen, denn sein Gesichtsausdruck wurde gerade mehr als fragend. „Du fliegst?“
Schlug er gerade ein Kreuz? Die Bewegung war so schnell gewesen, dass ich mir nicht sicher war. „Ja, das ist angenehmer als die lange Fahrt. Und geht auch schneller.“
Dass ich ungern flog, sagte ich nicht. Am liebsten würde ich den Flug stornieren, die neue Wohnung kündigen, vom neuen Job ganz zu schweigen. Am liebsten würde ich hier bei ihm bleiben. Aber das konnte man jemandem, den man gerade drei Stunden kannte, kaum sagen. Also hielt ich diesbezüglich besser meine Klappe.
„Fliegen?“
Bis jetzt hatte er ziemlich intelligent auf mich gewirkt, aber bei der Frage oder vielmehr bei dem Tonfall der Frage, war ich mir nicht ganz sicher. „Mhm, fliegen – wie Vögel fliegen, Hubschrauber fliegen, Düsenjets fliegen, Heißluftballone – nein halt die fahren.“
„Hexen fliegen.“
„Na ja, Bibi Blocksberg soll das schon können auf ihrem Kartoffelbrei. Aber ich nehme lieber ein Flugzeug, weil ich keine Hexe bin. Außerdem stelle ich mir einen Flug auf die Distanz auf einem Besen recht beschwerlich vor. Da hätte ich bestimmt Schnupfen, wenn ich ankomme.“
Okay, seine Frage hatte verblüfft geklungen, sein Einwurf mit den Hexen etwas … kleinlaut? …. Aber sein Blick jetzt übertraf alles. Abgesehen davon, dass er an meinem Verstand zu zweifeln schien, wirkte er mehr als verwirrt.
„Wie bist du denn vom Don hierhergekommen?“
„Geritten und gelaufen.“
Die Antwort kam so prompt und ehrlich, dass ich keinen Zweifel daran hegte. Ich betrachtete sowohl Anouk als auch ihn mit neuen Augen. Mein längster Fußmarsch war mal von hier bis Ülvesbüll gewesen und danach war ich völlig k. o.
„Wow. Das würde ich garantiert nicht hinbekommen.“
„Beschäftigst du dich mit Magie?“
Ich lachte und schüttelte den Kopf. Magie? Wie kam er denn jetzt darauf?
„Ich – nein, lass das e hinten weg und bau ein zweites g in der Mitte ein. Klingt zwar immer noch ähnlich, aber magisch ist das nicht, was man aus den Beuteln und Tüten zaubern kann. Von Magie habe ich ehrlich gesagt keine Ahnung und ich glaube auch nicht daran. Deshalb verblüfft es mich ehrlich gesagt umso mehr, dass ich da drüben für einen Augenblick dachte, dass an dem Fluch tatsächlich etwas dran sein könnte.“
„Fluch?“
Seine Frage kam schnell und scharf und schien ihn völlig vom Thema fliegen abzubringen. Auch der Griff seiner Finger um mein Handgelenk wurde fast schmerzhaft. Er merkte mein Unbehagen sofort, denn er lockerte ihn wieder und drückte, sich entschuldigend, einen Kuss auf meinen Puls. Gleichzeitig hob er mich auf Anouk und schwang sich hinter mir auf den Pferderücken. Sobald sein Pferd sich in Bewegung setzte, spürte ich seinen Atem an meinem Ohr und hörte ihn flüstern.
„Entschuldige, das wollte ich eben nicht. Erzählst du mir von dem Fluch?“
Natürlich erzählte ich ihm davon. Das ging schnell. Himmel, es war schließlich nichts weiter als eine Geschichte. Aus einer Zeit, in der man vielleicht noch an so etwas glaubte. An Winterabenden, als es weder elektrisches Licht noch Fernsehen gab und man sich die Zeit bis zum Zubettgehen vertreiben wollte, kam so was bestimmt gut an. Vor allem wenn der Wind ums Haus pfiff oder der Nebel schwer überm Land hing. Und wer so etwas glaubte, könnte durchaus auf den Gedanken kommen, das zu tun, was meine namensgleiche Vorfahrin getan hatte. Sie hatte ihren Vater und seine Helfer für den Mord an ihrem Freund verflucht. Und geschworen, dass sie ihn suchen und finden würde. Und bis sie wieder vereint waren, sollte sein Geist sich die Töchter der Mörder holen.
Das war der ganze Fluch. Soweit ich in Erfahrung bringen konnte, war er in meiner Familie schon mal unmöglich wahr geworden, weil sie die einzige Tochter war. Die Nachkommen der Helfer konnte ich nicht herausfinden. Insoweit wusste ich nicht, ob sich der Fluch überhaupt einmal erfüllte. Das Einzige, was ich in dem Zusammenhang auffällig fand, war das abgesehen von Annike, der Tochter meiner Vorfahrin, und mir nur Jungen in meiner Familie geboren wurden. Aber das konnte ja unmöglich etwas mit dem Fluch zu tun haben. Und Annike verstarb zwar bereits mit 22, aber soweit ich wusste am Kindbettfieber und nichts anderem. Dennoch vorher am Soldatenloch … wie gesagt, kurz hatte ich den Eindruck, dass da etwas war, was dort so nicht sein sollte.
Alexander sagte eine Weile gar nichts. Dann lächelte er plötzlich. Ich spürte die Bewegung seiner Lippen an meinem Hals.
„Ich kenne auch eine Geschichte, die von einem jungen Paar handelt. Sie ging allerdings genauso traurig aus, wie deine. Willst du sie trotzdem hören?“
Während ich nickte, spürte ich seine Nase in meinem Haar.
Seine Stimme lullte mich gleich darauf ein. Ich spürte Anouks Bewegungen unter, seinen Körper hinter und seine Worte in mir. Seine Art zu erzählen hatte etwas Faszinierendes an sich. Er beschrieb bestimmte Szenen so eindeutig, als wäre er selbst dabei gewesen.
Seine Geschichte handelte von einem Kosakenführer, der seit Jahren mit seiner Truppe und seinem Zaren unterwegs war. Als Kosak war ihm der Tod nicht fremd und doch war er über vieles, was er auf diesem Feldzug sah, entsetzt. Mir lief es kalt den Rücken hinunter, als er beschrieb, wie Mädchen mit zusammengebundenen Knöcheln hinter den Pferden der Kosaken übers Pflaster geschleift, wie Ratsherren an Balken aufgeknüpft, wie Kinder erschlagen wurden, wenn die Soldaten siegreich waren.
„Schwer vorstellbar, dass man sich in so jemanden verlieben kann. So wie sich das anhört, haben die ja alles gebrandmarkt, vergewaltigt oder ermordet, was ihnen in den Weg kam, oder?“
„Nicht alle benahmen sich wie die Tiere. Und oft schritten die Offiziere ein. Einmal, in Narwa, gar der Zar selbst.“
Während ich sicher vor ihm auf dem Pferderücken saß, erzählte er von einem Peitschenduell, das sich der Zar anscheinend mit einem Kosakenführer, der sonst zu seinem Stab gehörte, geliefert hatte, weil dieser ihm vorwarf, verweichlicht zu sein. Der Kosakenführer unterlag in dem Duell und der Zar befahl daraufhin, ihn zu töten. Sein Mund wurde mit Schießpulver gefüllt und das wurde angezündet. Dieses Erlebnis hatte der Soldat gerade in dem Jahr miterlebt, in dem er zu der Truppe gekommen war, fast noch ein Kind.
Jahre später lernte er dann hier in Dithmarschen eine junge Bauerntochter kennen und plötzlich traten der Krieg und die damit verbundenen Gräueltaten in den Hintergrund. In den gestohlenen Momenten mit ihr, wuchs der Wunsch nach einem ruhigen Leben, obwohl ihn der Gedanke auf Dauer an einem Ort, in einem festen Haus zu leben maßlos erschreckte. Die beiden trafen sich so oft es möglich war. Ihr Treffpunkt war immer ein kleines Gewässer nahe der Eider. Vielleicht das Soldatenloch, vielleicht auch nicht. Bald tauschten sie im Schatten der beiden dort stehenden, kleinen Bäume Zärtlichkeiten aus, träumten von einer gemeinsamen Zukunft – obwohl die real gar nicht so rosig für die beiden aussah. Er war immerhin ein Soldat, wusste nicht, wann es wohin ging oder ob er jemals an den Don zurückkehrte. Und hierbleiben konnte er auch nicht einfach so. Während die Bauerntochter ihm ein Medaillon mit ihrem Bild schenkte, schenkte ihr der Soldat einen Ring.
Ich musste in mich hinein grinsen, das hier hörte sich doch verdächtig wie meine Geschichte an, auch wenn er sie weitaus besser erzählen konnte als ich. Dennoch lauschte ich gebannt, als Alexander weitersprach.
Irgendwann beschlossen die beiden gemeinsam aus Dithmarschen wegzugehen, um in Hamburg oder gar Hannover einen Neuanfang zu wagen. Er unerlaubt von seiner Truppe, sie unerlaubt von ihrer Familie. Doch exakt an dem Tag, an dem die beiden ihren Plan in die Tat umsetzen wollten, kam seine Freundin nicht. Stattdessen überraschten ihn der wütende Vater und ein paar seiner Knechte am verabredeten Treffpunkt.
Durch die Geschichte kam mir der Weg ins Moor ungeheuer kurz vor, obwohl wir dazu erst einmal nach Lunden, dort quer durch den Ort und außerhalb des Ortes noch etwa einen Kilometer reiten mussten, bevor wir die ersten Bäume erreichten. Ich glaube, wir begegneten nicht einmal jemandem.
Das Moor ist nicht mehr sehr groß. Zwar gibt es Wasserflächen mit insgesamt 7.400 m², aber na ja, viel ist vom ursprünglichen Gebiet vermutlich nicht mehr da. Wir kamen an eine kleine Lichtung und setzten uns an einen der Miniseen.
„Was ist aus dem Soldaten geworden?“
Einen Moment wirkte Alexander verwirrt. „Er hat irgendwie überlebt. Aber er hat das Mädchen nie wieder gesehen, obwohl er noch lange, lange Zeit auf sie gewartet, sie oft gesucht und die Hoffnung nie aufgegeben hat.“
In dem Moment hätte ich heulen können, weil mir der Soldat leidtat. Und das Mädchen. Trotz allem hätte ich vermutlich jeden anderen Mann als Weichei betrachtet, wenn er bei so einer Geschichte ebenfalls Tränen in den Augen gehabt hätte. Alexander, der gerade mit verdächtig glitzernden Augen in den Himmel sah und sich auf die Lippen biss, wollte ich stattdessen lieber in die Arme nehmen und trösten – was ich auch machte.
Die Blätter der Birken raschelten, die Luft roch nach Wildrosen und Gras. Die Schilfhalme bewegten sich leicht im Wind. Insekten summten um uns herum. Habe ich schon erwähnt, dass die Ausrufezeichen hinter meinem Wunsch hierzubleiben immer größer wurden? Spätestens als Alexander und ich uns das erste Mal küssten. Anfangs scheu, dann jedoch zunehmend leidenschaftlicher. Himmlisch aufregend und trotzdem ungeheuer zärtlich. Ich hätte stundenlang so weitermachen können. Alles in und um mich herum rückte absolut in den Hintergrund. Nur Alexander war in diesem Moment wichtig. Die Gedanken an den Vorfall am Soldatenloch und seine verstörend detaillierte Geschichte auf dem Weg hierher, alles andere, was mir sonst so durch den Kopf ging, lösten sich dabei ins Nichts auf. Ich stand von der ersten Haarspitze bis runter zu den Zehen völlig unter Strom. In dem Moment war ich wirklich zu allem bereit und das zeigte sich daran, dass ich ihm sagte, was mir vorher durch den Kopf gegangen war.
„Ich wünschte, ich könnte bei dir bleiben. Ich wünschte, ich müsste nicht nach München fliegen. Ich wünschte, wir könnten für immer zusammen sein.“
Den Atem musste ich danach nicht anhalten. Alexander wirkte von meinen Worten in keinster Weise erschreckt. Vielmehr strahlten seine Augen und gaben mir erneut das Gefühl, genau am richtigen Ort zu sein; einen – nein meinen - Seelengefährten gefunden zu haben. Seine Stimme klang rau, während er mir über meine Wange streichelnd antwortete.
„Du ahnst gar nicht, wie sehr auch ich mir das wünsche. Für immer wünsche. Ich habe schon ewig darauf gewartet.“
Okay, das klang jetzt etwas übertrieben, aber das war mir absolut egal. Ich war in diesem Moment einfach nur glücklich.
Dummerweise wurden wir unterbrochen. Von ein paar unterdrückten, aber ziemlich wütend klingenden Stimmen. Während ich mich verlegen aufsetzte, zog Alexander eine altmodische, angelaufene Taschenuhr aus seiner Hose und starrte auf das gesprungene Zifferblatt. Keine Ahnung, was er da ablesen wollte; das Ding sah nicht aus, als wäre es die Zeit sonderlich aufgezogen worden. Die Uhr ging außerdem vor, soweit ich das sehen konnte. Sie zeigte bereits 18.00 Uhr an.
Alexanders Gesichtsausdruck wirkte schlagartig wachsam und besorgt. Die Stimmen wurden lauter. Einheimische, wenn ich mal vom Dialekt ausging. Ich stand vorsichtig auf und spähte über die hochgewachsenen Schilfhalme.
Doch da war nichts. Nicht mal ein Reh war zu sehen. Die Stimmen verstummten schlagartig, genauso wie das Rascheln der Blätter oder Schilfhalme, das Summen der Insekten. Ein Schatten fiel über mich und ich merkte aufblickend, wie der Himmel sich rasch mit dunklen Wolken zuzog. Wind kam auf. Trotzdem blieb um uns herum alles unnatürlich still. Totenstill. Gleichzeitig schien alle Farbe aus meiner Umgebung gewichen zu sein. Noch nicht einmal riechen konnte ich gerade etwas.
Nur unbewusst nahm ich wahr, dass Alexander unterdrückt in meine Richtung flüsterte. Es klang, wie „oh Gott, ich dachte … ich muss weg“, aber sicher war ich mir nicht. Hätte ich nur aufmerksamer zugehört, wäre ich nur mit ihm gegangen. Vielleicht wäre dann alles anders gekommen. Aber in dem Moment stand ich wie paralysiert da und konnte mich nicht bewegen. Ich hörte nicht einmal, dass er ging.
Die Stimmen waren wieder zu hören. Laut, wütend, äußerst bedrohlich. Sie fielen in der eigentlichen Stille noch viel mehr auf. Dumpfe Schläge erklangen und sorgten dafür, dass ich mich verängstigt umsah. Alexander war wirklich weg. Hatte mich hier einfach alleine gelassen. Die unheimliche Stimmung nahm zu und ich drehte mich hilflos mehrmals im Kreis, weil ich nicht wusste, was hier geschah.
Als meine Eltern vor ein paar Jahren bei dem Unfall ums Leben kamen, saß ich hinten im Wagen. Ich habe gespürt, wie sie gestorben sind, habe ihre Todesangst gefühlt, ihre Schmerzen. Jeder, dem ich später davon erzählte, meinte, dass diese Gefühle von meinen eigenen Verletzungen kamen. Jetzt, hier und heute, fühlte ich es wieder. Schmerzen und Todesangst. Doch jetzt war ich nicht verletzt.
Der Himmel hatte sich zwischenzeitlich ganz zugezogen. Violett-schwarze Wolken ballten sich drohend über mir zusammen und ein Grollen war zu hören. Ein Blitz schlug in einen Baum in der Nähe ein. Das Krachen und Splittern des Holzes und löste mich aus meiner Erstarrung. Ich rannte blindlings los und der einzige Gedanke, der mich beherrschte war „raus hier!!!!!“.
Allzu weit kam ich nicht, denn ich blieb mit meinem Fuß in etwas hängen. Zu Boden stürzend, verdrehte mir den Knöchel so, dass ich ganz deutlich spürte, wie er brach. Ich schrie nach Alexander. Ich schrie genau genommen nach allem Möglichen, am meisten jedoch nach ihm; aber mittlerweile hatte sich wieder die Stille über das Moor gesenkt. Meine Schreie wurden irgendwie von der dunklen Stimmung um mich herum verschluckt. Jetzt hätte es genau genommen nur noch gefehlt, dass sich Nebel über alles legte. Aber davon blieb ich glücklicherweise verschont.
Die unheimliche Stille hielt noch ein paar Minuten. Dann verschwand sie genauso plötzlich wie die dunklen Wolken über mir. Das Einsetzen der normalen Geräusche – das Summen der Insekten, das Rascheln von Blättern und Schilfhalmen kam mir übernatürlich laut vor. Der Geruch der Heckenrosen war betäubend süß. Zu süß, um keinen Würgereiz in mir auszulösen. Ich atmete mehrmals tief durch und versuchte dann meinen Knöchel zu befreien. Super, irgendjemand hatte hier etwas entsorgt und ich musste natürlich prompt darin hängenbleiben.
Mein Fuß war gerade frei, als mir auffiel, was genau ich da in den Händen hielt und was teilweise noch im Boden steckte. Das Leder war alt und brüchig, das wenige Metall verrostet. Irgendwie erinnerte es mich an Anouks Zaumzeug. Meine Kehle war so eng, dass ich nicht mehr schlucken konnte. Wider besseres Wissen rief ich nach Alexander. Doch natürlich kam auch jetzt keine Antwort. Noch immer konnte ich nicht schlucken und mein Herz raste wie verrückt. Mit schmerzverzerrtem Mund kämpfte ich mich auf die Beine und machte ein paar zaghafte Schritte. Mein Knöchel fühlte sich seltsam taub an und schmerzte doch so sehr, dass jeder Schritt die Hölle war.
Nach ein paar Metern, für die ich über eine halbe Stunde brauchte, fiel mir ein Ast etwas abseits des Weges ins Auge, auf den ich so schnell als möglich zu humpelte. Immerhin schien er hervorragend als Krücke geeignet zu sein; und wenn ich je aus dem Moor, das angesichts meines verletzten Knöchels, plötzlich erschreckend groß auf mich wirkte, herauskommen wollte, brauchte ich definitiv etwas, worauf ich mich stützen konnte. Blieb nur zu hoffen, dass das Ding nicht morsch war.
Leider bestätigte sich jedoch meine Befürchtung und ich sah mich frustriert nach eventuellem Ersatz um. Hier lag haufenweise Holz, aber das meiste war zu kurz oder auf den ersten Blick zu brüchig. Nach einer Weile entdeckte ich allerdings etwas Passendes und ich hob den Ast erleichtert auf. Dadurch wurde das Laufen zwar nicht gut, aber besser.
Ich fluchte halblaut vor mich hin, dass ich zwar liebend gerne hier bleiben wollte, aber nicht unbedingt, weil ich mir die Knochen brach. Ich fluchte, weil Alexander einfach so verschwunden war. Ich fluchte, weil ich trotz allem einfach bei ihm sein wollte. Ich fluchte, weil die Schmerzen kaum auszuhalten waren. Ich fluchte, weil der Boden unter mir sich etwas wackelig anfühlte und ich in meiner Verzweiflung auf so was überhaupt nicht aufgepasst hatte. Himmel, ich war hier im Moor! Ich fluchte, was das Zeug hielt.
Direkt neben meinem Fuß, reflektierte etwas die Sonnenstrahlen. Ich hörte auf zu fluchen und bückte mich automatisch. Warum weiß ich selbst nicht, im Moment hatte ich weiß Gott andere Sorgen. Meine eiskalten Finger schlossen sich um etwas Metallisches. Aufheben konnte ich es jedoch nicht, denn es steckte im Boden. Ohne wirklich auf meinen schmerzenden Knöchel zu achten, ließ ich mich auf die Knie nieder und zog etwas fester daran. Der Boden gab ein leicht schmatzendes Geräusch von sich, als er endlich losließ.
Vorsichtig rieb ich über meinen Fund. Es war eine Kette mit einem Medaillon. Ein eisiger Hauch streifte mich, als ich merkte, dass es das Medaillon war, das Alexander vorher um den Hals hatte. Ich rief nach ihm und sah mich suchend um. Die Kette war gerissen. Womöglich war Alexander etwas passiert. Womöglich hatte er genau gewusst, wer da vorher im Wald auftauchte und war vor ihnen geflohen. Womöglich hatten die ihn erwischt, anders konnte ich mir die zerrissene Kette nicht erklären. Schauergeschichten fielen mir ein. Obwohl ich in meinem ganzen Leben nicht mitbekommen hatte, dass jemand hier versunken war, konnte das vermutlich durchaus passieren. Erneut rief ich nach Alexander und erneut antworteten mir nur die Geräusche der Natur um mich herum.
Meine linke Hand umklammerte fest das Medaillon, meine Rechte den Ast und ich kam mit einem Wimmern auf die Beine. Ich musste Hilfe holen. Das alles war einfach mehr als ich alleine bewältigen konnte. Ich stützte mich schwer auf den Stock, um meinen Knöchel nicht unnötig zu belasten.
Im nächsten Moment gab der Boden unter meinen Füßen nach und ich fiel. Der Sturz war nicht bodenlos. Es ging vielleicht drei, allerhöchstens vier Meter nach unten und es ging so schnell, dass ich nicht mal schreien konnte. Zu meiner Überraschung landete ich nicht im Wasser, dafür aber überraschend weich. Bislang war ich immer davon ausgegangen, dass zugewachsene Torflöcher – in einem solchen musste ich grade eingebrochen sein - sich wieder mit Wasser befüllten. Schlammigem, morastigem Wasser, das einen unnachgiebig in die Tiefe zog. Während ich vorsichtig meine Glieder sortierte, musste ich feststellen, dass der Boden unter mir mehr oder weniger trocken und einigermaßen fest war. Ich war ungeheuer erleichtert, dass das so war. Doch wie ich hier wieder herauskommen sollte, war mir absolut schleierhaft.
Ein stechender Schmerz in meiner linken Hand lenkte mich von meinen Überlegungen ab. Das Medaillon war aufgesprungen und der Verschluss bohrte sich in meine Haut. Ein Sonnenstrahl fiel auf das Bild darin und ich keuchte entsetzt auf. Es war fast, als ob ich in einen Miniaturspiegel sah. Dieselben Augen, derselbe Mund. Lediglich die Frisur war anders als meine. Atemlos fiel mir auf, dass sie der Frisur ähnelte, die ich vorher im Soldatenloch glaubte, gesehen zu haben. Auf der linken Seite war eine Gravur. Im schwächer werdenden Licht konnte ich gerade noch entziffern, was dort stand: „Anne Peters, geboren 30.06.1694.“
Das Licht ließ mehr und mehr nach. So schnell konnte die Sonne nicht untergehen, dazu war es noch viel zu früh. Ein panisches Wimmern stieg in meiner Kehle auf, als ich nach oben blickte und zusehen musste, wie das etwa einen Meter große Loch über mir wie von Geisterhand wieder zu wuchs.
Bevor mich die Dunkelheit endgültig umhüllte, bemerkte ich eine kleine Bewegung rechts von mir. Ich drehte mich um und sah ein Paar Beine, in schwarze Hosen und Reitstiefel gehüllt war, die schon einmal bessere Tage gesehen hatten. Alexanders Gesicht war bleich, eine Hälfte blutüberströmt. Sein Oberkörper war voller Verletzungen und er streckte die Hand nach mir aus. Über seine Lippen kam ein fast tonloses Flüstern.
„Du bist gekommen, du bist endlich gekommen. Lass mich nicht allein.“
Wimmernd glitt ich auf ihn zu und griff nach seiner Hand. Fassungslos über das, was hier gerade passierte, fühlte ich erneut seinen Schmerz und seine Todesangst und doch auch unendliche Erleichterung, mich zu sehen. Während das letzte Licht schwand, weil das Loch über uns komplett zugewachsen war, schmiegte ich mich an ihn und nahm ihn in die Arme. Ich streichelte ihn unablässig, während ich fühlte, wie sich das alte Torfloch mit morastigem Wasser füllte. Mein Handy piepste. Ich hatte morgens noch den Wecker daran gestellt, weil ich spätestens um 18.00 Uhr wieder nach Hamburg zurückfahren wollte.
Die Panik fiel von mir ab und ich wurde völlig ruhig. Ein Lächeln schlich sich in meine Mundwinkel, während ich mit beruhigenden Worten auf Alexander einredete, dessen Atemzüge zunehmend schwächer wurden. Ich würde sterben, aber das war nicht schlimm, denn mein Wunsch hierzubleiben hatte sich erfüllt. Ich war bei Alexander. Für immer.
mein Name ist Ati und ich habe 2008 das Schreiben für mich entdeckt. Mittlerweile bin ich süchtig danach.
Bislang habe ich mich nur an längeren Texten versucht. Kürzlich wurde ich jedoch darauf angesprochen, ob ich mich nicht einmal an einer Kurzgeschichte versuchen will. Obwohl von Anfang an klar war, dass allein der Versuch zum Scheitern verurteilt war (Ati und kurz passt einfach nicht zusammen), bekam ich die Idee nicht mehr aus meinem Kopf. Mein Gedankenkarussell (was für ein Thema?) kreiste ununterbrochen und außerdem kribbelten meine Fingerspitzen unermüdlich.
Herausgekommen ist letztlich die nachfolgende Geschichte. Der Titel entstand aus der Erinnerung an einen Zeitungsartikel einer regionalen Zeitung. In dem wurde unter anderem vom Soldatenloch im Lundener Koog geschrieben. Eigentlich ist es keine Kurzgeschichte - dazu ist sie zu lang und außerdem fehlt das eine oder andere, was in einer Kurzgeschichte m. E. unabdingbar ist. Außerdem weiß ich nicht genau, welchem Genre ich sie zuordnen soll. Aber ich denke hier drin passt sie am ehesten. Ich freu mich jedenfalls schon auf eventuelle Kommentare.
Bis dahin
viele Grüße Ati
Das Soldatenloch
Eine Kurz(e)Geschichte
© Antje Jürgens
30. Juni 2007
Eine Kurz(e)Geschichte
© Antje Jürgens
30. Juni 2007
Ich nehme an, Sie kennen das. Man ringt mit sich, trifft dann eine Entscheidung, und kurz bevor dieser Entschluss Früchte trägt, stellt man ihn infrage. Natürlich kennen Sie das, so etwas erlebt jeder irgendwann. Ich gehöre allerdings zu denen, die sich ihr Leben lang so verhalten. Für einen Schritt nach vorne habe ich vermutlich stets zwei zurückgemacht. Deshalb bin ich auch nie über Lehe bzw. der Umgebung in einem Radius von 200 km hinausgekommen. Sie wissen nicht, wo Lehe liegt? Keine Sorge damit sind sie garantiert nicht alleine. Das ist eine kleine Gemeinde in Schleswig-Holstein, genauer gesagt in Dithmarschen. Dort wurde ich, Anne Peters, vor exakt 26 Jahren geboren. Dort bin ich aufgewachsen. Und eigentlich dachte ich bis vor vier Monaten auch noch, dass ich dort heiraten, meine Kinder kriegen und alt werden würde. Klingt schrecklich abgeklärt und langweilig, nicht wahr? Aber keine Sorge - wie heißt es so schön? Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt.
Vor vier Monaten entdeckte ich meinen (mittlerweilen Ex-) Freund in den Armen einer Frau – nackt, in Aktion, in unserem gemeinsamen Bett. Ich weiß nicht, wie Sie das sehen, aber für mich ist das ein absolutes no-go. Deshalb zog ich noch am gleichen Tag aus seiner Wohnung aus und mietete ein möbliertes Zimmer (auch wenn der Tourismus meinen Heimatort eher streift als trifft, gibt es glücklicherweise Leute, die so was vermieten). Sascha nannte mich eine hysterische Zicke, schien mich ansonsten aber nicht sonderlich zu vermissen. Vielleicht war ich ihm zu klein, zu blond, zu sehr Kindfrau? Sein Seitensprung war jedenfalls das genaue Gegenteil von mir. Was auch immer - der Dorfklatsch blühte.
So sehr, dass ich mich nur noch zur Arbeit (nach Hamburg) aus dem Haus traute. Fünf Wochen später kündigte ich diese Arbeit. Nicht sehr klug in der heutigen Zeit, ich weiß. Doch dummerweise war ich der Freundin meines Chefs, die fatalerweise gleichzeitig meine Abteilungsleiterin und Personalchefin war ein Dorn im Auge. Zu dem Dorn entwickelte ich mich, nachdem er und ich eine vollkommen harmlose Nacht zusammen verbrachten. Wir landeten freitags nach Büroschluss in einem Aufzug und der wiederum weigerte sich uns wieder raus zu lassen. Wir steckten bis zum nächsten Mittag darin fest und unterhielten uns über alles Mögliche. Schließlich springt nicht jede alleinstehende Frau jeden Mann an, sobald ein Aufzug stecken bleibt, oder? Seiner Freundin war unsere Geschichte trotzdem suspekt. Zum einen, weil sie grundsätzlich eifersüchtig reagierte und weil Marc (mein Chef) sich, nachdem ich ihm in dem Aufzug mein persönliches Dilemma erzählte, in der Folgewoche geradezu rührend um mich kümmerte. Das ließ sie zu einer Frau mutieren, gegen die die fünf Harpyien und die Medusa (keine der Hesperiden sondern die Gorgone) vereint wie zahme Lämmchen wirken. Sprich, sie machte mir das Leben innerhalb von zwei Wochen so zur Hölle, dass ich freiwillig ging.
Auf der Rückseite meiner Kündigungsbestätigung schrieb ich noch am selben Abend eine Liste. Das mache ich immer, wenn ich nicht weiter weiß. Und genau genommen stand ich mit meinen knapp 26 Jahren vor dem Nichts. Lehe ist klein und … sagen wir mal sehr ländlich. Ich lebte, nachdem ich mit Sascha Schluss gemacht hatte, in einem möblierten Zimmer. Das einfach deshalb, weil vor etwas mehr als einem Jahr das reetgedeckte Haus abbrannte, in dem meine Familie und zuletzt ich schon seit 1600-irgendwas lebte. Mit allem was drin und was wert war. Aus den Trümmern konnte man nur eine uralte Kassette retten, die die Feuerwehr unter den verkohlten Bodendielen am nächsten Tag dort fand und mir übergab. Die hütete ich seither wie einen Schatz. Da ich unterversichert und darüber hinaus ja für meine Begriffe eigentlich mit Sascha glücklich war, suchte ich mir keine eigene Wohnung sondern zog damals einfach zu ihm. Als Einzelkind von Einzelkindern (sowas scheint bei uns in der Familie zu liegen) gab es keine weiteren Angehörigen mehr, nachdem meine Eltern vor knapp drei Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben kamen.
Zurück zu der Liste: Nachdem ich solche Dinge wie „von der Eiderbrücke springen“, schnell wieder von meiner Liste strich, fanden sich so kluge Einfälle wie „neuen Job suchen“, „neue Wohnung suchen“, „neue Freunde suchen“ darauf. Leider gehöre ich zu dem Schlag Menschen, der eigene Freundschaften zugunsten des Partners aufgibt. Blöd, ich weiß.
Bereits einen Tag später begann ich akribisch meine kleine To-do-Liste abzuarbeiten. Ganz oben stand die Suche nach einem neuen Job. Wer Dithmarschen kennt, weiß, dass es ziemlich schwer ist, hier eine Arbeit zu finden. Wohnungen gibt es dagegen wie Sand am Meer. Da man Letztere aber bezahlen möchte und muss, wäre es sinnvoll einen guten Job zu haben, was hier oben wiederum schwierig wird. Deshalb dehnte ich meine Suche nach Wohnung und Job gleich am ersten Tag bundesweit aus. Es verblüffte mich völlig, als ich ausgerechnet in München innerhalb einer Woche zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen wurde und die Stelle auch noch bekam. Noch überraschter war ich, als ich ebenfalls mehr durch Zufall als durch gezielte Suche eine bezahl- und annehmbare Wohnung fand. Womöglich meinte es das Schicksal tatsächlich gut mit mir?
Tja, wie gesagt, meine Kündigung war das i-Tüpfelchen auf dem Scherbenhaufen meines bisherigen Lebens und die Idee mit dem Neuanfang war gleichermaßen erschreckend wie aufregend. Es war eigentlich alles okay, die neue Wohnung fertig eingerichtet, mein erster Arbeitstag rückte in greifbare Nähe. Sogar eine Einladung von meinen neuen Nachbarn für eine Party lag bereits auf dem Garderobenschrank. Alles bestens – und dann kam dieses alte „soll ich wirklich“-Gefühl. Und der Einfall noch einen letzten Abstecher nach Lehe zu machen. Ausgerechnet heute, an meinem Geburtstag. Dank der Billigfluglinien fand ich wider Erwarten sogar einen supergünstigen Hin- und Rückflug und befand mich schneller in Hamburg als normale Leute „tu’s nicht“ sagen können.
Bereits auf der Fahrt vom Flughafen nach Lehe verdichtete sich das Gedankenkarussell in meinem Kopf mehr und mehr. Ich bekam Heimweh, sobald ich an den ersten Windrädern vorbeifuhr. Jetzt konnte ich nur hoffen, meinem Ex nicht zu begegnen. Vermutlich würde ich losheulen, wenn wir uns tatsächlich über den Weg liefen. Genau genommen beherrschte mich gerade nur ein einziger Wunsch. Ich wollte trotz allem eigentlich nur hier bleiben. Die Idee mit dem Neuanfang sah plötzlich ziemlich dumm aus, obwohl rein vom Verstand her alles dafür sprach.
Obgleich die Chance Sascha zu begegnen eher unwahrscheinlich war (er arbeitete in Flensburg), stellte ich den Mietwagen außerhalb von Lunden, dem Nachbarort von Lehe, ab und lief einfach drauflos. Was gut war, mein Kopf wurde langsam freier – der Abschiedsschmerz blieb allerdings unverändert gleich. Dabei sollte ich jubeln, mich zumindest freuen oder einfach nur schrecklich neugierig sein. Ein Teil von mir riet, mich umgehend wieder in den Mietwagen zu setzen, nach Hamburg zurückzufahren und dort auf den Abflug zu warten. Idiotischerweise hatte ich die allerletzte Rückflugmöglichkeit gebucht – das war um kurz vor neun abends. Da ich den frühestmöglichen Flug genommen hatte, war es gerade erst zehn vor neun am Morgen. Wie ich die Zeit herumbringen sollte, war mir absolut schleierhaft, denn das Heimweh nagte an mir wie eine gefräßige Raupe. Ich würde – so viel war sicher - das nur ein paar Kilometer entfernte Meer, das Moor, die Deiche, die Weite und so ziemlich alles hier entsetzlich vermissen. Meine neue Wohnung in München befand sich mitten in der Stadt. Altbau, fünfter Stock. In Lehe und Umgebung war nichts außer den Windrädern, was auch nur annähernd so hoch wie die Häuser in München wäre. Ein erschreckender Gedanke.
Außerdem schien es fast, als wollte die Natur alles tun, um eben jenes bereits erwähnte, deutlich spürbare Heimweh zu schüren. Um mich an der Stelle zu halten, an der ich geboren und aufgewachsen war. Obwohl Dithmarschen nicht gerade als Costa del Sol bekannt ist, ist es besser als sein Ruf. Auch heute strahlte die Sonne von einem wolkenlosen, blauen Himmel. Genau wie in den vergangenen Wochen. Die Luft war warm, um nicht zu sagen heiß. Überall blühte es – es war einfach herrlich. Ich redete mir gut zu, dass ich hier immer noch Urlaub machen konnte. Jederzeit. Trotzdem fiel es mir schwer, mich einfach umzudrehen und zum Auto zu gehen. Stattdessen lief ich einfach weiter drauflos. Mein kleiner Spaziergang war mittlerweile zu einer bereits einstündigen Wanderung ausgeartet.
Das Flugticket knisterte leicht, als ich ein Bonbon aus der Brusttasche meiner Jacke fingerte. Warum ich das Ding bei mir trug, war mir ein Rätsel, aber auf den Gedanken, es im Auto zu lassen, bin ich gar nicht erst gekommen. Ich spreche jetzt von der Jacke, nicht vom Ticket. Während ich von dem holprigen Fahrweg abbog und mich querfeldein anschickte auf den Deich zu klettern, um einen Blick über die Eider zu werfen, packte ich das Bonbon aus und stopfte es in den Mund. Und verschluckte mich beinahe daran, weil ich im nächsten Moment fast über einen Mann stolperte, der am Boden lag. Ein Bein war leicht angezogen und das andere lag ausgestreckt darüber. Der rechte Arm lag leicht angewinkelt über seinem Kopf. Seine Augen waren geschlossen. Ich musste vorher total abgelenkt gewesen sein, denn ich hätte schwören können, dass die Stelle an der er lag, kurz zuvor leer war. Und außerdem kam so etwas hier draußen nicht allzu oft vor.
Im ersten Moment dachte ich, der Mann sei tot – wie gesagt, hier lag man nicht einfach so herum, obwohl sich eine laut Touristeninformation „idyllische Badestelle“ in unmittelbarer Nähe befand. Idyllisch war allerdings ein dehnbarer Begriff. Genau betrachtet waren Touristeninfos auch nur Werbung und bekanntermaßen war Werbung in den meisten Fällen gelinde gesagt leicht übertrieben. Die besagte Badestelle befand sich an der alten Hafeneinfahrt. Der Hafen war längst verschwunden, die alten Strudel und Wirbel, von denen meine Großmutter früher immer erzählte, waren jedoch geblieben. Wie viele Menschen letztlich in diesem Stück der Eider ertranken, wusste ich nicht; aber nach dem was meine Großmutter erzählte, kam das früher alljährlich vor. Heute wagten sich hier meist nur die Kinder aus dem nahegelegenen Jugendheim ins Wasser und die waren für meine Begriffe recht mutig. Außerdem befand sich die Badestelle bzw. die Liegewiese dahinter mitten auf einer momentan zugegebenermaßen leeren Schafweide. Leer allerdings nur im Sinne von „keine Schafe“. Ihre Hinterlassenschaften in Form von vermutlich Abertausenden Schafkötteln lagen überall herum.
Wie gesagt, im ersten Moment nahm ich an, der Mann sei tot. Zumindest jedoch bewusstlos. Dann allerdings fiel mir auf, dass er seine Augen geöffnet hatte und ziemlich träge auf einem Halm herum kaute, den er irgendwo (hoffentlich nicht auf dem Deich) gepflückt hatte. So was tun Tote oder Bewusstlose für gewöhnlich dann doch nicht. Und das Lächeln, das er mir schenkte, wirkte ebenfalls recht lebendig. Außerdem war seine Gesichtsfarbe viel zu gesund.
Puh – bei dem Lächeln wurde mein Mund schlagartig staubtrocken und ich bekam Schluckbeschwerden. Kennen Sie das? Man begegnet jemandem, der sagt nicht mal viel sondern sieht einen nur an, lächelt und man hat das Gefühl, einen Feuerball im Bauch zu haben? In meinem kribbelte es gerade zusätzlich so, als hätte es sich dort ein Ameisenvolk neben einer Horde Schmetterlinge gemütlich gemacht. Auch mein Sprachzentrum war betroffen. Mein „Moin-moin“ fiel recht krächzend aus. Obwohl ich normalerweise über ein gut funktionierendes Hirn verfügte, schien es gerade außer Betrieb zu sein.
Lange Rede, kurzer Sinn: Der Typ sah gemeingefährlich gut aus. Seine kurzen Haare waren dunkel, um nicht zu sagen schwarz, dicht und leicht gelockt. Obwohl er jung wirkte, war etwas an ihm, das darauf hindeutete, dass er nicht ganz so jung war. Auf den ersten Blick wirkte er wie Ende 20 – auf den Zweiten deutlich älter, auf den Dritten unbestimmbar. Seine Augen waren ungewöhnlich. In Romanen (jedenfalls in denen die ich gerne lese) würde stehen, dass sie förmlich glühten und glänzten. Sie waren von einer unbestimmbaren Farbe, erinnerten mich irgendwie am Hämatit, glänzend aber doch viel dunkler als dieser eben für gewöhnlich ist. Seine Augenbrauen waren genauso dunkel wie seine Kopfhaare, dicht gewachsen und leicht gebogen. Außerdem zierte ein Schurbart seine Oberlippe – etwas was ich normalerweise gar nicht abkann. Zu ihm passte es absolut. Ich ertappte mich dabei, dass ich ihn mit offenem Mund anstarrte, während er mich genauso ungeniert musterte, wie ich ihn. Seine Haut war gebräunt; von der Sonne, denn sein Hosenbund ließ einen schmalen weißen Streifen erkennen. Er war nicht sehr groß, vielleicht so 1,75 Meter. Schlank aber muskulös. Das konnte ich deshalb sehen, weil sein Hemd zusammengeknüllt unter seinem Kopf lag. Um seinen Hals lag ein altmodisches, silbernes Medaillon. Seine Beine steckten in schwarzen Hosen und Reitstiefeln, die schon mal bessere Tage gesehen hatten. Als er sich träge über die Brust strich, konnte ich erkennen, dass seine Hände kräftig, mit langen Fingern und sauber waren. Trotzdem konnte man ihnen deutlich ansehen, dass er viel damit arbeitete und zupacken konnte.
Ein Schnauben schreckte mich aus meiner Betrachtung. Zu meiner Überraschung stand ein Pferd in unmittelbarer Nähe. Es trug zwar Zaumzeug aber keinen Sattel. Überrascht war ich deshalb, weil hier auf dem Deich eigentlich keine Pferde erlaubt waren. Andererseits waren viele Dinge nicht erlaubt und genauso wie sich keiner daran hielt, störte es in den meisten Fällen so gut wie niemanden.
Sein Aussehen alleine haute mich fast um; aber als er meine Begrüßung nach einiger Zeit schließlich erwiderte, musste ich feststellen, dass seine Stimme sprichwörtlich dafür sorgte, dass ich in die Knie ging. Sie war sehr tief, leicht rau, und ich spürte das Vibrieren förmlich in meinem Bauch. Ich bin normalerweise eine vorsichtige, eher scheue Vertreterin meiner Art, aber heute wollte ich nichts mehr, als mich neben diesen Mann setzen, besser noch legen und mit ihm sprechen. Weiß der Geier warum, aber es war so. Und gleich darauf ertappte ich mich dabei, dass ich genau das machte. Ich saß schneller neben ihm, als er sich aufsetzen konnte. Das Pferd schnaubte wieder vor sich hin. Er stieß einen leisen Pfiff aus und es kam ein paar Schritte näher. Nicht einmal das erschreckte mich jetzt sonderlich. Obwohl ich ziemlichen Respekt vor diesen Tieren habe, blieb ich einfach so sitzen, während er dem Pferd über die weichen Nüstern strich.
Seine Sprache war etwas altmodisch, aber das konnte daran liegen, dass er nicht von hier kam. Letzteres konnte man deutlich an dem Akzent hören, mit dem er sprach. Alexander Stephanowitsch – er stellte sich tatsächlich auf eine total altmodische aber sehr anrührende Art vor - hörte sich irgendwie russisch für mich an. Und gleich darauf verriet er mir auch, dass er aus einem kleinen Dorf am Don stammte. Seufz. Vermutlich könnte er mir den Beipackzettel einer Hämorrhidensalbe vorlesen, und ich fände es geil, einfach weil er so eine fantastische Stimme hatte und ich seinen Mund und seine Augen - genau genommen den ganzen Kerl – einfach nur … anbetungswürdig … fand.
Tja, da lag ich nun auf dieser Deichwiese in Wollersum und unterhielt mich mit einem Wildfremden. Oder besser, ich quasselte ihn voll (dabei behaupteten die Leute immer, dass man mir jedes Wort aus der Nase ziehen müsste). Doch sein „du wirkst traurig“ sorgte dafür, dass ich zu erzählen anfing und noch lange nicht damit aufhörte, ihm zu verraten, dass ich von hier wegging und in München einen Neuanfang wagen wollte. Sogar wo ich dort wohnen würde, kam einfach so über meine Lippen. Kurz darauf hätte ich am liebsten geheult, weil mir wieder bewusst wurde, dass mir hier nur noch ein paar läppische Stunden blieben. Und das ausgerechnet jetzt, wo ich jemanden wie … ihn? … getroffen hatte. Noch so ein unter normalen Umständen völlig abwegiger Gedanke für mich. Ich stand mit beiden Beinen (mehr oder weniger) fest im Leben. Ich warf mich nicht einfach einem Wildfremden an den Hals und heulte fast bei dem Gedanken, von ihm weg zu müssen. Das war irgendwie nicht ich, aber genau das war es, was ich in dem Moment fühlte.
Alexander (er meinte ich solle ihn Sascha nennen, aber in Anbetracht der Tatsache, dass mein Ex so hieß, brachte ich das einfach nicht über meine Lippen) tröstete mich, indem er mich in den Arm nahm und vorsichtig wiegte. Und etwas sagte. Das meiste habe ich gar nicht mitbekommen. Dazu lenkte mich das Gefühl in seinem Arm zu sehr ab. Und sein Geruch, der … schwer zu beschreiben war. Ich roch alles Mögliche, aber er roch nicht wie die Männer, an denen ich schon mal so geschnuppert habe, wie an ihm. Also sein Geruch war definitiv zum Anbeißen und nicht abstoßend. Da war nichts Künstliches. Klingt vielleicht dumm, aber er roch äußerst männlich, ein wenig nach Rauch (von Feuer nicht von Zigaretten), etwas nach seinem Pferd und ansonsten einfach nur … nur … frisch, nein, das war es nicht allein. Er roch irgendwie … wie … das Lundener Moor an einem feuchten Tag? Keine Ahnung. Ich jedenfalls hätte am liebsten meine Nase für immer an seinem Hals vergraben.
Während ich noch seinen Geruch analysierte, bekam ich gerade noch mit, dass er heute Geburtstag hatte und dieser Tag doch deshalb eigentlich viel zu schade wäre, um so traurig zu sein. Das drang irgendwie glasklar zu mir durch und ich lächelte ihn an. So ein Zufall: Nicht nur dass er wie ein Traummann wirkte, nein, er hatte auch noch am gleichen Tag Geburtstag wie ich. So was müsste man tatsächlich feiern. Doch um irgendwo was trinken zu gehen, war es leider eindeutig zu früh. Also blieben wir zunächst einfach, wo wir waren und redeten und redeten.
Irgendwann habe ich gemerkt, dass sein Blick immer wieder an meiner linken Hand hängen blieb. Genauer gesagt, an dem Ring daran. Also habe ich ihn direkt vor sein Gesicht gehalten. „Schön, nicht?“
Okay, schön war ein relativer Begriff. Der Ring war eher für einen Mann als für eine Frau gemacht worden. Er war genauso schwer, wie er aussah. Selbst für meinen Daumen war er eigentlich zu groß. Ich konnte ihn nur tragen, weil ich als Kind immer an meinem linken Daumen lutschte und der deshalb etwas breiter war. Trotzdem habe ich ihn bereits ein paar Mal fast verloren. Ich wollte ihn allerdings auch nicht ändern lassen und ihn nicht zu tragen, kam ebenfalls nicht infrage, denn ohne ihn fühlte ich mich schrecklich nackt.
Nach dem Fund damals konnte ich es mir nicht verkneifen, mich damit schnurstracks für eine dieser Fernsehsendungen anzumelden, in denen unter anderem immer mal wieder alter, antiker Schmuck begutachtet und geschätzt wird. Dort wurde mir bestätigt, dass er aus Gold gearbeitet war. Auch die eingearbeiteten Steine waren echt. Der damals genannte Wert verschlug mir glatt die Sprache. Aber nicht er sondern die Geschichte dahinter machte ihn für mich wertvoll und schön.
Alexanders Nicken fiel kaum wahrnehmbar aus. Und einen Moment wirkte sein Gesicht förmlich versteinert. Dann lächelte er mich wieder an. „Er ist alt!“
Ich nickte. Er war definitiv alt. Auch wenn man „nur“ davon ausging, dass er genauso alt war, wie das was sich noch in dem Kästchen befunden hatte, welches der Feuerwehrmann mir nach dem Brand in die Hände drückte. Aber wie gesagt, ich hütete den Inhalt seither wie einen Schatz. Ich hatte noch niemandem wirklich erzählt, was genau sich noch darin befand. Bei Alexander sprudelten jedoch auch jetzt die Worte einfach nur aus mir heraus.
„Er ist, soweit ich weiß, von einer Vorfahrin von mir. Sie hieß auch Anne Peters – genau wie ich und wir haben sogar am gleichen Tag Geburtstag. Und sie war meine - warte – Ur-ur-ur-ur-ur-ur-ur-ur-ur-ur-ur-Großmutter. Sie wurde 1694 in Lehe geboren. Der Ring war so eine Art … Liebesgabe. Wo genau er herkommt, weiß ich nicht, aber laut einem Gutachter muss er wohl im 17. Jahrhundert gefertigt worden sein. Jedenfalls gehörte er einem Soldaten, einem Kosaken, der ihn anscheinend für besondere Verdienste von seinem Zaren bekommen hat. Und dieser Soldat hat ihn … Hier waren vielleicht mal Vorfahren von dir, wusstest du das?“
„Ja. Fast hier an der Stelle, an der wir jetzt sitzen, lagen 1713/1714 die Zelte von Zar Peter I.“
Seine Antwort überraschte mich etwas. Abgesehen davon, das stimmte, was er sagte, verblüffte mich, dass er es wusste. Ich selbst hatte bis vor dem Brand keine Ahnung davon und ich war hier aufgewachsen. Abgesehen von einer Person wusste vermutlich niemand aus meinem Bekanntenkreis viel darüber. Und hier saß ein Fremder neben mir und erzählte ganz selbstverständlich und in gewisser Weise stolz davon. Gerade deutete er mit dem Arm auf die andere Flussseite.
„Da drüben, in Tönning, stand eine Festung. Die Schweden haben sich dort verschanzt und Zar Peter und seine Soldaten kamen ihnen hierher nach. Hier, in Wollersum, standen seine Zelte. Der Rest der Truppen lag zwischen Friedrichstadt und Lunden, der Generalquartierstab in Heide. 3.000 Mann. Kosaken vom Don und vom Djnepr, Kalmücken aus der westlichen Mongolei und die russische Infanterie unter Bauer.“
Schwer vorstellbar. Ich meine, dass es so viele waren. Die Gegend um Lehe ist relativ dünn besiedelt. Da musste so eine Armee ziemlichen Staub aufgewirbelt haben. Allerdings zu wenig, um groß in den Geschichtsbüchern vermerkt zu werden. Im Internet fand ich jedenfalls kaum etwas, als ich der Geschichte aus der kleinen Schatulle nachgehen wollte.
„Ich bin beeindruckt. Hast du was mit Geschichte zu tun?“
Er blinzelte einen Moment verwirrt und schien gedanklich meilenweit entfernt gewesen zu sein. „Geschichte? Nein, ich …“ Sein Lächeln lenkte fast von dem seltsamen Ausdruck seiner Augen ab. Er wirkte eindeutig schmerzlich.
Um ihn aufzumuntern, plapperte ich einfach weiter. „Willst du noch was über den Ring wissen?“
Seine Kopfbewegung war unbestimmt und hätte auch ein „Nein“ ausdrücken können. Ich nahm sie jedoch einfach als „ja“ und redete weiter. Das Gefühl, das mich durchzuckte, als er meine Hand in seine schwieligen Finger nahm und sanft streichelte, störte meine Konzentration jedoch ziemlich – nur so nebenbei bemerkt: Es war geradezu göttlich!
„Also: Es gibt da eine Geschichte, dass unweit von hier – hinter der Biegung da drüben – im sogenannten Soldatenloch ein Soldat versenkt wurde. Allerdings 1814, da sind die Kosakentruppen sozusagen über Nacht hier eingefallen. Angeblich soll er der Tochter eines Bauern ziemlich nachgestellt und sie vergewaltigt haben. Der Bauer hat ihn darauf erschlagen und im Soldatenloch versenkt.“
An der Stelle unterbrach Alexander mich ernst. „Und wie kommst du dann darauf, dass der Ring eine Liebesgabe war?“
Ich lächelte. „Weil es nicht ganz so war, wie erzählt wird. Ich denke, dass es sich bei der Bauerntochter um Anne Peters gehandelt hat. Die beiden hatten tatsächlich was miteinander. Sonst würde ich hier heute vermutlich gar nicht sitzen. Meine Vorfahrin wurde nämlich schwanger. Aber nicht weil er sie vergewaltigt hat. Die beiden haben sich, nach dem was ich gefunden habe, ineinander verliebt und er hat ihr den Ring gegeben.“
„Dann denkst du also, dass die Geschichte vom Soldatenloch erfunden ist?“
Jetzt schüttelte ich den Kopf und wurde genauso ernst wie er. „Ja und nein. Die Jahreszahlen stimmen irgendwie nicht. Meine Vorfahrin wurde bereits 1694 geboren. Dann kann sie unmöglich 1814 mit diesem Kosaken liiert gewesen sein. Aber ich habe verschiedene Jahreszahlen gefunden, als ich nach irgendwelchen schriftlichen Aufzeichnungen von dem Vorfall gesucht habe. Einmal ist von 1814 die Rede, dann sogar von 1613 oder so. Ich glaube, dass der Vorfall sich tatsächlich im Sommer 1713 zugetragen hat. Der Soldat wurde ermordet und dort versenkt. Aber eben nicht, weil er sie vergewaltigt hat.
Er und Anne Peters sind sich näher gekommen, als ihrem Vater lieb war. Die Dithmarscher Bauern waren für ihr – wie soll ich sagen – aufbrausendes Wesen? bekannt. Die haben anscheinend ziemlich schnell und ziemlich nachhaltig für Abhilfe gesorgt. Jan Peters hat die Wahrheit aus Anne heraus geprügelt, auch den Ort an dem sie und der Soldat sich immer trafen. Er hat ihr verboten, ihn noch einmal zu treffen und geschworen, dass er ihn erschlägt, wenn sie es trotzdem tut. Da sie sich dem Verbot widersetzte, hat er die Drohung wahrgemacht und ihr hinterher erzählt, was er und ein paar Knechte mit dem Soldaten gemacht und dass sie seine Leiche im Soldatenloch versenkt haben.
Anne hat 1714 eine Tochter bekommen. Nach dem, was ich in Erfahrung bringen konnte, soll sie nach dem Mord recht wirr im Kopf gewesen sein. Ihr Vater hat ihr danach so gut wie jeden Wunsch erfüllt, wobei sie nicht mehr viele Wünsche hatte. Abgeblich musste man sie längere Zeit einsperren, weil sie immer weglaufen wollte. Einzig ihrer Tochter gegenüber soll sie sich normal verhalten und diese geradezu vergöttert haben. Zehn Jahre später verschwand sie dann tatsächlich. Einfach so. Ich denke, dass sie ihrem Leben im Soldatenloch ein Ende gesetzt hat, denn sie hat eine Art Abschiedsbrief und etwas wie ein Tagebuch hinterlassen – das bestand aus einem Bündel Seiten, die mit einem dicken Faden mehr oder weniger zusammengeheftet waren. Zusammen mit dem Ring und dem Kästchen, in dem alles versteckt lag. Allerdings weiß ich nicht, ob ihre Tochter oder irgendjemand vor mir überhaupt etwas von dem Kästchen wusste und es je zu Gesicht bekam.“
„Sie konnte schreiben?“
Etwas wie Ehrfurcht klang aus seiner Stimme heraus und ich musste unweigerlich wieder lächeln. „Ja, ungewöhnlich für eine Frau ihrer Zeit. Soweit ich weiß, gab es zwar um 1700 schon eine Art Schulpflicht, aber erstens war sie ein Mädchen und zweitens mussten die Kinder vermutlich eher auf dem Hof helfen, als lesen lernen. Außerdem war Papier kostbar. Aber wie gesagt, Ihr Vater hat ihr so gut wie jeden Wunsch erfüllt. Vermutlich auch den nach Papier und Tinte.
Es war teilweise sehr schwer, die Schrift zu entziffern. Vieles konnte ich gar nicht lesen, weil es zu ungelenk oder auch verblasst war. Seinen Namen beispielsweise konnte ich nicht ein einziges Mal klar erkennen. Irgendetwas mit ‚oscha‘ hinten. Mehr habe ich nicht daraus lesen können. Leider, den Namen hätte ich gerne gewusst. Aber im Großen und Ganzen denke ich, dass sich die Geschichte so zugetragen hat, wie ich dir gerade erzählt habe.“
Leider sorgte das, was ich da sagte, dafür, dass Alexanders Lächeln wie weggewischt war. Er strahlte im Moment eine solche Traurigkeit und Verzweiflung aus, dass sie fast mit Händen greifbar war. Gerade stand er auf und klopfte sich ein paar Halme von seiner Hose, und reichte mir eine Hand, um mir aufzuhelfen.
„Musst du schon gehen?“ Es war etwas peinlich, weil meine Stimme bei dieser Frage geradezu entsetzt klang, aber ich konnte sie mir einfach nicht verkneifen. Glücklicherweise beruhigte sich mein bei der Aussicht rasend schnell klopfendes Herz wieder, sobald er mich ansah. Seine Stimme klang freundlich auffordernd.
„Nein, ich dachte, wir gehen ein paar Schritte. Vielleicht möchtest du mir das Soldatenloch zeigen? Ich würde es gerne einmal sehen.“
„Oh, okay, ja klar. Wir müssen da lang.“
Eine Zeitlang gingen wir schweigend nebeneinander her, mussten ein paar der niedrigen Zäune überwinden und dem einen oder anderen Schaf ausweichen. Ich konnte schon immer gut mit jemandem schweigen, aber mit ihm war dieses Schweigen einfach fantastisch. Ich fühlte mich noch nie so wohl bei jemandem, in meinem ganzen Leben nicht. Obwohl er gedanklich garantiert nicht bei mir war und seit ich ihm die Sache mit meiner Vorfahrin erzählt hatte, seltsam distanziert wirkte, hatte ich nicht das Gefühl allein zu sein. Klingt total abgehoben, aber es war fast, als hätte ich einen Seelengefährten gefunden. Mein Wunsch hier zu bleiben stand plötzlich mit mehreren Ausrufezeichen in meinem Gehirn, obwohl ich nichts von Alexander wusste. Nicht wo er wovon lebte, ob er verheiratet war, Kinder hatte. Nichts, ich wusste einfach gar nichts und wäre trotzdem am liebsten bei ihm geblieben. Es war als wäre ich … angekommen. Ja, genau so fühlte ich unerklärlicherweise in seiner Gegenwart. Dabei wollte ich nach Saschas Seitensprung eigentlich fürs Erste mit keinem Mann mehr was zu tun haben. Dazu hatte mich sein Verhalten einfach zu sehr verletzt.
Nach einiger Zeit waren wir am Soldatenloch angelangt. Alexander ließ die Zügel von Anouk los und ging, Händchenhaltend mit mir, in Richtung Wasser. Das Soldatenloch war nicht sehr groß, es sah auch nicht wirklich bedrohlich aus. Und doch … Ich war, seit ich von der Geschichte wusste, sechs oder sieben Mal hier gewesen. Heute wirkte es allerdings zum ersten Mal auf mich, als ob es ein Geheimnis barg, das ich vielleicht lieber nicht wissen wollte. Leicht fröstelnd zog ich meine Schultern nach oben und griff fester nach Alexanders Hand. Meine Unruhe schien sich auf ihn zu übertragen. Er wirkte angespannt, während er am Wasser entlang ging.
„Es soll angeblich von einer Sturmflut übrig geblieben sein. Bevor sie das Sperrwerk errichtet haben, wurde die Gegend jahrhundertelang und oft sehr stark überschwemmt. Ich hab gelesen, dass das Soldatenloch unergründlich tief sein soll. Schwer vorstellbar, wenn man es so sieht, nicht? Ich denke ja eher, dass eine unterirdische Verbindung zum Fluss seine und ihre Leiche mehr oder weniger rausgezogen hat. Wenn Ebbe ist, kommt da ein ziemlicher Sog zustande. Vielleicht war es damals auch tiefer und größer als heute, weil man beide, soweit ich in Erfahrung bringen konnte, nie gefunden hat.“
Was auch immer. Alexander war so fasziniert von dem Gewässer, dass er mir gar nicht richtig zuzuhören schien. Zwischenzeitlich hielten wir uns nicht mehr an der Hand. Auf mich wirkte er verkrampft, während er direkt an der Uferkante entlanglief. Ein paar Mal ging er in die Hocke und starrte auf die Wasseroberfläche; fast als erwarte er, dass im nächsten Moment etwas auftauchte.
Vielleicht war die eine Stelle besonders glitschig oder er war einfach etwas tollpatschig, denn plötzlich geriet er ins Straucheln und fiel beinahe ins Wasser. Da ich direkt neben ihm war, traf mich sein Arm und ich verlor das Gleichgewicht. Es war ein komisches Gefühl, weil ich gleichzeitig zu dem Stoß in meinem Rücken das Gefühl hatte, dass etwas mich nach vorne zerrte.
Alexander konnte mich gerade noch zurückziehen und fluchte ausgiebig in seiner Muttersprache. Seine Arme umfingen mich wie ein Schraubstock und ich spürte, dass er zitterte und nach wie vor völlig verkrampft war. Ich fühlte, wie er über meine Schulter aufs Wasser starrte.
Ganz ehrlich: Da ja eigentlich gar nichts passiert war, fand ich sein Verhalten etwas übertrieben und gleichermaßen süß wie verwirrend. Auch wenn es nicht dazu passte, dass er vorher ja direkt an der Gewässerkante entlanglief, ging ich davon aus, dass er vermutlich nicht schwimmen konnte. Das Wasser schien ihm jedenfalls eine Heidenangst einzujagen, obwohl wir vermutlich der Länge nach reinfallen könnten, ohne dass etwas passierte.
Es dauerte eine ganze Weile, bis ich mich endlich behutsam aus seiner Umklammerung lösen konnte. Mir schossen die unmöglichsten Gedanken durch den Kopf. Ich hoffte beispielsweise, dass er kein Epileptiker war, weil er nach wie vor fast schon gebannt auf die Wasseroberfläche starrte. Vor ein paar Jahren bekam ich in St. Peter einen solchen Anfall live mit. Der Mann stierte damals auch geradezu paralysiert auf die glitzernde Wasseroberfläche und – zack – im nächsten Augenblick lag er krampfend am Boden und biss sich die Zunge blutig.
Dann jedoch fiel mir etwas auf, was mich völlig verwirrte. Das Wasser hier glitzerte nicht – obwohl die Sonne gleißend hell schien. Es wirkte, ölig, fast schwarz, leblos. Jedenfalls auf den ersten Blick. Gleich darauf glaubte ich nämlich, eine leichte Bewegung darin gesehen zu haben. Und zwar eine, die von etwas Größerem herrührte. Das dunkle Wasser kräuselte sich und mich überlief unerklärlicherweise eine Gänsehaut. Ein Fisch war das garantiert nicht gewesen. Ein Antlitz tauchte auf und ich konnte gerade noch einen Aufschrei unterdrücken. Immerhin starrte mir mein eigenes Gesicht entgegen. Das wäre zu peinlich gewesen, wenn ich, erschrocken über mein eigenes Spiegelbild im Wasser, losgebrüllt hätte, auch wenn die Frisur anders wirkte, als sie tatsächlich war.
Trotzdem verstärkte sich dieses unbehagliche Gefühl in mir und ich wandte mich vom Wasser ab. Ein paar Tropfen bewirkten, dass wir beide aufsahen. Das Wetter hier oben konnte recht schnell umschlagen. Allerdings regnete es auch bei uns nicht von einem wolkenlosen Himmel. Und heute war weit und breit keine Wolke in Sicht. Gleich darauf spürte ich wieder etwas. Und zwar in meinem Rücken. Ich wollte mich gerade umwenden, als Alexander mich mit einem Ruck vom Soldatenloch weg und zu Anouk hin zog. Wieder überlief mich eine Gänsehaut, denn abgesehen von seinem Gesichtsausdruck, der eindeutig beunruhigt wirkte, spürte ich eindeutig einen nassen Handabdruck in meinem Rücken, zwischen den Schulterblättern. Ein kleiner Blick über meine Schulter zeigte mir, dass sich dort auch etwas befand. Verblüfft blieb ich stehen, schlüpfte aus den Ärmeln meines Shirts und drehte es nach vorne. Klar und deutlich leuchtete dort der schmutzig-feuchte Abdruck einer Hand.
„Sieh dir das an! Wo kommt das denn her?“
Meine Finger deuteten auf den Abdruck. Alexander zuckte die Schultern.
„Vielleicht … vorher, als ich ausgerutscht bin und dich dann in den Arm genommen habe …“
Er beendete den Satz lahm, als ob er selbst nicht an das glaubte, was er da von sich gab. Seine Stimme wirkte auf den ersten Blick ruhig, aber ich glaubte, ein Zittern darin wahrzunehmen. Und genau wie ich, lief er eindeutig schneller zurück, als wir hergekommen waren. Ich brauchte schon allein 400 Meter, bevor ich das Shirt wieder richtig anhatte.
Mit jedem Schritt, den wir uns vom Soldatenloch entfernten, fühlte ich mich leichter und befreiter. So sehr, dass ich über mich und meine komischen Gefühle vorher lachen musste.
„Was ist so komisch?“
Obwohl seine Stirn gerunzelt war, sah ich auch sein Lächeln wieder und mir wurde plötzlich bewusst, dass es mir vorher eindeutig gefehlt hatte.
„Ich lache über mich. Natürlich muss der Abdruck von dir sein. Ich bin normalerweise nicht hysterisch. Aber ich glaube, ich habe mich da eben von dem Teil der Geschichte zu dem Ring beeinflussen lassen, den ich dir noch nicht erzählt habe.“
Sein Blick wurde wieder ernst.
„Was hast du mir denn noch nicht erzählt?“
Ich kicherte und nickte leicht.
„Nur eine Kleinigkeit. Natürlich ist da nichts dran, aber gerade da am Wasser, wirkte es gar nicht mehr so abwegig auf mich.“
Zwischenzeitlich waren wir wieder an unserem vorigen Platz an der Wollersumer Badestelle angelangt. Mit ziemlicher Erleichterung merkte ich, dass sowohl sein Hemd als auch meine Jacke - mit Geldbeutel, Schlüsseln und Ticket - noch an der gleichen Stelle lag, an der wir sie vorher einfach vergessen hatten. Ein ruhiges, beschauliches Landleben hat durchaus seine Vorteile.
„Was hältst du davon, wenn wir woanders hingehen und du mir diese Geschichte weiter erzählst?“
Das klang in meinen Ohren nicht schlecht, auch wenn ich einen schnellen Blick auf die Uhr warf, um zu sehen, wie viel Zeit mir noch blieb.
„Hast du vielleicht Lust mich ins Moor zu begleiten? Ich bin gerne dort, es erinnert mich immer ein wenig an zuhause.“
„Das Moor? Klar! Sieht es denn am Don so aus? Irgendwie hätte ich mir die Gegend da anders vorgestellt. Bringst du mich nachher auf Anouk wieder her? Ich meine, wegen meinem Auto und zum Laufen ist es ja doch ein ganzes Stück. Ich …“, ich warf einen zögerlichen Blick auf die Uhr, „… ich muss heute Abend so gegen sechs losfahren, weil ich doch zurück nach München fliege.“
Offenbar schien mein letzter Satz Alexander ziemlich betroffen zu machen, denn sein Gesichtsausdruck wurde gerade mehr als fragend. „Du fliegst?“
Schlug er gerade ein Kreuz? Die Bewegung war so schnell gewesen, dass ich mir nicht sicher war. „Ja, das ist angenehmer als die lange Fahrt. Und geht auch schneller.“
Dass ich ungern flog, sagte ich nicht. Am liebsten würde ich den Flug stornieren, die neue Wohnung kündigen, vom neuen Job ganz zu schweigen. Am liebsten würde ich hier bei ihm bleiben. Aber das konnte man jemandem, den man gerade drei Stunden kannte, kaum sagen. Also hielt ich diesbezüglich besser meine Klappe.
„Fliegen?“
Bis jetzt hatte er ziemlich intelligent auf mich gewirkt, aber bei der Frage oder vielmehr bei dem Tonfall der Frage, war ich mir nicht ganz sicher. „Mhm, fliegen – wie Vögel fliegen, Hubschrauber fliegen, Düsenjets fliegen, Heißluftballone – nein halt die fahren.“
„Hexen fliegen.“
„Na ja, Bibi Blocksberg soll das schon können auf ihrem Kartoffelbrei. Aber ich nehme lieber ein Flugzeug, weil ich keine Hexe bin. Außerdem stelle ich mir einen Flug auf die Distanz auf einem Besen recht beschwerlich vor. Da hätte ich bestimmt Schnupfen, wenn ich ankomme.“
Okay, seine Frage hatte verblüfft geklungen, sein Einwurf mit den Hexen etwas … kleinlaut? …. Aber sein Blick jetzt übertraf alles. Abgesehen davon, dass er an meinem Verstand zu zweifeln schien, wirkte er mehr als verwirrt.
„Wie bist du denn vom Don hierhergekommen?“
„Geritten und gelaufen.“
Die Antwort kam so prompt und ehrlich, dass ich keinen Zweifel daran hegte. Ich betrachtete sowohl Anouk als auch ihn mit neuen Augen. Mein längster Fußmarsch war mal von hier bis Ülvesbüll gewesen und danach war ich völlig k. o.
„Wow. Das würde ich garantiert nicht hinbekommen.“
„Beschäftigst du dich mit Magie?“
Ich lachte und schüttelte den Kopf. Magie? Wie kam er denn jetzt darauf?
„Ich – nein, lass das e hinten weg und bau ein zweites g in der Mitte ein. Klingt zwar immer noch ähnlich, aber magisch ist das nicht, was man aus den Beuteln und Tüten zaubern kann. Von Magie habe ich ehrlich gesagt keine Ahnung und ich glaube auch nicht daran. Deshalb verblüfft es mich ehrlich gesagt umso mehr, dass ich da drüben für einen Augenblick dachte, dass an dem Fluch tatsächlich etwas dran sein könnte.“
„Fluch?“
Seine Frage kam schnell und scharf und schien ihn völlig vom Thema fliegen abzubringen. Auch der Griff seiner Finger um mein Handgelenk wurde fast schmerzhaft. Er merkte mein Unbehagen sofort, denn er lockerte ihn wieder und drückte, sich entschuldigend, einen Kuss auf meinen Puls. Gleichzeitig hob er mich auf Anouk und schwang sich hinter mir auf den Pferderücken. Sobald sein Pferd sich in Bewegung setzte, spürte ich seinen Atem an meinem Ohr und hörte ihn flüstern.
„Entschuldige, das wollte ich eben nicht. Erzählst du mir von dem Fluch?“
Natürlich erzählte ich ihm davon. Das ging schnell. Himmel, es war schließlich nichts weiter als eine Geschichte. Aus einer Zeit, in der man vielleicht noch an so etwas glaubte. An Winterabenden, als es weder elektrisches Licht noch Fernsehen gab und man sich die Zeit bis zum Zubettgehen vertreiben wollte, kam so was bestimmt gut an. Vor allem wenn der Wind ums Haus pfiff oder der Nebel schwer überm Land hing. Und wer so etwas glaubte, könnte durchaus auf den Gedanken kommen, das zu tun, was meine namensgleiche Vorfahrin getan hatte. Sie hatte ihren Vater und seine Helfer für den Mord an ihrem Freund verflucht. Und geschworen, dass sie ihn suchen und finden würde. Und bis sie wieder vereint waren, sollte sein Geist sich die Töchter der Mörder holen.
Das war der ganze Fluch. Soweit ich in Erfahrung bringen konnte, war er in meiner Familie schon mal unmöglich wahr geworden, weil sie die einzige Tochter war. Die Nachkommen der Helfer konnte ich nicht herausfinden. Insoweit wusste ich nicht, ob sich der Fluch überhaupt einmal erfüllte. Das Einzige, was ich in dem Zusammenhang auffällig fand, war das abgesehen von Annike, der Tochter meiner Vorfahrin, und mir nur Jungen in meiner Familie geboren wurden. Aber das konnte ja unmöglich etwas mit dem Fluch zu tun haben. Und Annike verstarb zwar bereits mit 22, aber soweit ich wusste am Kindbettfieber und nichts anderem. Dennoch vorher am Soldatenloch … wie gesagt, kurz hatte ich den Eindruck, dass da etwas war, was dort so nicht sein sollte.
Alexander sagte eine Weile gar nichts. Dann lächelte er plötzlich. Ich spürte die Bewegung seiner Lippen an meinem Hals.
„Ich kenne auch eine Geschichte, die von einem jungen Paar handelt. Sie ging allerdings genauso traurig aus, wie deine. Willst du sie trotzdem hören?“
Während ich nickte, spürte ich seine Nase in meinem Haar.
Seine Stimme lullte mich gleich darauf ein. Ich spürte Anouks Bewegungen unter, seinen Körper hinter und seine Worte in mir. Seine Art zu erzählen hatte etwas Faszinierendes an sich. Er beschrieb bestimmte Szenen so eindeutig, als wäre er selbst dabei gewesen.
Seine Geschichte handelte von einem Kosakenführer, der seit Jahren mit seiner Truppe und seinem Zaren unterwegs war. Als Kosak war ihm der Tod nicht fremd und doch war er über vieles, was er auf diesem Feldzug sah, entsetzt. Mir lief es kalt den Rücken hinunter, als er beschrieb, wie Mädchen mit zusammengebundenen Knöcheln hinter den Pferden der Kosaken übers Pflaster geschleift, wie Ratsherren an Balken aufgeknüpft, wie Kinder erschlagen wurden, wenn die Soldaten siegreich waren.
„Schwer vorstellbar, dass man sich in so jemanden verlieben kann. So wie sich das anhört, haben die ja alles gebrandmarkt, vergewaltigt oder ermordet, was ihnen in den Weg kam, oder?“
„Nicht alle benahmen sich wie die Tiere. Und oft schritten die Offiziere ein. Einmal, in Narwa, gar der Zar selbst.“
Während ich sicher vor ihm auf dem Pferderücken saß, erzählte er von einem Peitschenduell, das sich der Zar anscheinend mit einem Kosakenführer, der sonst zu seinem Stab gehörte, geliefert hatte, weil dieser ihm vorwarf, verweichlicht zu sein. Der Kosakenführer unterlag in dem Duell und der Zar befahl daraufhin, ihn zu töten. Sein Mund wurde mit Schießpulver gefüllt und das wurde angezündet. Dieses Erlebnis hatte der Soldat gerade in dem Jahr miterlebt, in dem er zu der Truppe gekommen war, fast noch ein Kind.
Jahre später lernte er dann hier in Dithmarschen eine junge Bauerntochter kennen und plötzlich traten der Krieg und die damit verbundenen Gräueltaten in den Hintergrund. In den gestohlenen Momenten mit ihr, wuchs der Wunsch nach einem ruhigen Leben, obwohl ihn der Gedanke auf Dauer an einem Ort, in einem festen Haus zu leben maßlos erschreckte. Die beiden trafen sich so oft es möglich war. Ihr Treffpunkt war immer ein kleines Gewässer nahe der Eider. Vielleicht das Soldatenloch, vielleicht auch nicht. Bald tauschten sie im Schatten der beiden dort stehenden, kleinen Bäume Zärtlichkeiten aus, träumten von einer gemeinsamen Zukunft – obwohl die real gar nicht so rosig für die beiden aussah. Er war immerhin ein Soldat, wusste nicht, wann es wohin ging oder ob er jemals an den Don zurückkehrte. Und hierbleiben konnte er auch nicht einfach so. Während die Bauerntochter ihm ein Medaillon mit ihrem Bild schenkte, schenkte ihr der Soldat einen Ring.
Ich musste in mich hinein grinsen, das hier hörte sich doch verdächtig wie meine Geschichte an, auch wenn er sie weitaus besser erzählen konnte als ich. Dennoch lauschte ich gebannt, als Alexander weitersprach.
Irgendwann beschlossen die beiden gemeinsam aus Dithmarschen wegzugehen, um in Hamburg oder gar Hannover einen Neuanfang zu wagen. Er unerlaubt von seiner Truppe, sie unerlaubt von ihrer Familie. Doch exakt an dem Tag, an dem die beiden ihren Plan in die Tat umsetzen wollten, kam seine Freundin nicht. Stattdessen überraschten ihn der wütende Vater und ein paar seiner Knechte am verabredeten Treffpunkt.
Durch die Geschichte kam mir der Weg ins Moor ungeheuer kurz vor, obwohl wir dazu erst einmal nach Lunden, dort quer durch den Ort und außerhalb des Ortes noch etwa einen Kilometer reiten mussten, bevor wir die ersten Bäume erreichten. Ich glaube, wir begegneten nicht einmal jemandem.
Das Moor ist nicht mehr sehr groß. Zwar gibt es Wasserflächen mit insgesamt 7.400 m², aber na ja, viel ist vom ursprünglichen Gebiet vermutlich nicht mehr da. Wir kamen an eine kleine Lichtung und setzten uns an einen der Miniseen.
„Was ist aus dem Soldaten geworden?“
Einen Moment wirkte Alexander verwirrt. „Er hat irgendwie überlebt. Aber er hat das Mädchen nie wieder gesehen, obwohl er noch lange, lange Zeit auf sie gewartet, sie oft gesucht und die Hoffnung nie aufgegeben hat.“
In dem Moment hätte ich heulen können, weil mir der Soldat leidtat. Und das Mädchen. Trotz allem hätte ich vermutlich jeden anderen Mann als Weichei betrachtet, wenn er bei so einer Geschichte ebenfalls Tränen in den Augen gehabt hätte. Alexander, der gerade mit verdächtig glitzernden Augen in den Himmel sah und sich auf die Lippen biss, wollte ich stattdessen lieber in die Arme nehmen und trösten – was ich auch machte.
Die Blätter der Birken raschelten, die Luft roch nach Wildrosen und Gras. Die Schilfhalme bewegten sich leicht im Wind. Insekten summten um uns herum. Habe ich schon erwähnt, dass die Ausrufezeichen hinter meinem Wunsch hierzubleiben immer größer wurden? Spätestens als Alexander und ich uns das erste Mal küssten. Anfangs scheu, dann jedoch zunehmend leidenschaftlicher. Himmlisch aufregend und trotzdem ungeheuer zärtlich. Ich hätte stundenlang so weitermachen können. Alles in und um mich herum rückte absolut in den Hintergrund. Nur Alexander war in diesem Moment wichtig. Die Gedanken an den Vorfall am Soldatenloch und seine verstörend detaillierte Geschichte auf dem Weg hierher, alles andere, was mir sonst so durch den Kopf ging, lösten sich dabei ins Nichts auf. Ich stand von der ersten Haarspitze bis runter zu den Zehen völlig unter Strom. In dem Moment war ich wirklich zu allem bereit und das zeigte sich daran, dass ich ihm sagte, was mir vorher durch den Kopf gegangen war.
„Ich wünschte, ich könnte bei dir bleiben. Ich wünschte, ich müsste nicht nach München fliegen. Ich wünschte, wir könnten für immer zusammen sein.“
Den Atem musste ich danach nicht anhalten. Alexander wirkte von meinen Worten in keinster Weise erschreckt. Vielmehr strahlten seine Augen und gaben mir erneut das Gefühl, genau am richtigen Ort zu sein; einen – nein meinen - Seelengefährten gefunden zu haben. Seine Stimme klang rau, während er mir über meine Wange streichelnd antwortete.
„Du ahnst gar nicht, wie sehr auch ich mir das wünsche. Für immer wünsche. Ich habe schon ewig darauf gewartet.“
Okay, das klang jetzt etwas übertrieben, aber das war mir absolut egal. Ich war in diesem Moment einfach nur glücklich.
Dummerweise wurden wir unterbrochen. Von ein paar unterdrückten, aber ziemlich wütend klingenden Stimmen. Während ich mich verlegen aufsetzte, zog Alexander eine altmodische, angelaufene Taschenuhr aus seiner Hose und starrte auf das gesprungene Zifferblatt. Keine Ahnung, was er da ablesen wollte; das Ding sah nicht aus, als wäre es die Zeit sonderlich aufgezogen worden. Die Uhr ging außerdem vor, soweit ich das sehen konnte. Sie zeigte bereits 18.00 Uhr an.
Alexanders Gesichtsausdruck wirkte schlagartig wachsam und besorgt. Die Stimmen wurden lauter. Einheimische, wenn ich mal vom Dialekt ausging. Ich stand vorsichtig auf und spähte über die hochgewachsenen Schilfhalme.
Doch da war nichts. Nicht mal ein Reh war zu sehen. Die Stimmen verstummten schlagartig, genauso wie das Rascheln der Blätter oder Schilfhalme, das Summen der Insekten. Ein Schatten fiel über mich und ich merkte aufblickend, wie der Himmel sich rasch mit dunklen Wolken zuzog. Wind kam auf. Trotzdem blieb um uns herum alles unnatürlich still. Totenstill. Gleichzeitig schien alle Farbe aus meiner Umgebung gewichen zu sein. Noch nicht einmal riechen konnte ich gerade etwas.
Nur unbewusst nahm ich wahr, dass Alexander unterdrückt in meine Richtung flüsterte. Es klang, wie „oh Gott, ich dachte … ich muss weg“, aber sicher war ich mir nicht. Hätte ich nur aufmerksamer zugehört, wäre ich nur mit ihm gegangen. Vielleicht wäre dann alles anders gekommen. Aber in dem Moment stand ich wie paralysiert da und konnte mich nicht bewegen. Ich hörte nicht einmal, dass er ging.
Die Stimmen waren wieder zu hören. Laut, wütend, äußerst bedrohlich. Sie fielen in der eigentlichen Stille noch viel mehr auf. Dumpfe Schläge erklangen und sorgten dafür, dass ich mich verängstigt umsah. Alexander war wirklich weg. Hatte mich hier einfach alleine gelassen. Die unheimliche Stimmung nahm zu und ich drehte mich hilflos mehrmals im Kreis, weil ich nicht wusste, was hier geschah.
Als meine Eltern vor ein paar Jahren bei dem Unfall ums Leben kamen, saß ich hinten im Wagen. Ich habe gespürt, wie sie gestorben sind, habe ihre Todesangst gefühlt, ihre Schmerzen. Jeder, dem ich später davon erzählte, meinte, dass diese Gefühle von meinen eigenen Verletzungen kamen. Jetzt, hier und heute, fühlte ich es wieder. Schmerzen und Todesangst. Doch jetzt war ich nicht verletzt.
Der Himmel hatte sich zwischenzeitlich ganz zugezogen. Violett-schwarze Wolken ballten sich drohend über mir zusammen und ein Grollen war zu hören. Ein Blitz schlug in einen Baum in der Nähe ein. Das Krachen und Splittern des Holzes und löste mich aus meiner Erstarrung. Ich rannte blindlings los und der einzige Gedanke, der mich beherrschte war „raus hier!!!!!“.
Allzu weit kam ich nicht, denn ich blieb mit meinem Fuß in etwas hängen. Zu Boden stürzend, verdrehte mir den Knöchel so, dass ich ganz deutlich spürte, wie er brach. Ich schrie nach Alexander. Ich schrie genau genommen nach allem Möglichen, am meisten jedoch nach ihm; aber mittlerweile hatte sich wieder die Stille über das Moor gesenkt. Meine Schreie wurden irgendwie von der dunklen Stimmung um mich herum verschluckt. Jetzt hätte es genau genommen nur noch gefehlt, dass sich Nebel über alles legte. Aber davon blieb ich glücklicherweise verschont.
Die unheimliche Stille hielt noch ein paar Minuten. Dann verschwand sie genauso plötzlich wie die dunklen Wolken über mir. Das Einsetzen der normalen Geräusche – das Summen der Insekten, das Rascheln von Blättern und Schilfhalmen kam mir übernatürlich laut vor. Der Geruch der Heckenrosen war betäubend süß. Zu süß, um keinen Würgereiz in mir auszulösen. Ich atmete mehrmals tief durch und versuchte dann meinen Knöchel zu befreien. Super, irgendjemand hatte hier etwas entsorgt und ich musste natürlich prompt darin hängenbleiben.
Mein Fuß war gerade frei, als mir auffiel, was genau ich da in den Händen hielt und was teilweise noch im Boden steckte. Das Leder war alt und brüchig, das wenige Metall verrostet. Irgendwie erinnerte es mich an Anouks Zaumzeug. Meine Kehle war so eng, dass ich nicht mehr schlucken konnte. Wider besseres Wissen rief ich nach Alexander. Doch natürlich kam auch jetzt keine Antwort. Noch immer konnte ich nicht schlucken und mein Herz raste wie verrückt. Mit schmerzverzerrtem Mund kämpfte ich mich auf die Beine und machte ein paar zaghafte Schritte. Mein Knöchel fühlte sich seltsam taub an und schmerzte doch so sehr, dass jeder Schritt die Hölle war.
Nach ein paar Metern, für die ich über eine halbe Stunde brauchte, fiel mir ein Ast etwas abseits des Weges ins Auge, auf den ich so schnell als möglich zu humpelte. Immerhin schien er hervorragend als Krücke geeignet zu sein; und wenn ich je aus dem Moor, das angesichts meines verletzten Knöchels, plötzlich erschreckend groß auf mich wirkte, herauskommen wollte, brauchte ich definitiv etwas, worauf ich mich stützen konnte. Blieb nur zu hoffen, dass das Ding nicht morsch war.
Leider bestätigte sich jedoch meine Befürchtung und ich sah mich frustriert nach eventuellem Ersatz um. Hier lag haufenweise Holz, aber das meiste war zu kurz oder auf den ersten Blick zu brüchig. Nach einer Weile entdeckte ich allerdings etwas Passendes und ich hob den Ast erleichtert auf. Dadurch wurde das Laufen zwar nicht gut, aber besser.
Ich fluchte halblaut vor mich hin, dass ich zwar liebend gerne hier bleiben wollte, aber nicht unbedingt, weil ich mir die Knochen brach. Ich fluchte, weil Alexander einfach so verschwunden war. Ich fluchte, weil ich trotz allem einfach bei ihm sein wollte. Ich fluchte, weil die Schmerzen kaum auszuhalten waren. Ich fluchte, weil der Boden unter mir sich etwas wackelig anfühlte und ich in meiner Verzweiflung auf so was überhaupt nicht aufgepasst hatte. Himmel, ich war hier im Moor! Ich fluchte, was das Zeug hielt.
Direkt neben meinem Fuß, reflektierte etwas die Sonnenstrahlen. Ich hörte auf zu fluchen und bückte mich automatisch. Warum weiß ich selbst nicht, im Moment hatte ich weiß Gott andere Sorgen. Meine eiskalten Finger schlossen sich um etwas Metallisches. Aufheben konnte ich es jedoch nicht, denn es steckte im Boden. Ohne wirklich auf meinen schmerzenden Knöchel zu achten, ließ ich mich auf die Knie nieder und zog etwas fester daran. Der Boden gab ein leicht schmatzendes Geräusch von sich, als er endlich losließ.
Vorsichtig rieb ich über meinen Fund. Es war eine Kette mit einem Medaillon. Ein eisiger Hauch streifte mich, als ich merkte, dass es das Medaillon war, das Alexander vorher um den Hals hatte. Ich rief nach ihm und sah mich suchend um. Die Kette war gerissen. Womöglich war Alexander etwas passiert. Womöglich hatte er genau gewusst, wer da vorher im Wald auftauchte und war vor ihnen geflohen. Womöglich hatten die ihn erwischt, anders konnte ich mir die zerrissene Kette nicht erklären. Schauergeschichten fielen mir ein. Obwohl ich in meinem ganzen Leben nicht mitbekommen hatte, dass jemand hier versunken war, konnte das vermutlich durchaus passieren. Erneut rief ich nach Alexander und erneut antworteten mir nur die Geräusche der Natur um mich herum.
Meine linke Hand umklammerte fest das Medaillon, meine Rechte den Ast und ich kam mit einem Wimmern auf die Beine. Ich musste Hilfe holen. Das alles war einfach mehr als ich alleine bewältigen konnte. Ich stützte mich schwer auf den Stock, um meinen Knöchel nicht unnötig zu belasten.
Im nächsten Moment gab der Boden unter meinen Füßen nach und ich fiel. Der Sturz war nicht bodenlos. Es ging vielleicht drei, allerhöchstens vier Meter nach unten und es ging so schnell, dass ich nicht mal schreien konnte. Zu meiner Überraschung landete ich nicht im Wasser, dafür aber überraschend weich. Bislang war ich immer davon ausgegangen, dass zugewachsene Torflöcher – in einem solchen musste ich grade eingebrochen sein - sich wieder mit Wasser befüllten. Schlammigem, morastigem Wasser, das einen unnachgiebig in die Tiefe zog. Während ich vorsichtig meine Glieder sortierte, musste ich feststellen, dass der Boden unter mir mehr oder weniger trocken und einigermaßen fest war. Ich war ungeheuer erleichtert, dass das so war. Doch wie ich hier wieder herauskommen sollte, war mir absolut schleierhaft.
Ein stechender Schmerz in meiner linken Hand lenkte mich von meinen Überlegungen ab. Das Medaillon war aufgesprungen und der Verschluss bohrte sich in meine Haut. Ein Sonnenstrahl fiel auf das Bild darin und ich keuchte entsetzt auf. Es war fast, als ob ich in einen Miniaturspiegel sah. Dieselben Augen, derselbe Mund. Lediglich die Frisur war anders als meine. Atemlos fiel mir auf, dass sie der Frisur ähnelte, die ich vorher im Soldatenloch glaubte, gesehen zu haben. Auf der linken Seite war eine Gravur. Im schwächer werdenden Licht konnte ich gerade noch entziffern, was dort stand: „Anne Peters, geboren 30.06.1694.“
Das Licht ließ mehr und mehr nach. So schnell konnte die Sonne nicht untergehen, dazu war es noch viel zu früh. Ein panisches Wimmern stieg in meiner Kehle auf, als ich nach oben blickte und zusehen musste, wie das etwa einen Meter große Loch über mir wie von Geisterhand wieder zu wuchs.
Bevor mich die Dunkelheit endgültig umhüllte, bemerkte ich eine kleine Bewegung rechts von mir. Ich drehte mich um und sah ein Paar Beine, in schwarze Hosen und Reitstiefel gehüllt war, die schon einmal bessere Tage gesehen hatten. Alexanders Gesicht war bleich, eine Hälfte blutüberströmt. Sein Oberkörper war voller Verletzungen und er streckte die Hand nach mir aus. Über seine Lippen kam ein fast tonloses Flüstern.
„Du bist gekommen, du bist endlich gekommen. Lass mich nicht allein.“
Wimmernd glitt ich auf ihn zu und griff nach seiner Hand. Fassungslos über das, was hier gerade passierte, fühlte ich erneut seinen Schmerz und seine Todesangst und doch auch unendliche Erleichterung, mich zu sehen. Während das letzte Licht schwand, weil das Loch über uns komplett zugewachsen war, schmiegte ich mich an ihn und nahm ihn in die Arme. Ich streichelte ihn unablässig, während ich fühlte, wie sich das alte Torfloch mit morastigem Wasser füllte. Mein Handy piepste. Ich hatte morgens noch den Wecker daran gestellt, weil ich spätestens um 18.00 Uhr wieder nach Hamburg zurückfahren wollte.
Die Panik fiel von mir ab und ich wurde völlig ruhig. Ein Lächeln schlich sich in meine Mundwinkel, während ich mit beruhigenden Worten auf Alexander einredete, dessen Atemzüge zunehmend schwächer wurden. Ich würde sterben, aber das war nicht schlimm, denn mein Wunsch hierzubleiben hatte sich erfüllt. Ich war bei Alexander. Für immer.