Der Andere

Diese Geschichte hatte verschiedene Vorstufen. Es waren „Der Auserwählte“, „Die Kraft der Schwachen“, „Der Doppelgänger“ und „Der Doppelgänger, 2. Teil“ in den Rubriken Kurzgeschichten und Erzählungen. Hier ist jetzt die vorläufig letzte, komplette Fassung.

Stefan Seifert




Der Andere

Erzählung von Stefan Seifert



1


Daniel hatte sich verspätet. Es war Unterrichtsschluß und die anderen Schüler der 6a hatten das Klassenzimmer schon verlassen. Daniel suchte immer noch seine Sachen zusammen, die seine Kameraden im Raum verstreut hatten. Er war daran gewöhnt. Es war nur lästig.
Schon gleich zu Beginn seiner Schulzeit hatten Daniels Mitschüler bemerkt, daß dieser Junge anders war als sie. Er konnte sich nicht wehren. Er schlug nicht zurück. Sie machten einander auf ihn aufmerksam:
„Siehst du den da? Den kann jeder besiegen. Der ist schlapp, der kann nicht kämpfen.“
Sie versuchten es dann alle. Einer nach dem anderen rang ihn nieder und stellte verwundert fest: „Tatsächlich. Den kann jeder besiegen.“
Dabei war Daniel eigentlich kein Schwächling. Er war von normaler Größe und Konstitution, nur etwas blaß, was aber bei seinen rötlichen Haaren und seinem Teint nicht verwunderte. Man sah es ihm nicht an, und dennoch: Er war schlapp, er konnte sich nicht wehren. Mehr noch: Er konnte nicht einmal auf jemanden böse sein. Selbst zu denen, die ihm weh taten, die seine Turnsachen in den Müll warfen oder mit seinen Büchern und Heften Fußball spielten, war er freundlich und hilfsbereit.
Bei den Lehrern galt er als zwar ruhiges, aber schusseliges Kind. Er bekam immer wieder schlechte Noten, weil seine Schulsachen nicht in Ordnung waren. Sie wurden ärgerlich, wenn er zu seiner Entschuldigung sagte, daß andere Kinder daran schuld waren.
„Rede dich nicht heraus, Daniel. Du bist selber verantwortlich. Du mußt eben auf deine Sachen besser aufpassen.“
Daß er häufig mit seinen Mitschülern Probleme zu haben schien, hielten sie für einen Charakterfehler von ihm. Er fügte sich nicht genügend in die Gemeinschaft ein.
Auch zu Hause fand Daniel wenig Verständnis.
„Was, schon wieder sind deine Turnsachen weg?“ jammerte seine Mutter. „Was denkst du dir denn dabei? Weißt du, was das alles kostet? Woher soll ich das Geld nehmen?“
Daniel wurde deswegen das Herz schwer.
Daniels Vater gab ihm gutgemeinte Ratschläge.
„Du mußt boxen,“ sagte er. „Mit dem linken Ellenbogen mußt du dein Gesicht decken, mit der rechten Faust mußt du zuschlagen.“
Daniel versuchte es, aber es war ein Fiasko. Er wurde schrecklich verprügelt und hatte noch tagelang blaue und grüne Flecken am ganzen Körper.
Daniel hatte schließlich alle seine Sachen gefunden und verließ das Klassenzimmer. Auf dem Flur war es still. Offenbar hatten schon alle die Schule verlassen. Er ging die grauen Steintreppen hinunter, durchquerte den Vorraum und öffnete die schwere Schultür. Plötzlich hielt er inne und schloß die Tür schnell wieder. Er hatte etwas wahrgenommen, was ihn erschrak. Draußen, jenseits des Hofes, war eine Traube von Kindern versammelt. Der Klang von erregten Stimmen war in der Luft. Daniel spürte die Spannung. Er wußte, was das bedeutete. Sie warteten auf jemanden. Jemanden, den sie jagen und verprügeln wollten. Daniel hatte die bange Ahnung, daß sie auf ihn warteten.
Es kam zuweilen vor, daß sie nach der Schule auf jemanden lauerten, der der Feme verfallen war. Der Regeln gebrochen hatte. Manchmal war es aber nur Langeweile. Irgend jemand mußte als Opfer herhalten. Daniel war das ideale Opfer.
Daniel dachte an seine Mutter. „Geh ihnen aus dem Weg, Junge,“ pflegte sie zu sagen, wenn er von Raufereien erzählte. Genau das wollte Daniel tun. Er ging wieder die Treppen hinauf und den Gang zurück zum anderen Ende des Schulgebäudes. Es gab dort noch einen Hinterausgang direkt zur Straße. Dort würden sie wohl nicht sein. Er drückte die Klinke hinunter, aber die Tür gab nicht nach. Sie war schon verschlossen.
Daniel ging wieder auf den Flur zurück und bummelte unschlüssig an den Türen der Klassenzimmer entlang. Die Schule schien jetzt völlig leer zu sein. Wenn er noch etwas wartete, würden sie vielleicht von selber gehen. Sie konnten ja nicht den ganzen Nachmittag vor der Schule herumlungern. Das Leben ging weiter. Zuhause warteten Mütter mit dem Essen, warteten Pflichten.
Eine Tür wurde geöffnet. Der Hausmeister trat auf den Flur. Als er Daniel sah, wurde er ärgerlich.
„Was machst du denn noch hier?“
„Kann ich nicht noch etwas bleiben?“ fragte Daniel.
„Das kommt überhaupt nicht in Frage,“ sagte der Hausmeister kurz angebunden. „Die Schule ist zu Ende, ich schließe jetzt ab. Raus mit dir.“
Er schob Daniel mit einer Hand vor sich her bis zur Ausgangstür, öffnete sie und stieß ihn hinaus. Kaum stand Daniel draußen, schloß sich die Tür hinter ihm mit einem dumpfen Knall und Daniel hörte, wie der Hausmeister den Schlüssel im Schloß herumdrehte.
Sie waren noch da. Sie standen hinter dem Tor, das zur Straße führte. Der Lärm der Stimmen schwoll an. „Da ist er,“ schrie jemand. Daniel war wie betäubt. Langsam, wie in Zeitlupe, schlich er vorwärts. Seine Kniegelenke schienen aus Watte zu sein.
Da sah er, daß ein Auto direkt vor dem Tor am Straßenrand hielt. Eine Frau saß am Steuer. Daniel kam ein Gedanke. Vielleicht hatte er eine Chance. Er begann zu laufen, winkte mit einer Hand und rief: „Mama!“
Die anderen waren verblüfft und ließen ihn vorbei. „Mama!“ äffte ihn einer nach. Die Frau blieb in dem Auto sitzen und sah unbewegt zu den Kindern hinüber. Daniel kannte sie nicht. Er lief an dem Auto vorbei und rannte so schnell er konnte die Straße hinunter. Nach einer überraschten Pause ertönte ein wütendes Gebrüll und die Gruppe setzte ihm nach.
Daniel hatte einen gewissen Vorsprung, aber er wußte, daß der nicht lange vorhalten würde. Unter den Verfolgern befanden sich große Jungen, die schneller rennen konnten als er. In ein, zwei Minuten würden sie ihn haben. Daniel wollte es bis zum Friedhofseingang schaffen. Dort konnte er sich vielleicht irgendwo verstecken. Auf dem Friedhof kannte er sich aus.
Das Johlen hinter ihm schwoll stetig an. Doch jetzt war das Friedhofstor schon nahe. Daniel konnte es schaffen. Er nahm alle Kräfte zu einem letzten Spurt zusammen und schoß durch das geöffnete Tor.
„Er ist auf dem Friedhof!“ schrie ein Junge hinter ihm.
Daniel lief direkt in eine Gruppe von Trauernden hinein, die auf dem Kiesweg zur Feierhalle standen und gedämpft miteinander sprachen. Sie beachteten ihn kaum. Jetzt erschien die schreiende Meute auf dem Weg. Ein Mann trat ihnen entgegen.
„Verschwindet!“ herrschte er sie an. „Ihr könnt hier nicht spielen. Macht daß ihr wegkommt.“
Daniel schlängelte sich durch die Trauergesellschaft hindurch und erreichte einen von Sträuchern gesäumten Seitenweg. Hier fühlte er sich erst einmal sicher. Er lief jetzt langsamer. Nach einer Weile hatte er sich so weit beruhigt, daß er begann, die Inschriften auf den Grabsteinen zu lesen. Da waren Namen mit Geburts- und Sterbedaten. Es gab große Steine, auf denen stand: Familie Soundso. Auf anderen war zu lesen: Unvergessen. Wir werden uns wiedersehen. Die Liebe höret nimmer auf. Ich weiß, daß mein Erlöser lebt.
Allmählich zogen Ruhe und Frieden in Daniels Gemüt ein. So ging es ihm immer auf dem Friedhof. Hier schienen die Gesetze der lärmenden äußeren Welt außer Kraft gesetzt. Die Menschen, die hier ruhten, schienen andere zu sein, als die, die da draußen in ständiger Hast und Unzufriedenheit ihren Alltagsgeschäften nachgingen. Hier war alles still und friedlich und der Blick richtete sich auf Gott und die Ewigkeit. Liebe schien auf einmal das Wichtigste zu sein. Die Liebe der Menschen und die Liebe Gottes.
Versonnen schlenderte Daniel den Weg entlang, die Schultasche baumelte in seiner Hand. Plötzlich hielt er inne. Ganz vorne, am Ende des Weges, tauchten Kinder auf. Die Meute. Sie mußten durch einen anderen Eingang gekommen sein. Daran hatte er nicht gedacht. Was nun? Sie schienen ihn noch nicht gesehen zu haben.
Links von ihm stand ein Bau in Form eines kleinen Tempels, ein Mausoleum. Den Eingang bildeten zwei Säulen, zwischen denen sich eine Tür befand. Daniel sprang zwischen die Säulen und schmiegte sich, Deckung suchend, gegen die Tür. Er drückte versuchsweise die Klinke hinunter. Die Tür gab nach und öffnete sich. Daniel schlüpfte hinein und schloß die Tür wieder hinter sich. Fürs erste schien er in Sicherheit zu sein.
Daniel blickte sich vorsichtig um. Der Raum wurde von trübem Licht erhellt, das durch schmutzige Glasscheiben von der Decke her hereinfiel. Die Luft war kalt und modrig. In der Mitte stand ein großer steinerner Sarkophag. In die Wände waren mit altertümlichen Schriftzeichen bedeckte Steintafeln eingelassen. Im Hintergrund befand sich eine kleinere Türöffnung, die in einen weiteren Raum zu führen schien. Daniel ging langsam in diese Richtung. Vielleicht konnte er sich dort verstecken, falls sie ihn hier suchen sollten, was Daniel allerdings für unwahrscheinlich hielt. Es sei denn, es hatte ihn jemand hier hineingehen sehen.
Daniel mußte drei Stufen hinuntersteigen, bevor er in den zweiten Raum kam. Dort war es wärmer als in dem vorderen. Ein mildes Licht erfüllte ihn. Zu Daniels Erstaunen befand sich jemand in dem Raum. Es war ein Mann in einem leuchtend blauen seidenen Mantel. Er saß auf einem Sessel oder Thron. Die Arme ruhten auf den Seitenlehnen. Der Mann trug langes, schwarz gelocktes Haupthaar und einen eben solchen Bart. Er blickte ruhig und würdevoll vor sich hin und schien Daniel nicht zu beachten.
„Entschuldigen Sie bitte,“ sagte Daniel. „Ich wußte nicht, daß hier jemand ist. Ich will Sie nicht stören. Ich gehe auch gleich wieder. Kann ich vielleicht für einen Moment hier bleiben?“
Der Mann rührte sich nicht. Es war, als hätte er Daniel überhaupt nicht gehört. Sein Blick schien in weite Ferne gerichtet zu sein. Daniel fühlte sich unbehaglich. Vielleicht trauerte der Mann um nahe Angehörige und es war eine Ungehörigkeit oder geradezu ein schweres Vergehen, hier einzudringen und ihn zu stören.
„Es ist wirklich nur für ein paar Minuten,“ bat Daniel schüchtern. „Wenn ich jetzt hinausgehe, werden mich die anderen Kinder da draußen verprügeln und meine Sachen kaputt machen und zu Hause wird meine Mutter mit mir schimpfen oder sie wird traurig sein, was noch viel schlimmer ist.“
Der Mann reagierte immer noch nicht. Daniel legte seine Schultasche auf den Boden, setzte sich darauf und wartete. Nach einer Weile lastenden Schweigens fragte er den Mann: „Ist das ihre Familie, die hier begraben ist?“
Der Mann schien jetzt seinen Blick aus der Ferne zurückzuholen und richtete ihn mit einem Ausdruck des Erstaunens auf Daniel.
„Kannst du mich sehen?“ fragte er.
„Natürlich,“ erwiderte Daniel verwundert.
„Was siehst du?“ fragte der Mann. „Wie sehe ich aus?“
„Sie haben lange, schwarze Haare und einen Bart,“ sagte David. Der Mann mußte wohl nicht richtig im Kopf sein. „Und Sie haben einen weiten blauen Mantel an. Aber ich glaube, ich gehe jetzt wieder. Entschuldigen Sie die Störung.“
Es war ihm unheimlich geworden, darum nahm er seine Schultasche und lief schnell hinaus. Er ging durch den Raum mit der kalten, modrigen Luft, an dem Sarkophag vorbei, zu der Tür, die nach draußen führte und drückte die Klinke hinunter.
Die Tür ließ sich nicht öffnen. Vielleicht hatte der Friedhofswächter sie abgeschlossen. Aber der Mann mit dem blauen Mantel hatte sicher einen Schlüssel. Widerstrebend ging Daniel wieder in den Nebenraum zurück. Der Mann saß immer noch auf dem Sitz. Der Raum schien jetzt heller erleuchtet zu sein, obwohl Daniel keine Lichtquelle bemerkte.
„Verzeihung, die Tür nach draußen ist zugeschlossen. Könnten sie mich bitte hinaus lassen?“ fragte Daniel.
Der Mann schien seine Frage nicht gehört zu haben.
„Aus welchem Grund kannst du mich sehen?“ sagte er nachdenklich und schüttelte sein Haupt mit dem wallenden Haar. „Ich verstehe das nicht.“
„Warum soll ich Sie nicht sehen können?“ Der Mann kam Daniel immer merkwürdiger vor.
„Die Menschen sehen nur das, was schon in ihnen ist, was ihnen zu sehen bestimmt ist. Ein Mensch, der alles sähe, was existiert, würde verrückt werden. Kein gewöhnlicher Mensch kann mich unter normalen Umständen sehen.“
„Und warum nicht?“
„Weil ich kein Mensch bin. Ich gehöre zur Familie.“
„Zu der Familie, die hier begraben ist?“ fragte Daniel schaudernd.
„Nein,“ erwiderte der Mann herablassend und nicht ohne Stolz. „Natürlich nicht zu der Familie. Ich meine die göttliche Familie. Ich bin ein Engel. Wir sind für Menschen unsichtbar, weil wir Bewohner einer anderen Sphäre sind.“
„Dann sind Sie so etwas wie der Erzengel Michael?“ fragte Daniel, immer noch furchtsam, doch auch neugierig.
Der andere lachte.
„O nein, wo denkst du hin. Ein Erzengel ist eine so gewaltige Erscheinung, wie du sie dir nicht vorstellen kannst. Den Anblick eines Erzengels würdest du nicht ertragen, du würdest verdampfen wie eine Schneeflocke im Feuer. Ich selber kann mich einem Erzengel nur unter besonderen Umständen nähern. Dennoch gehöre ich dazu und habe Teil an ihrem Licht und ihrer Kraft. Meine Name ist Ismael, das heißt Gott hört. Ich bin ein einfacher Bote Gottes und in Seinem Auftrag unterwegs.“
„Und was machen Sie hier auf dem Friedhof?“ fragte Daniel, noch immer ungläubig.
„Ich warte auf einen besonderen Menschen,“ sagte Ismael. „Auf einen Seelenführer. Ich dachte an einen Weisen, möglicherweise einen Religionslehrer oder Kirchenfürsten. Aber wer weiß ... Ich muß ihn mit einer Aufgabe betrauen, einer schwierigen und gefahrvollen Mission, die nur er erfüllen kann.“
„Und woran erkennen Sie diesen besonderen Menschen?“
Die Frage schien den Engel in Verlegenheit zu bringen.
„Nun, ich weiß es nicht direkt. Die göttliche Vorsehung führt uns zusammen und dann erkennen wir uns eben. Er sieht mich – du weißt ja, die Menschen sehen mich normalerweise nicht – und ich sehe ihn. Dann überbringe ich die Botschaft mit dem göttlichen Auftrag. Es sind allerdings auch schon Pannen passiert. Daß ich dem Falschen die Botschaft überbrachte und es entstand ein furchtbares Chaos. Ich mußte danach vor einem Erzengel erscheinen und mich rechtfertigen. Das möchte ich nicht noch einmal erleben.“
Er musterte Daniel forschend.
„Erzähle mir doch etwas von dir, mein Junge. Wie heißt du?“
„Ich heiße Daniel.“
„Daniel ... Das läßt auf einen Gerechten schließen, einen wie Noah. Warum kamst du hier herein?“
Daniel berichtete von seiner Verfolgung.
„Warum verfolgen sie dich denn?“ fragte der Engel interessiert. Daniel erzählte und der Engel hörte zu.
„Du kannst also nicht kämpfen,“ sagte er dann nachdenklich. „Du hältst gewissermaßen die andere Wange hin, wenn man dich auf die eine schlägt. Du kannst nicht zürnen. Du hast Mitleid. Das alles deutet auf eine besondere Kraft in dir hin. Die stärkste, die es gibt. Etwas, wonach große Weise und Lehrer der Menschheit vergeblich streben. Sie verbindet dich mit allen Wesen. Sie ist auch die Brücke zu Gott und zu unserer Sphäre.
Hast du vorher schon einmal Engel gesehen, oder auch Dämonen, bedrohliche Wesen?“
„Nur im Traum, als ich noch ein kleines Kind war,“ erwiderte Daniel. „Allerdings hatte ich sehr häufig solche Träume. Ich habe im Schlaf geschrien und gesprochen. Meine Mutter fand mich manchmal aufrecht sitzend im Bett, schweißgebadet, mit weit offenen Augen und völlig geistesabwesend, als wäre ich in einer anderen Welt unterwegs. “
Der Engel schien besorgt.
„Wenn du tatsächlich derjenige bist, für den meine Botschaft bestimmt ist, und es deutet einiges darauf hin, so dürfen wir keine Zeit mehr verlieren. Es gibt bestimmte Dinge, die du wissen mußt, wenn du deine Aufgabe erfolgreich erfüllen willst.
Vor allem merke dir eines: Was auch geschehen mag, sei ohne Furcht. Es kann dir nichts passieren, denn schützende Kräfte werden dir zur Seite stehen.“
Er hatte sich nun Daniel zugewandt und blickte ihn an. Daniel merkte, daß eine warme Strahlung von ihm ausging.
„Die wichtigste Kraft aber muß aus dir selber kommen,“ fuhr der Engel fort. „Es ist die, um derentwillen du auserwählt wurdest.“
„Was ist das für eine Aufgabe?“ fragte Daniel zaghaft.
Der Engel namens Ismael schwieg.
„Ein Kind,“ murmelte er dann kopfschüttelnd. „Nun, sie werden sich schon etwas dabei gedacht haben...“
„Du mußt wissen,“ fuhr er nach einem Augenblick des Nachdenkens fort, „daß vor noch nicht allzu langer Zeit ein gewaltiger, alles entscheidender Kampf in unserer Sphäre stattgefunden hat. Er wurde hauptsächlich von den Erzengeln unter der Führung von Michael geführt. Auch ich habe natürlich meinen bescheidenen Beitrag für die gute Sache geleistet. Die Gegner waren die Mächte der Finsternis in der Gefolgschaft des Widersachers. Sie wurden vernichtend geschlagen und für immer aus unserer Sphäre vertrieben. Seitdem strahlt das göttliche Licht ungetrübt in die Welt und viel Gutes wird daraus entstehen. Die Gefolgsleute des Bösen zogen sich in ihr trostloses Reich zurück. Aber einige Teufel und Dämonen haben sich hier auf der Erde verschanzt. Sie können zwar den Lauf der Welt nicht mehr wesentlich ändern, aber dennoch viel Schaden anrichten.“
Daniel hörte verwundert zu und fragte sich, was das alles mit ihm zu tun haben sollte.
„Auf diesem Friedhof,“ sagte der Engel, „hält eine Bande dieser Finsterlinge die Seelen von Verstorbenen gefangen und hindert sie mit allerlei Teufelsspuk, den Weg zum göttlichen Licht zu finden. Aber es ist prophezeit, und es steht auch in den heiligen Büchern, daß in dieser Nacht ein Gerechter kommen wird um die gefangenen Seelen zum Licht zu führen. Das bedeutet eine weitere entscheidende Niederlage für die Mächte der Finsternis. Entscheidend deshalb, weil sie ihnen von einem Menschensohn beigebracht wird, und nicht von den mächtigen Engeln Gottes.“
Wie zur Bekräftigung seiner Worte ertönte in diesem Augenblick ein ohrenbetäubendes Krachen.
Es war inzwischen Abend geworden und draußen hatte sich der Himmel verfinstert. Ein starker Wind, der sich zum Sturm steigerte, fegte über die Gräber des Friedhofs und peitschte die Kronen der Bäume, die anklagend ihre Äste schüttelten. Aus drohenden schwarzen Wolken zuckten Blitze, denen unmittelbar der Donner folgte. Die Mauern des Mausoleums waren plötzlich verschwunden und mit ihnen der blau gewandete Engel. Statt dessen war Daniel von einer milde leuchtenden Aureole wie von einer Glocke umgeben.
„Fürchte dich nicht und folge dem Licht,“ hörte Daniel noch Ismaels Stimme. Dann schien sich der Himmel zu öffnen und ein Blitz wie ein riesiges Feuerschwert schlug in die Erde. Der Boden öffnete sich und klaffte weit auseinander. Aus der Spalte quollen schemenhafte, blasse Gestalten an die Oberfläche. Andere, wie schwarze Schatten, versuchten sie daran zu hindern und zerrten sie wieder in die Tiefe. Ein markerschütterndes Schreien und Kreischen mischte sich mit dem Heulen des Sturmes und dem Krachen des Donners. Der Schlund der Hölle schien sich geöffnet zu haben. Daniel war vor Entsetzen gelähmt. Er hatte noch nie, noch nicht einmal in seinen schlimmsten Alpträumen, etwas so Fürchterliches erlebt.
Die schemenhaften Gestalten, die es geschafft hatten, aus der Erdspalte zu entkommen, irrten zunächst heulend und jammernd auf dem Friedhof umher. Aus der Luft stürzten sich riesige schwarze Fledermäuse oder Flugdrachen auf sie. Die Gepeinigten schrien laut vor Angst und Schmerzen.
Dann erblickten sie Daniel.
„Seht, das Kind,“ riefen sie. Sie streckten ihre Arme nach ihm aus und liefen auf ihn zu.
„Unser Erlöser ist da! Wir sind gerettet!“
So wie die ersten die Aureole erreicht hatten, die Daniel umgab, fielen sie erschöpft nieder und blickten hoffnungsvoll zu ihm auf.
„Rette uns,“ riefen sie. „Führe uns weg von diesem schrecklichen Ort.“
Immer mehr strömten zu ihm und fanden Platz im Bereich der Aureole, die sich zu weiten schien. Mit aller Willenskraft riß sich Daniel aus seiner Erstarrung. Er mußte etwas für diese gequälten Seelen tun. Er mußte sie retten.
Fürchte dich nicht und folge dem Licht, hatte der Engel gesagt. Daniel blickte um sich. Da sah er das Licht.
Es war ein warmes, intensives Leuchten, ähnlich einer Sonnenscheibe. Als Daniel sich ihm zuwandte, verloren die schwarzen Spukgestalten ihren Schrecken. Er fühlte sich jetzt sicher. Er wußte, was er zu tun hatte. Langsam, aber entschlossen ging er auf das Licht zu. Die geretteten Seelen folgten ihm. Schon bald merkte Daniel, daß sie sich in einem großen Tunnel befanden. Das Licht leuchtete vom Ende dieses Tunnels her. Je mehr sie sich ihm näherten, um so mehr spürte Daniel Wärme und Zuversicht. Schließlich weitete sich der Tunnel und vor ihnen lag ein leuchtender Ozean.
Daniel trat an die golden glitzernde Fläche heran. Vor ihm erschien ein Boot. Als er es betrat, legte es wie von selber ab und fuhr auf den Ozean hinaus. Plötzlich war Ismael neben ihm. Er trug jetzt keinen blauen Mantel mehr und keinen schwarzen Bart, sondern schien ganz aus einem goldenen, lichten Stoff zu sein. Als sich Daniel umwandte, sah er, daß die geretteten Seelen ihm in ebensolchen Booten wie seinem folgten.
Dann näherten sie sich ihrem Ziel. Daniel sah gewaltige Türme ragen, die so stark leuchteten, daß man sie nicht lange anblicken konnte. Schließlich bemerkte er, daß es keine Türme waren, sondern hoch aufragende Gestalten.
„Das sind die Erzengel,“ flüsterte Ismael voll staunender Ehrfurcht. „Sie sind alle gekommen, um uns zu empfangen.“
„Wohin geht unsere Reise?“ fragte Daniel.
„Nach Hause,“ antwortete Ismael. „Immer nach Hause.“


2


„Wo kommst du denn jetzt her?“ schimpfte Daniels Mutter. „Wir haben uns Sorgen gemacht, bei dem schrecklichen Gewitter.“
Daniel murmelte etwas von einem Freund, bei dem er abgewartet hätte, bis das Unwetter vorüber war. Er wußte, je mehr er von der Wahrheit erzählte, um so weniger würde man ihm glauben und um so mehr Schwierigkeiten würde er bekommen.
„Das nächste Mal rufst du an und sagst gefälligst Bescheid.“ Die Mutter blickte ihn vorwurfsvoll an. „Fast hätten wir die Polizei benachrichtigt.“
Daniel ging in die Küche, wo sein Abendbrot stand.
„Hattest du wieder Schwierigkeiten in der Schule?“ fragte die Mutter, während Daniel aß. „Dein Vater und ich haben uns schon überlegt, ob es nicht besser wäre, wenn wir dich in eine andere Schule schicken würden.“
„Nein, nein, es ist alles in Ordnung,“ sagte Daniel. „Ich komme schon zurecht.“
Zu seinem eigenen Erstaunen meinte er tatsächlich, was er sagte.

Der nächste Tag begann völlig normal. Daniel hatte wieder fast verschlafen und mußte sich beeilen. Er schaffte es gerade noch zum zweiten Klingeln. Nach dem dritten Klingeln wurde die Schule zugeschlossen, und wer dann noch nicht in seinem Unterrichtsraum war, bekam Ärger.
In der großen Hofpause hielt sich Daniel wie immer am Rand auf, in der Nähe der Mädchen, wo es etwas ruhiger war. Meistens beachteten sie ihn nicht, aber diesmal unterhielt er sich die ganze Pause über mit Miriam. Das war ein unerwarteter Glücksfall, denn er war in Miriam verliebt. Allerdings war er ängstlich darauf bedacht, das niemanden merken zu lassen. Auch Miriam nicht.
Miriam ging in seine Klasse. Sie war etwa einen Kopf kleiner als er, knabenhaft, mit kurzem, dunkelbraunem Haar und graublauen Augen, deren gesprenkelte Iris von Sternen eingefaßt zu sein schien. Sie unterhielten sich über belanglose Dinge, über Filme, die sie gesehen hatten. Wichtig war, daß sie mit einander sprachen, und daß sie so lange miteinander sprachen.
Es klingelte. Ein Lehrer stellte sich zusammen mit dem Hausmeister am Eingang auf und die Schüler gingen wieder in das Schulgebäude zurück. Auch Daniel und Miriam schlossen sich den anderen an. Miriam ergriff Daniels Hand und so gingen sie jetzt über den Hof, Hand in Hand. Daniel durchströmte ein Glücksgefühl, wie er es in seinem Leben noch nicht gekannt hatte. Er konnte es nicht glauben und dennoch war das die Wirklichkeit. Plötzlich schien alles andere auf der Welt unwichtig zu sein. Daß er ihre Hand spürte, daß sie zusammen die Treppen hinaufgingen, das war das einzige, was zählte. Vielleicht war das der glücklichste Augenblick in seinem Leben. Dennoch bemühte er sich, ein möglichst unbeteiligtes Gesicht zu machen. Als wäre nichts Besonderes geschehen.
„Daniel und Miriam sind ein Liebespaar,“ krähte eine einzelne Stimme.
Als sie das Klassenzimmer betraten, ließen sie sich los und jeder ging zu seinem Platz. Alles nahm seinen gewohnten Gang. Daniel holte die Sachen für das nächste Unterrichtsfach hervor, es war Deutsch. Doch die Welt war nicht mehr die gleiche, wie noch kurz zuvor. Etwas Wesentliches war geschehen und hatte alles verändert.
Nach Schulschluß ging er mit Miriam zusammen hinaus. Auf dem Vorhof warteten Sven und Sören, die immer mit Miriam nach Hause gingen, weil ihre Familien Nachbarn und miteinander befreundet waren. Als sie dann auf das äußere Tor zu gingen, waren sie schon eine kleine Gruppe.
Vor dem Tor wartete wieder eine Traube von Kindern. Doch Daniel hatte keine Angst. Er spürte plötzlich, daß die Aureole wieder da war. Der Lichtschein, der ihn und alle um ihn herum beschützte.
Sie gingen durch die Ansammlung der wartenden Kinder hindurch. Die schien jetzt, aus der Nähe gesehen, nicht mehr ein bedrohliches, kompaktes Ganzes zu sein, sondern löste sich in Einzelne, in Paare oder kleine Gruppen auf.
„He, Schlappi!“ grölte ein plumper großer Junge namens Gunter, einer aus der siebenten Klasse, der schon einmal sitzen geblieben war und eigentlich in die achte Klasse gehört hätte. Er kam aber nicht näher. Sein Ruf war wohl eine versuchsweise Aufforderung zur Rauferei gewesen, aber niemand hatte Lust, ihm Folge zu leisten.
„Das ist die Kraft der Schwachen,“ sagte Miriam. Daniel nickte, aber er fühlte sich in diesem Augenblick durchaus nicht schwach.
„Was machst du heute Nachmittag?“ fragte Miriam.
„Ich muß zum Klavierunterricht,“ seufzte Daniel. „Ich habe eigentlich gar keine Lust. Die Klavierlehrerin ist zwar gut, aber etwas sonderbar. Sie heißt Yolanda Blavatski.“
„O Gott!“ rief Miriam. „Die Blavatski! Von der habe ich schon gehört. Die soll wirklich komisch sein. Und sehr streng.“


3

Zur vereinbarten Zeit, vier Uhr nachmittags, erreichte Daniel das halb hinter Bäumen und Sträuchern verborgene Haus in der stillen Vorortstraße. Er stieg zwei Stufen empor und stand vor der Eingangstür aus dunklem Holz. Auf einem Messingschild stand: Yolanda Blavatski. Musikpädagogin.
Daniel streckte schon die Hand nach dem schweren Türklopfer aus, der die Form eines Löwenkopfes mit einem Ring im Maul hatte und in Wahrheit eine Klingel war, als die Tür von innen geöffnet wurde. Vor Daniel stand eine hochgewachsene, hagere Frau. Sie trug einen bequemes helles Hauskleid. Um den Hals hatte sie ein fliederfarbenes Tuch geschlungen.
„Guten Tag, Daniel,“ sagte sie. „Ich habe dich schon erwartet.“
Sie war von rötlichem blond, mit einem Hang zu Sommersprossen. Feine Härchen bildeten auf ihren Wangen einen Flaum. Ihr Gesicht erinnerte entfernt an einen Hasen, was ihr als Kind zuweilen Spott eingebracht hatte. Später nicht mehr.
Yolanda Blavatski hatte einmal von einer großen Karriere als Konzertpianistin geträumt. Statt dessen wurde sie eine anerkannte Musikpädagogin. Sie nährte die Hoffnung, daß einmal einer ihrer Schüler das erreichen würde, was ihr versagt geblieben war. Doch bis jetzt war ihr noch kein Talent begegnet, das ihren hohen Erwartungen gerecht wurde.
Daniel trat in die Vorhalle und nahm einen fremdartigen, aber sehr angenehmen Geruch war. Yolanda führte ihn in den Salon, dessen Vorhänge zugezogen waren. Kerzen verbreiteten gedämpftes Licht. Der Tisch war für zwei Personen zum Tee gedeckt. Ein Konzertflügel mit aufgeschlagenen Noten darauf stand in der Mitte des Raumes.
Sie ließ Daniel in einem Sessel Platz nehmen und stellte eine Schale mit Gebäck vor ihn hin. Der eigentümliche Geruch, der die ganze Wohnung durchdrang, kam von dem Tee, der schon in die Tassen eingegossen war. Es mußte sich um eine besonders aromatische Mischung handeln.
Daniels Gastgeberin setzte sich ihm gegenüber auf eine Chaiselongue und griff nach ihrer Teetasse aus dünnem Porzellan, die mit dem honiggelben, intensiv duftenden Getränk gefüllt war.
„Ich habe dich kommen sehen und schon den Tee eingeschenkt,“ sagte sie. „Du kannst dir nach Belieben Zucker nehmen.“
Daniel fragte sich, wie sie ihn kommen sehen konnte, wenn die Fenster des Hauses nicht zur Straße hinaus gingen.
Yolanda Blavatski trank einen Schluck Tee, lächelte und lehnte sich in ihre Chaiselongue zurück.
„Aber bitte koste doch von dem Gebäck.“
Der Tee hatte eine eigentümliche Wirkung auf Daniel. Er löste seine Spannung. Zusammen mit dem Gebäck versetzte er ihn ein eine träumerische Stimmung. Vage Erinnerungsbilder aus weit zurückliegenden Tagen seines Lebens tauchten in ihm auf.
„Mach es dir nun möglichst bequem,“ sagte Yolanda. „Bevor wir mit dem Unterricht beginnen, werden wir eine kleine Lockerungs- und Konzentrationsübung machen. Sei ganz entspannt.“
Dann fuhr sie mit ruhiger, aber eindringlicher Stimme fort:
„Laß deinen Körper ganz schwer werden, zunächst die Arme, dann die Beine. Dein Atem geht ruhig. Stell ihn dir als ein großes Rad vor, das sich langsam dreht. Das Rad dreht sich immer langsamer, deine Arme und Beine werden immer schwerer, dein ganzer Körper ist jetzt ganz schwer.
Nun richte deinen Blick auf die Kerzenflamme vor dir. Konzentriere dich auf sie. Die ganze Welt versinkt um dich, es gibt nur noch diese Kerzenflamme.“
Daniels Blick war unbewegt auf die Flamme gerichtet. Er sah nichts anderes mehr. Das ganze Dasein schien in dieser Flamme versammelt zu sein.
„Nun laß deine Seele ins Bodenlose fallen. Denke an gar nichts und öffne dich,“ raunte Daniels Mentorin nach einer Weile und löschte die Kerze vor ihm.
Daniel sah zunächst kreisende farbige Nebel. Dann waren Formen zu erkennen. Eine Gestalt tauchte aus dem Nebel auf. Eine Art Tier. Es sah aus, wie eine Mischung aus Schwein, Elefant und Rhinozeros. Das Abfallprodukt eines Genlabors. Es hatte winzige, tückische Augen, die rot glühten, als befände sich dahinter ein Ofen. Seine rüsselartige Schnauze war leicht geöffnet und zeigte zahlreiche spitze Fänge und Hauer. Eine Zunge, die einer dicken Schlange ähnelte, kroch daraus hervor.
„Wer bist du?“ fragte Daniel entsetzt.
Das Untier gab drei langgezogene Grunzlaute von sich. Es klang wie:
BE - HE - MOTH.
Daniel hörte von weit her ein Scheppern und Klirren. Eine Stimme rief seinen Namen. Allmählich merkte er wieder, wo er sich befand. Er saß im Salon von Yolanda Blavatski auf dem Rand eines Sessels. Auf dem Boden lag eine zerbrochene Teetasse. Daniel mußte sie mit einer impulsiven Bewegung vom Tisch gestoßen haben. Yolanda hatte ihn an den Schultern gefaßt, schüttelte ihn und sah ihm besorgt ins Gesicht.
„Daniel, was ist mit dir?“ rief sie.
„Es ist nichts,“ antwortete er. „Entschuldigen Sie bitte, ich habe wohl die Tasse zerbrochen.“
„Sag mir, was hast du gesehen?“
Daniel versuchte, die Erscheinung zu beschreiben.
„Es sagte, es hieße Behemoth.“
Yolanda erbleichte.
„Daniel, sei auf der Hut,“ sagte sie. „Du bist in großer Gefahr.“

Nach dem Unterricht begleitete Yolanda Blavatski Daniel bis zur Tür.
„Ich erwarte dich morgen wieder,“ sagte sie. In Gedanken versunken blickte sie ihm noch eine Weile nach, während er die stille Vorortstraße hinunterging. Dann war er ihren Blicken entschwunden.

Nachdem Daniel das Haus der Musiklehrerin verlassen hatte, schlug er einen Weg ein, der ihn an verödeten Gärten und Feldern vorbei führte. Der Himmel hatte sich bedeckt und ein stürmischer Wind fegte über das Land.
Plötzlich war Ismael bei ihm, der Bote des Herrn.
„Sei bereit, Daniel,“ sagte er. „Du mußt noch einmal einige Seelen hinüber geleiten.“
Der Himmel wurde von Gewitterwolken verdunkelt, der Sturm heulte und Blitze zuckten. Daniel fröstelte. Er fühlte sich mit einem Mal krank und verloren. Wie gerne wäre er jetzt zu Hause gewesen, hätte es sich im Bett bequem gemacht und ein Buch gelesen, während draußen die Elemente tobten.
Dann war Ismael verschwunden. Ein gewaltiges Krachen ertönte und die Erde öffnete sich. Sofort schossen heulende Dämonen heraus, schwarze, geflügelte Teufel. Dann quollen die gequälten Seelen hervor und strömten ächzend und stöhnend auf Daniel zu, gegeißelt von höhnisch lachenden Höllenknechten. Daniel sah sich nach dem Licht um. Schließlich sah er es in der Ferne, nur war es diesmal nicht stetig und sonnenhell, sondern flackernd und blutrot.
Daniel ging auf das rote Licht zu. Die Seelen folgten ihm. Sie gingen wieder durch einen Tunnel. Es war darin kalt, feucht und zugig. Daniel dachte, daß er sich bestimmt erkälten würde. Dann weitete sich der Tunnel und vor ihm lag der Ozean. Er war bleigrau und unbewegt. Am Horizont flackerte das rötliche Licht wie eine ferne Feuersbrunst.
Daniel betrat ein schwarzes Boot. Es legte sofort vom Ufer ab. Die Seelen folgten ihm in weiteren Booten. Sie bildeten eine stumme Flotte von schwarzen Barken, die über das tote graue Wasser glitt. Dann kam das Ziel in Sicht. Es war ein öder Landstrich. Nur wenige, völlig kahle schwarze Bäume waren zu erkennen. Links und rechts von der Hafeneinfahrt standen drohend zwei große graue Wachtürme. In der Ferne waren nackte Berge zu sehen, die Feuer spien. Daher kam der flackernde rote Schein.
Daniel wandte den Blick seitwärts, um zu sehen, ob Ismael neben ihm war. Doch da war nicht Ismael. Da war kein aus Licht gewobener Engel. Neben Daniel stand ein Ungeheuer mit rotglühenden Schweinsaugen. Aus seinem Maul wand sich eine dicke Schlange.
Neben Daniel stand der Behemoth.


4


Yolanda Blavatski wunderte sich, als sie am nächsten Morgen die Rosen sah. Ein Unbekannter hatte sie abgegeben. Es war keine Karte dabei. Sie waren schwarz. Sie hatte noch nie zuvor schwarze Rosen gesehen. Und sie dufteten nicht.
Am Nachmittag erwartete sie ihren Schüler. Sie bereitete den Tee, dann deckte sie im Salon den Tisch. Sie zündete eine Kerze an und zog die Vorhänge vor. Pünktlich vier Uhr klingelte es. Dieses Mal hatte sie Daniel nicht vorher kommen sehen.
Sie öffnete und Daniel trat ein. Sie gingen in den Salon und Yolanda goß Tee in die Tassen. Sie setzten sich. Nachdem sie den Tee getrunken hatten sagte Yolanda:
„Nun wollen wir dort weitermachen, wo wir gestern aufgehört haben.“
Daniel stand auf und setzte sich an den Flügel. Es waren Noten aufgeschlagen, ziemlich schwierige Stücke von Chopin. Yolanda hatte sich kürzlich wieder einmal daran versucht.
Daniel begann zu spielen und sie hörte zu. Schweigend.
„Schluß jetzt,“ sagte sie schließlich. „Du bist mir zu unkonzentriert. Wir wollen wieder eine Konzentrationsübung machen, wie schon das letzte Mal. Da hat es ja ganz gut bei dir funktioniert.“
Sie ließ Daniel wieder in dem Sessel Platz nehmen und sich entspannen. Dann mußte er sich auf die Kerzenflamme konzentrieren. Bald war er in Trance.
„Wer bist du?“ fragte ihn Yolanda.
„Ich bin Daniel,“ antwortete er.
„Du bist nicht Daniel. Also, wer bist du?“
„Ich bin Daniels Widerpart. Ich bin alles, was er nicht ist.“
„Wo ist Daniel?“
„Daniel ist dort, wo ich sonst bin. Bei uns.“
„Wo ist das?“
„In der anderen Welt.“
„Warum hat man euch ausgetauscht?“
„Sie brauchen ihn.“
„Wozu brauchen sie ihn? Was kann er, das du nicht kannst?“
„Er ist ein Psychopomp. Ein Seelenführer. Bitte lassen Sie mich gehen, mir wird heiß. Die Flamme verbrennt mich.“
Yolanda Blavatski zögerte einen Moment. Dann entschloß sie sich zu einer letzten Frage.
„Wer ist dein Herr?“
„Der Herr.“
„Wie ist der Name deines Herrn?“
„Bitte, lassen Sie mich gehen! Ich brenne!“
„Der Name!“
„LUZIFER!“ rief er in größter Not.
Yolanda klatschte in die Hände. Daniels Widerpart kam zu sich. Er war in Schweiß gebadet und keuchte.
„Es ist gut, Daniel,“ sagte sie. „Für heute machen wir Schluß. Du bist erschöpft und mußt dich erholen. Du gehst jetzt nach Hause und wir sehen uns morgen wieder.“
Sie brachte ihn zur Tür.
„Und vergiß nicht, morgen zur gleichen Zeit,“ sagte sie ihm beim Abschied.

Yolanda Blavatski ging in ihren Salon zurück und schenkte sich noch eine Tasse des köstlichen aromatischen Tees ein. Sie hob sie mit der Untertasse in die Höhe ihres Mundes und trank den Tee in kleinen Schlucken. Plötzlich stand, in seinen blauen Mantel gehüllt, Ismael vor ihr. Er schien direkt einer Ikone entstiegen zu sein. Sicher hatte er unter dem Mantel ein Schwert. Sie verschluckte sich, stellte die Tasse ab und hustete. Dann blickte sie Ismael mit zusammengezogenen Brauen an und fragte ihn:
„Wer bist du?“
„Ich bin Ismael, der Bote des Herrn,“ antwortete ihr Gegenüber.
„Beweise es,“ entgegnete Yolanda. „Wie soll ich wissen, ob du nicht in Wahrheit ein Sendbote der Hölle bist?“
Ismael schlug das Zeichen des Kreuzes und sprach:
„Gelobt sei Jesus Christus.“
„Nun gut,“ sagte Yolanda. „Was willst du?“
„Du mußt mir helfen,“ sagte Ismael. „Ich wurde hereingelegt. Es war meine Aufgabe, Daniel zu beschützen. Man hatte mich weggelockt und der widerliche Behemoth nahm meine Gestalt an. Sie können es nicht wagen, uns im offenen Kampf gegenüberzutreten und so benutzen sie schamlos billige Tricks und schäbige Gemeinheiten. Jetzt haben sie Daniel. Sie mißbrauchen ihn als Psychopomp. Wir müssen ihn unbedingt zurückholen, sonst droht mir als Strafe eine Wiedergeburt als Mensch.“
„Wo befindet sich Daniel jetzt?“ fragte Yolanda und nippte an ihrem Tee.
„In der Gegenwelt,“ erklärte Ismael. „Das ist eine Welt, die bei flüchtiger Betrachtung der irdischen ähnelt. Luzifer spielt sich dort als Schöpfer und Meister auf. Er hat einige kreative Geister überredet, für ihn zu arbeiten. Das Material für seine Afterschöpfung stiehlt er, oder läßt er stehlen, wo er nur kann.“
„Können wir überhaupt etwas tun?“
„Wir haben den anderen Jungen, den Widerpart,“ sagte Ismael. „Wir müssen ihn und Daniel zusammenbringen. Dann haben beide die Möglichkeit, die Plätze zu tauschen und wieder in ihre Welt zurückzukehren.“
„Er spielte wie ein junger Gott,“ sagte Yolanda. „Kraftvoll und mit Ausdruck. Ich wäre glücklich, ihn als Schüler zu haben. Mir war sofort klar, daß das nicht der Daniel sein konnte, der am Tag zuvor hier war. Wird der andere denn überhaupt zurück wollen?“
„Aber ja. Das ist unser Trumpf. Er will ebenso in jene Welt zurück wie Daniel in die seine. Wir müssen nur irgendwie ein Zusammentreffen zwischen den beiden arrangieren. Wir müssen es natürlich sehr geschickt anfangen. Der kleinste Fehler, die geringste Unvorsichtigkeit könnten katastrophale Folgen für alle Beteiligten haben.“
„Ja,“ sagte Yolanda Blavatski spöttisch. „Sie könnten als Menschen wiedergeboren werden.“


5


Miriam hatte einen Traum.
Sie träumte, sie wäre mit Daniel auf einem Jahrmarkt mit vielen Karussells und Attraktionen. Sie fuhren mit der Berg-und-Tal Bahn und sie schmiegte sich an ihn. Er legte seinen Arm um sie. Aus den Lautsprechern tönte Musik und um sie herum waren bunte Lichter.
Sie kauften sich eine Portion Zuckerwatte und zupften das süße Gespinst mit ihren Mündern ab, bis nur noch der dünne Holzstab übrigblieb und sie sich unter Lachen mit Mund und Nase berührten.
Dann gingen sie zu einer Schießbude und Daniel schoß eine Rose. Er gab sie ihr und Miriam erschrak. Die Rose war schwarz. Es war eine Trauerblume.
Sie kamen zu einem Vergnügungspark, der Venezia hieß. Man konnte dort in Gondeln steigen und mit ihnen durch ein imitiertes Venedig fahren. Sie setzten sich in eine der schwarzen Gondeln und diese setzte sich sofort in Bewegung. Sie fuhren durch Kanäle und unter Brücken hindurch. Auf den Gassen und Plätzen standen kostümierte Figuren mit schwarzen Gesichtsmasken. Es mußten Puppen sein, sie waren wie in der Bewegung erstarrt.
Dann schien es Miriam, als wären sie wirklich in Venedig. Aber es war alles düster. Die Brücken waren mit schwarzen Tüchern verhängt. Darauf standen Menschen in schwarzen Masken und Kostümen und blickten schweigend zu ihnen hinunter. Es war dunkel. Es brannten keine Laternen, nur einzelne Fackeln loderten. Die Fenster der Palazzi waren mit hölzernen Läden verschlossen oder mit schweren Stoffen zugehängt, so daß kein Lichtstrahl nach draußen drang.
Sie kamen auf einen großen Kanal. Dort waren zahlreiche andere schwarze Gondeln unterwegs, alle in der gleichen Richtung. Die Gondolieri gaben ab und zu langgezogene, klagende Rufe von sich. Daniel stand jetzt ebenfalls mit einem Ruder in der Hand am Ende der Gondel und stieß solch einen gedehnten Klagelaut aus.
Auf dem Kanal fuhr eine ganze Flotte von Gondeln dahin. Sie schwammen alle auf eine riesige ummauerte Öffnung zu. Der Kanal floß dort hinein wie in eine große unterirdische Kloake.
„Fahr nicht dort hin!“ rief Miriam Daniel zu.
„Es gibt keinen anderen Weg,“ sagte Daniel. „Wir müssen da hinein.“
Sie fuhren mit den anderen Gondeln in die Öffnung wie in einen großen Schlund. Darin war es dunkel, kalt und zugig. In der Ferne sah Miriam einen unheilvoll flackernden blutroten Lichtschein.
„Nein!“ schrie sie. „Ich will da nicht hin!“
Dann erwachte sie, in Schweiß gebadet.

Sie konnte lange nicht wieder einschlafen. Sie machte sich Gedanken wegen Daniel. Er hatte sich verändert in letzter Zeit. Das Sanfte seines Wesens war ganz von ihm abgefallen. Statt dessen war er düster und schweigsam.
In der Schule verblüffte er die ganze Klasse im Musikunterricht. Er hörte überhaupt nicht zu und las in einem Roman. Es war „Quentin Durward“ von Walter Scott. Der Musiklehrer, Herr Lautenbach, merkte das natürlich und wurde ärgerlich. Er fragte Daniel, warum er nicht am Unterricht teilnähme.
„Das ist alles nichts Neues für mich,“ sagte Daniel. Die Klasse lachte.
„Ich weiß, daß du Klavierunterricht bei Frau Blavatski nimmst,“ sagte Herr Lautenbach. „Das ist sehr schön für dich. Vielleicht bist du ja wirklich ein neuer Arthur Rubinstein. Komm doch einmal nach vorne und gib uns eine Probe deines Könnens.“
Wieder gab es Kichern in der Klasse. Daniel schlenderte langsam vor und setzte sich lässig an das Klavier.
„Möchtest du Noten haben?“ fragte der Lehrer. Daniel schüttelte den Kopf. Er schlug einen Ton an, lauschte und sagte:
„Eigentlich ist es unter meiner Würde, auf einem solchen Instrument zu spielen.“
Die Klasse brach in schallendes Gelächter aus. Auch Herr Lautenbach lächelte. Noch.
„Nun gut, Daniel. Vielleicht läßt du dich für uns ausnahmsweise einmal soweit herab,“ sagte er ironisch.
Daniel ließ spielerisch und scheinbar gelangweilt die Hände über die Tasten gleiten. Er erzeugte dabei einen perlenden Klang, der von weither zu kommen schien und allmählich anschwoll. Dann wurde sein Spiel immer furioser. Daniel Hände schienen wie losgelassene Kobolde über die Tasten zu springen. Der alte Holzkasten des Klaviers dröhnte und summte. So etwas hatte er in seiner Laufbahn als Schulklavier noch nicht erlebt. Auf dem Höhepunkt, als das altehrwürdige Instrument jeden Moment auseinander zu bersten drohte, brach Daniel mit einem gewaltigen Schlußakkord ab. Der Klang schwang noch eine Weile im Raum nach. Für einen Augenblick herrschte Stille. Dann klatschten alle, auch Herr Lautenbach, stürmisch Beifall. Daniel stand auf, verbeugte sich humoristisch und ging wieder zu seinem Platz, wo noch der aufgeschlagene Roman lag.
„Was war das für ein Stück, das du eben gespielt hast?“ fragte Herr Lautenbach.
„Ach, das war nichts,“ sagte Daniel und blätterte wieder in seinem Buch. „Das fiel mir gerade so ein.“

Es war am gleichen Tag, als Daniel nach der Schule mit Miriam auf die Straße trat und plötzlich Gunter vor ihm stand. Er hatte noch zwei seiner Vasallen bei sich. Beide waren Achtenklässler, aus Gunters alter Klasse. Er selber mußte zur Zeit die siebente wiederholen.
„Wollen wir Volleyball spielen, Schlappi?“ sagte er zu Daniel. „Du bist der Ball.“
Seine Begleiter lachten hämisch. Neugierig sammelten sich um sie Kinder verschiedenen Alters.
Miriam stellte sich vor Daniel und fauchte Gunter an: „Laß ihn ja in Ruhe. Such dir einen von deiner Größe, wenn du dich prügeln willst.“
„Der Schlappsack läßt sich von Weibern beschützen. Schafft mir die Kröte vom Hals, damit ich mich in Ruhe mit Schlappi amüsieren kann,“ rief Gunter seinen zwei Trabanten zu.
Daniel schob Miriam beiseite und drückte ihr seine Schultasche in die Hand.
„Geh mal aus dem Weg und halte das,“ sagte er.
Er trat etwas zurück, beugte sich nach vorne und ehe noch jemand richtig begriff, was er tat, hatte er Gunter seinen Kopf in den Magen gerammt.
Gunter fiel zu Boden. Er krümmte sich und schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Neugierig drängten sich die Schulkinder um ihn herum, darunter seine zwei Kumpane.
„Vielleicht sollten wir einen Krankenwagen holen,“ rief einer.
„Das ist nicht nötig,“ sagte Daniel. Er hatte sich über Gunter gebeugt und sah ihm prüfend ins Gesicht.
„Es ist nichts weiter. In ein paar Minuten ist er wieder in Ordnung.“
Dann ging er mit Miriam davon. Sven und Sören, die sich während der Auseinandersetzung abseits gehalten hatten, schlossen sich ihnen an.
Seitdem wurde Daniel in Ruhe gelassen. Man behandelte ihn mit Respekt. Gunter und seine Kumpane gingen ihm aus dem Weg. Miriam fragte sich, was Daniel so verändert hatte.

6


Miriam hörte die Stimme ihrer Mutter wie aus weiter Ferne.
„Miriam, du mußt aufstehen. Du kommst zu spät in die Schule.“
Miriam erhob sich mühsam und wollte in Richtung des Badezimmers gehen. Ihr wurde schwindlig. Ihre Beine wollten sie nicht tragen. Sie gaben unter ihr nach und sie fiel zu Boden. Die Mutter kam herein und rief entsetzt:
„Miriam. Was ist mit dir?“
Sie beugte sich über sie.
„Mein Gott, du glühst ja.“
Sie half ihr wieder ins Bett und holte ein Fieberthermometer.
„Um Gottes Willen,“ rief sie, nachdem sie gemessen hatte. „Du hast fast einundvierzig Fieber. Ich rufe sofort den Notarzt.“
Der Notarzt kam, untersuchte Miriam und sagte zu ihrer Mutter:
„Sie hat eine Lungenentzündung. Sie muß sofort in die Klinik. Können Sie sie selber hinbringen oder soll ein Krankenwagen kommen?“

Es war schon spät abends, als Miriams Mutter schließlich nach Hause ging. Der diensthabende Arzt hatte ihr dazu geraten, damit sie am nächsten Tag einigermaßen ausgeschlafen war. Miriam lag in einem Einzelzimmer auf der Intensivstation. Sie schlief fest. Man hatte ihr ein Mittel gegeben.
Da öffnete sich die Tür und Daniel und Yolanda Blavatski schlichen sich vorsichtig herein. Sie traten an Miriams Bett. Daniel ergriff ihre Hand. Sie war heiß. Miriam zeigte keinerlei Reaktion. Ihr Puls war rasend schnell und flach, kaum spürbar.
„Muß sie sterben?“ fragte Daniel.
„Ich weiß es nicht,“ antwortete Yolanda Blavatski.
Sie rückten zwei Sessel neben das Bett, setzten sich hinein und warteten. Bald senkte sich Müdigkeit wie mit Bleigewichten auf sie.
„Wenn du weggehst, werde ich dich vermissen,“ sagte Yolanda zu Daniel. „Du warst mein begabtester Schüler. Ein Talent wie deines ist selten. Unter meiner Obhut hättest du eine große Karriere machen können.“
„Ich weiß,“ sagte Daniel. „Aber ich wäre in eurer Welt nicht glücklich geworden.“
„Bist du es denn in der anderen?“ fragte Yolanda.
„Nein,“ antwortete Daniel. „Aber es ist dort für mich erträglicher. Ich bin unter meinesgleichen. Hier ist das Leben öde und langweilig.“
„Die Kunst kann das Leben auch hier lebenswert machen,“ erklärte Yolanda.
„Ich werde Miriam vermissen,“ sagte Daniel nach einer Weile. „Um sie beneide ich ihn. Vielleicht ist sie das beste, was uns in unserem Leben widerfahren ist.“

Miriam hatte einen Traum.
Es war Nacht. Sie lag in einem Bett im Krankenhaus. Die Nachtlampe verbreitete ein abgeschirmtes Licht. Die Gegenstände im Zimmer warfen große Schatten. Es war noch jemand im Raum. Zusammengesunken in einem Sessel saß ein Junge, der wie Daniel aussah. Genau konnte sie es nicht erkennen, sein Gesicht lag im Schatten. In einem anderen Sessel saß eine große, schlanke Frau. Beide schienen zu schlafen.
Miriam war heiß. Ihre Lippen und ihr Mund waren ausgetrocknet. Sie hatte Durst. Vielleicht konnte man ihr etwas zu trinken geben. Sie öffnete den Mund und versuchte zu sprechen, aber sie brachte keinen Ton heraus. Sie war unfähig, sich zu bewegen.
Plötzlich begannen die Wände des Zimmers zurückzuweichen. Der Raum weitete sich und vor Miriam lag ein großer Saal, an dessen Ende ein Thron stand. Der Thron schien von innen her zu glühen. Miriam spürte die Hitze, die von ihm ausging. Auf ihm saß ein Ungeheuer mit einer rüsselartigen Schnauze, aus der sich eine Schlange wand. Das Ungeheuer war in prächtige goldene Gewänder gehüllt und hatte eine dreifache Krone auf dem Kopf. In der rechten behandschuhten Klaue hielt es einen reichverzierten Stab.
Vor dem Ungeheuer stand Daniel. Er war sehr blaß und sah elend aus. Miriam spürte unendliches Mitleid mit ihm.
„Hole mir ihre Seele, Psychopomp!“ trompetete das Ungeheuer und wies mit seinem Stab auf Miriam.
„Nein,“ sagte Daniel mit schwacher, aber entschlossener Stimme. „Sie sollst du nicht haben.“
„Gehorche!“ schnaubte das Untier. „Du bist mein Sklave und hast kein Recht auf einen eigenen Willen.“
„Ich weiß, daß es eine Kraft gibt, vor der du machtlos bist,“ sagte Daniel. „Diese Kraft verbindet mich mit ihr. Jetzt und in Ewigkeit.“
„Dann leide. Jetzt und in Ewigkeit. Brenne!“ tobte das Ungeheuer. Mit Entsetzen sah Miriam Flammen an Daniel empor lodern. Er krümmte sich und schrie laut vor Schmerz.
Da erstrahlte plötzlich ein gleißendes Licht und tauchte alles in seinen hellen Schein. Das Ungeheuer schrie auf und hielt sich schützend seinen Stab vor den Kopf. Eine große, leuchtende Gestalt stand in der Mitte des Saales. Sie schien ganz aus Licht gewoben. Sie trug einen langen, glänzenden Mantel. In der Hand hielt sie ein Schwert, das wie ein Lichtbogen flammte.
Die Erscheinung richtete ihr Schwert auf das Untier auf dem Thron. Ein Blitz traf das Monstrum. Thron, Gewand und Krone lösten sich in Nichts auf. Das Wesen war in seiner ganzen Häßlichkeit zu sehen. Es heulte wütend, dann war es verschwunden.
Daniel richtete sich auf. Die Flammen, die ihn gepeinigt hatten, waren erloschen. Er blickte die strahlende Erscheinung an und rief erstaunt und erleichtert:
„Ismael!“
Die Lichtgestalt lächelte.
„Ich bin zwar kein Erzengel,“ sagte sie, „aber, wie du siehst, habe ich Teil an ihrer Macht. Kommt jetzt beide hierher.“
Der andere Junge stand auf und trat zusammen mit Daniel vor Ismael. Sie sahen aus wie Zwillinge. Sie blickten sich erstaunt an. Dann traten sie aufeinander zu und schienen für einen Moment zu verschmelzen. In diesem Augenblick leuchteten sie fast so hell wie der Engel. Dann lösten sie sich voneinander und jeder ging, ohne sich umzublicken, in eine andere Richtung. Die Wände des Saales rückten mit beängstigender Geschwindigkeit zusammen. Der Saal war verschwunden und Miriam lag wieder in ihrem Krankenzimmer. Den Rest der Nacht über schlief sie ruhig und tief.
Als am nächsten Morgen die Schwester vom Frühdienst in Miriams Zimmer kam, war sie ungehalten, weil sie zwei Angehörige vorfand, die dort übernachtet hatten, ohne zuvor die Erlaubnis des Stationsarztes eingeholt zu haben. Der Patientin selber ging es deutlich besser. Der Oberarzt war bei der Visite sehr zufrieden und Miriam wurde noch am gleichen Tag auf eine andere Station verlegt. Nach einigen Tagen konnte sie nach Hause entlassen werden.
Daniel blieb Yolanda Blavatskis bester Schüler. Die Begegnung mit seinem Doppelgänger hatte offenbar etwas von dessen Eigenschaften und Fähigkeiten auf ihn abfärben lassen. Möglicherweise waren seine Fortschritte auf musikalischem Gebiet aber auch Yolanda Blavatskis hervorragendem Unterricht geschuldet. Vielleicht gab es gar keinen Doppelgänger und keinen Engel namens Ismael und auch keinen Behemoth. Daniel spürte, daß die Wahrheit irgendwo tief in seinem Inneren begraben war und dort wollte er sie vorerst ruhen lassen.




7



Inzwischen waren mehrere Jahre vergangen. Daniel mochte Miriam noch immer gerne, aber das große Gefühl war verschwunden. Eines Tages stellte er fest, daß es nicht mehr da war. Er interessierte sich jetzt für ein anderes Mädchen aus seiner Klasse, Dagmar, die größer war als Miriam, mit langen schwarzen Haaren. Sie schrieben sich im Unterricht Liebesbriefe, gingen zusammen ins Kino und tauschten Pullover und Jacken. Es war nicht das gleiche, wie bei Miriam, aber es war interessant und aufregend.

Miriam schien es nichts auszumachen. Auch sie hatte einen festen Freund, einen Jungen aus der zwölften Klasse. Sie und Daniel waren jetzt in der zehnten.

Daniel galt in der Schule als Klaviervirtuose und bei jeder Schulveranstaltung mußte er ein Paradestück zum besten geben. Er hatte aber nicht die Absicht, ernsthaft Musiker zu werden. Er dachte, daß er einmal einen naturwissenschaftlichen Beruf ergreifen würde, Chemiker oder Physiker. Die Musik würde er als Hobby weiter betreiben.

Miriam war im Schulchor. Wie die meisten anderen war sie es hauptsächlich wegen der Reisen, die der Chor unternahm. In diesem Frühjahr sollte es zu einem Festival nach Frankreich gehen. Dafür wurde intensiv geprobt.

Eines Tages saß Daniel im Garten im Liegestuhl und las in einem Buch. Plötzlich hatte er das Gefühl, beobachtet zu werden. Er ließ das Buch sinken und blickte sich um. Es war niemand da. Er nahm das Buch wieder auf und versuchte weiterzulesen. Doch er konnte sich nicht mehr konzentrieren. Er spürte in sich eine Leere, einen grauen Bereich, der sich immer mehr ausbreitete. Ihm war elend, ohne daß er wußte, warum. So starrte er eine Weile vor sich hin. Etwas stimmte nicht mit ihm.

Später klingelte das Telefon. Seine Mutter war in der Küche beschäftigt. Daniel nahm den Hörer ab und meldete sich. Der Anrufer blieb stumm.

„Wer ist da?“ rief Daniel.

„Ich bin es,“ kam es nach einigem Zögern. Die Stimme kam Daniel merkwürdig vertraut vor. Eine Jungenstimme.

„Wer ist ich?“ fragte er.

„Du weißt schon wer ich bin,“ antwortete es aus dem Hörer. „Ich bin wieder da, ganz in deiner Nähe. Vielleicht sehen wir uns zufällig einmal.“

„Sollte ich dich kennen?“

„Das solltest du schon.“

Er hörte ein kurzes Lachen, dann hatte der andere aufgelegt. Daniel spürte Schweiß auf seiner Stirn. Tief in seinem Innern regte sich Angst. Es war, als hätte sich ein Schatten auf ihn gelegt. Ein Schatten aus der Vergangenheit.

Am Tag darauf sprach ihn eine Frau in der Buchhandlung an.

„War er nicht wundervoll, dieser Rachmaninow-Abend gestern,“ schwärmte sie. „Man findet es heute leider selten, daß so junge Leute wie Sie sich für diese herrliche Musik begeistern. Und Sie waren begeistert. Ich habe es in ihrem Gesicht gesehen.“

„Sie müssen mich mit jemandem verwechseln,“ erwiderte Daniel. „Ich war bei keinem Rachmaninow-Abend.“

„Aber natürlich, Sie haben doch neben mir gesessen,“ sagte die Frau. „Sie können es ruhig zugeben. Ich erzähle auch niemanden, daß Sie ihre kleine Freundin bei sich hatten.“

In der Schule probte der Chor jetzt jeden Tag. Am Freitag war es dann soweit. Der Bus nach Frankreich fuhr ab. Daniel war nicht dabei. Er war nicht im Chor.

Spät abends klingelte das Telefon. Daniels Mutter ging an den Apparat im Flur. Sie meldete sich und stieß kurz darauf einen entsetzten Ruf aus. Daniel erschrak. Er hatte gewußt, daß etwas nicht stimmte. Daß etwas passieren würde. Er hatte ein gräßliches Gefühl, als wenn er sich von innen her auflösen würde.

Seine Mutter kam zu ihm ins Zimmer. Sie war blaß und verstört. Sie sagte, der Bus mit dem Chor wäre verunglückt. Nachts, auf nasser Straße, war er von der Fahrbahn abgekommen und in eine Schlucht gestürzt. Es gab Tote und Verletzte. Genaues wußte man noch nicht. Später erfuhren sie dann die Namen der Toten und Verletzten. Unter den Toten befand sich Miriam.

Herr Lautenbach, der Musiklehrer, gehörte zu den Überlebenden. Er war der Leiter des Chores und hatte während der Fahrt vorne neben dem Fahrer gesessen. Als die Polizei ihn im Krankenhaus vernahm, sagte er, daß plötzlich jemand mitten auf der Fahrbahn gestanden hatte. Es war ein Halbwüchsiger. Er blickte in die Richtung des auf ihn zu rasenden Busses und rührte sich nicht von der Stelle. Der Busfahrer hatte versucht auszuweichen. Dabei war das Fahrzeug ins Schleudern gekommen und die Böschung hinabgestürzt. Es überschlug sich mehrmals und landete zehn Meter tiefer in einem Bach. Der Busfahrer wurde eingequetscht und war sofort tot. Er befand sich auf der Seite, mit der der Bus unten aufschlug. Ebenso erging es sieben Schülerinnen.

Von dem Verursacher des Unfalls fehlte jede Spur. Merkwürdig war auch, daß der Lehrer sagte, er habe ausgesehen wie einer seiner Schüler. Wie Daniel.





8



Natürlich überprüfte die Polizei routinemäßig diese eigenartige Aussage, aber es war völlig unmöglich, daß sich Daniel zu der in Frage kommenden Zeit in der Nähe des Unglücksortes aufgehalten haben konnte.

In der Schule hatte sich die Sache mit dem nächtlichen Phantom, das wie Daniel ausgesehen haben sollte, sofort herumgesprochen. Sogar im Fernsehen war darüber berichtet worden. Ein Kamerateam kreuzte eines Tages auf. Sie befragten Lehrer und Schüler, auch Daniel. In den Pausen wurde Daniel jetzt gemieden. Während des Gedenkgottesdienstes machte man sich gegenseitig auf ihn aufmerksam. In der Reihe, in der er saß, beugten sie sich vor, um ihn anzustarren.

Daniel hatte das Gefühl, daß ihm sein Leben entglitt.

Er ging wieder auf den Friedhof und schlenderte versonnen an den Gräbern entlang. Irgendwo würde hier bald Miriams Grab sein. Er kam zu dem Mausoleum und versuchte, die Tür zu öffnen. Sie war verschlossen.

Als der nächste Anruf kam, erschrak er nicht mehr. Er hatte darauf gewartet.

„Wir müssen uns treffen,“ sagte er. „Noch heute abend.“

„Kennst du die Treppe am Wehr?“ fragte der Anrufer nach einem Augenblick des Zögerns.

„Natürlich,“ antwortete Daniel. Dort war er früher manchmal mit Miriam gewesen.

„In einer Stunde. Geht das?“

„In Ordnung,“ sagte Daniel und legte den Hörer auf.

„Du willst weg?“ fragte Daniels Mutter erstaunt. „Jetzt noch?“

Sie blickte ihm besorgt nach. Der Junge war in letzter Zeit so merkwürdig. Ob das am Alter lag?

Es war völlig dunkel, als Daniel sich dem Wehr näherte. Hier brannte keine Laterne. Stufen führten hinab zum Wasser, das rechter Hand das Wehr herabgeschossen kam. Es war ziemlich laut. Am Fuß der Treppen kochte die Gischt. Dort stand jemand. Daniel stellte sich neben ihn. Er wußte, wer das war.

„Warum hast du das gemacht?“ fragte er.

„Ich brauchte sie,“ antwortete der andere.

„Wo ist Miriam?“

„Sie ist bei mir. Willst du sie sehen?“

Daniel nickte. Ein Kloß steckte ihm plötzlich im Hals.

„Dann müssen wir beide eine kleine Reise machen. Du solltest dich ja damit auskennen.“

„Ja,“ sagte Daniel. „Gehen wir.“

Der andere ging voran. Seitwärts führte eine steinerne Ufereinfassung zu einer kleineren Treppe mit einem Eisengeländer, die vor einer runden Öffnung im Mauerwerk endete. Wahrscheinlich war hier ein Ausgang der Kanalisation. Sie betraten die Röhre und gingen im Dunkeln vorwärts. Daniel folgte blindlings seinem Vordermann. Sie gingen auf einem schmalen Steg am Rand der Röhre entlang. Unter ihnen floß Wasser. Es roch modrig und dumpf. Dann krochen sie in eine andere Röhre, deren Öffnung sich in der Wand befand. Diese Röhre war kleiner und sie kamen nur gebückt vorwärts. Später wurde die Röhre größer und sie konnten wieder aufrecht gehen. Schließlich befanden sie sich in einem großen Tunnel, an dessen Ende ein Licht schimmerte.

„Jetzt folgen wir dem Licht,“ sagte Daniels Widerpart.

Allmählich weitete sich der Tunnel und sie kamen an einen Ozean. Das Wasser war ruhig und glatt, fast wie ein Spiegel. Darüber türmten sich Gewitterwolken, die von einem flackernden, schwefelgelben Licht erhellt wurden. Am Ufer wartete ein Kahn. Sie stiegen wortlos ein und legten ab. Daniels Doppelgänger hatte ein Ruder ergriffen, mit dem er steuerte. Bald näherten sie sich einer Insel. Sie bestand aus steilen, gelblichen Felsen, die unvermittelt aus dem Wasser emporragten und einen Hain düsterer Zypressen umgaben. In die Felsen waren Fensteröffnungen geschlagen und Mauerwerk war erkennbar. Auch ein oder zwei Balkone waren zu sehen. Eine Mauer aus Natursteinen grenzte den Zypressenhain zum Meer hin ab. Zwischen zwei Quadern befand sich ein kleiner Anlegeplatz, auf den sie zusteuerten. Es war ein eigenartig schöner, aber auch düsterer Ort.

„Das ist meine Insel,“ sagte Daniels Doppelgänger. „Gefällt sie dir?“

„Ist Miriam hier?“ fragte Daniel.

„Ja,“ sagte der andere. „Miriam ist hier. Du wirst sie schon noch früh genug zu sehen bekommen. Doch erst will ich dir zeigen, wie ich hier lebe.“

Sie gingen durch den dunklen Zypressenhain und stiegen einige breite Marmorstufen zu einer in den Fels hinein gebauten Villa empor. Sie betraten die Innenräume, die prächtig ausgeschmückt waren mit Wand- und Deckenbildern, reichlichen Verzierungen, Säulen und Intarsien. Allerdings gab es kaum Möbel, es war, als wäre man in einem Museum. Eine gläserne Flügeltür führte hinaus auf eine Terrasse, von der man direkt aufs Meer blickte. Auf der Terrasse standen ein Konzertflügel und eine übergroße Harfe.

Der andere ging gleich auf den Flügel zu und öffnete den Deckel über den Tasten.

„Endlich wieder daheim,“ sagte er.

Er begann kraftvoll zu spielen. Wind erhob sich und die Wellen des Meeres begannen zu wogen und zu schäumen. Vom Wind bewegt, begann die Harfe zu klingen.

„Wo ist Miriam?“ fragte Daniel.

Der andere hörte auf zu spielen.

„Komm,“ sagte er und stand auf.

Sie gingen in einen Seitentrakt der Villa, der direkt in den Fels getrieben war. Ein Gang führte an mehreren Türen entlang. Vor einer der Türen blieb Daniels Widerpart stehen.

„Hier ist sie,“ sagte er.

Daniel öffnete die Tür und trat in den Raum. Miriam lag auf einem Katafalk. Sie schien zu schlafen. Hinter ihr war ein von schraubenartig gewundenen Säulen eingefaßtes Fenster, aus dem man auf den düsteren Zypressenhain hinaus sah.

„Kann man sie aufwecken?“ fragte Daniel.

„Ja,“ sagte der andere. „Du brauchst sie nur zu berühren. Aber warte noch einen Augenblick. Ich will dir erst etwas sagen.“

Er blickte Daniel forschend an.

„Ich schlage dir vor, hier zu bleiben,“ sagte er dann. „Überlege es dir, es ist nicht wenig, was ich dir biete.“

„Das ist eine Toteninsel,“ sagte Daniel. „Warum sollte ich hier bleiben?“

„Du wirst nicht altern und nicht sterben,“ sagte der andere. „Wir sind hier nicht den Gesetzen der Zeit unterworfen, wie sie bei euch herrschen.“

„Ich werde mit Miriam zurückkehren,“ sagte Daniel. „Hier will ich nicht sein.“

„Wie du willst,“ erwiderte der andere. „Aber sage nicht, ich hätte dich nicht gewarnt. Du wählst Tod und Vergänglichkeit. Ich gehe jetzt. Warte noch einen Moment, ehe du sie aufweckst. Sie soll uns nicht beide zusammen sehen.“

Er verließ das Zimmer. Bald hörte Daniel wieder Musik. Der Wind rauschte in den Zweigen der Zypressen.

Daniel trat an das Lager und berührte vorsichtig Miriams gefaltete Hände. Sie schlug die Augen auf, blickte Daniel an und lächelte.

„Daniel,“ sagte sie. „Wo bin ich hier? Ist das ein Krankenhaus?“

„Ja,“ erwiderte Daniel. „Das ist eine Art Krankenhaus. Du hast sehr lange geschlafen und jetzt bist du wieder gesund.“

„Was machst du hier?“

„Ich bin gekommen um dich nach Hause zu bringen. Wir müssen jetzt gehen.“

Daniel und Miriam verließen das Zimmer und eilten zu der Marmortreppe, die in den Zypressenhain hinab führte. Sie gingen zu der Anlegestelle, an der das Boot lag und stiegen ein. Daniel ruderte hinaus. Bald waren sie auf dem Ozean und die Insel entschwand ihren Blicken. Als sie sich der Küste näherten, kamen ihnen zahlreiche Boote entgegen. Daniel bemühte sich, nicht zu ihnen hin zu blicken.

Als sie die Treppe am Flußwehr empor stiegen, ging gerade die Sonne auf. Sie blickten zur Stadt hinüber. Es war ihre Stadt, aber sie hatte sich verändert. Überall waren neue Häuser. Die Autos sahen so merkwürdig aus. Daniel blickte Miriam an. War das Miriam? Neben ihm stand eine ältere Frau. Sie hatte graue Haare. Sie blickte ihn an und schien ebenfalls erschrocken zu sein.

„Daniel,“ sagte sie. „Bist du das? Was ist mit uns geschehen?“

Er sah in ihre Augen. Es war Miriam. Es war ihr Gesicht, das nun feine Falten um die Augen und die Mundwinkel hatte. Sie wirkte immer noch knabenhaft. Er spürte, daß er sie liebte, daß er nie aufgehört hatte, sie zu lieben. Er ergriff ihre Hand.

„Komm,“ sagte er. „Laß uns gehen.“
 

Magic Magor

Mitglied
Bewegend

das ist das einzige was ich dazu sagen kann, obwohl mich der Daniel am Anfang ein wenig an mich selbst erinnert.

Geniale Geschichte.
 

Bone

Mitglied
Bravo!!!

Schön fand ich die Geschichte ja auch aber den Schluss muss ich nicht verstehen, oder? Kann mir den mal einer erklären!

Meine Therorie ist ja sowieso das alles nur eine
Drogenhalluzination war. Wer weiß was die Yolanda Blavatski
in die Plätzchen und in den Tee gemischt hat :)

Scherz beiseite! Die Geschichte war wirklich sehr schön! Ich versteh nur den Schluss nicht!

- wieso hat der andere Daniel Miriam und Daniel zu sich geholt?

und

- wieso waren die beiden bei ihrer Rückker alt?

Bone
 
Vielen Dank für Eure Antworten auf meine Geschichte.

Zu den Fragen, die den Schluß betreffen:
Eine mögliche Interpretation wäre: Der Andere lebt im Reich der Kunst. Er ist dort genial, aber einsam. Deshalb holt er sein menschliches Selbst - Daniel - und die irdische Liebe - Miriam - zu sich. Er bietet Teilhabe an seiner Unsterblichkeit - in der Kunst. Daniel wählt das irdische Leben außerhalb der Kunst, was einerseits das Glück der Liebe, andererseits Alter, Tod, Vergessen mit sich bringt.

Eine andere Ebene wäre mythisch: Der Andere bewohnt eine Toteninsel, die genauso aussieht,wie die, die Böcklin gemalt hat. Es ist eine Art Vorhölle, wahrscheinlich hat Luzifer sie ihm zu günstigen Konditionen überlassen. Dort ist er Herr über die Seelen von Toten. Die holt er sich aus der irdischen Welt. Daniel ist sein Gegenstück. Er besitzt die Eigenschaften, die er selber nicht hat. Daniel ist zum Beispiel der Psychopomp, der Seelenführer (O.K., ein Teil dieser Eigenschaften ist bei ihrer Begegnung im Krankenhaus abgefärbt, aber eben nur ein Teil). Er könnte viele Seelen auf die Toteninsel bringen. Mit ihm zusammen wäre er vollkommen. Daniel lehnt ab, weil er die Hype, die gottferne Überhebung Daniels spürt.

Daß Daniel und Miriam zum Schluß alt sind (weil in der irdischen Sphäre die Zeit viel schneller vergangen ist, als im Totenreich), zeigt den Preis für das irdische Leben, aber es zeigt auch, daß die Liebe überdauert und siegt. Das ist der eigentliche Mythos, dagegen kommt nichts an.

Nochmals Danke,

Stefan
 

Tadeya

Mitglied
Du hast viele Elemente Deines Textes der christlichen Religion entlehnt. So weit ich weiß, ist der Behemoth jedoch kein Höllenwesen, sondern ein großes, starkes Tier, das laut Bibel einmal auf der Erde lebte.
Oder bin ich da falsch informiert?

Es würde mich interessieren, wie Du auf die Verwendung des Behemoth in Deiner Geschichte gekommen bist und ob Der Einsatz als "dämonisches Monster" Deiner Fantasie oder anderen Quellen entspringt.
 

Criss Jordan

Mitglied
ähem

Krieg ich jetzt ein paar drübergezogen, wenn ich sage, dass mir die Story nicht gefällt? Sie ist recht nett geschrieben, so rein stilmässig gesehen, nur das Thema... oi oi das Thema ist doch erstens sehr ausgeleiert (kleiner Junge rettet die Welt) und zweitens zu überzogen mystisch... nein mystisch ist nicht das rechte Wort.
Hm, wie sag ich es am besten? Ich finde, in einer Zeit, in der der Mensch das All erobert und den Mikrokosmos entdeckt, einer Zeit, da Gene entschlüsselt werden und die Autos mit Wasser fahren (könnten) Ist es da nicht heftig hinterwäldlerisch, Geschichten von Erzengeln, Gott und Luzifer zu erzählen? Sollten die Zeiten nicht vorbei sein, in denen man sein Heil und das der Welt irgendwelchen Auserwählten Gottbegnadeten anvertraut? Sollte man nicht wirklich langsam beginnen, sich selber zu trauen...und auch sich selber in die Verantwortung zu setzen? Nun gut, es ist einfach, zu sagen... ich tu mal nix, Gott wird mir schon sagen, Wann ich Was zu tun hab... Aber ich bin mir hundert prozentig sicher, dass wir damit nicht sehr weit kommen werden. Mich erschüttert es immer wieder, dass solche Geschichten als bewegend gelobt werden... und noch mehr, dass sich jemand tatsächlich hinsetzt und solche Geschichten SCHREIBT... Entschuldige, das klingt vielleicht recht hart, aber diese Art Geschichten sind von der Zeit dermassen überholt, dass ich mich allen Ernstes frage, welchem Jahrhudert du entstammst. Ich glaube fast demselben wie jene, die einen Krieg anzetteln für ihren GOTT... zurückgeblieben in einer geistigen Welt des Aberglaubens.
Tut mir leid, aber nach den Geschehnissen dieses Herbstes kann ich religiösen Geschichten noch viel weniger abgewinnen als vor diesem 11. September... Ich kriege ne Gänsehaut, wenn ich so etwas lese... eine Gänsehaut aus ANGST

Criss Jordan :(
 

Bone

Mitglied
autsch...

...bist du schlecht, Jordan!

wenn das wirklich deine meinungen sind, dann solltest du keine fantasy-geschichten mehr lesen. ist auch gesund für dich, so können weitere religiöse Ausraster vermieden werden.
 

Magic Magor

Mitglied
Da stimme ich Bone zu.

Mit einer solchen Einstellung ist Fantasy absolut nichts für dich. Und diese Geschichten sind nicht überholt. Gerade weil die Welt um uns herum so hart und grausam ist (11. September) flüchtet der Mensch gerne mal in eine Fantasy-welt um sich zu entspannen. Denn sonst würde er die Realität nicht aushalten. Ist jedenfalls meine Meinung.
 

Criss Jordan

Mitglied
Hey

Hey hey hey, Kinders, ihr redet da über zwei paar Schuhe... Fantasy mit diesem (obigen) Krempel gleichzusetzen, ist ja wohl etwas falsch an die Sache rangegangen... Fantasy sind erfundene Welten... Diese Geschichte da oben... ist eindeutig eine religiöse Geschichte... es gibt Menschen die glauben an sowas... Wer glaubt schon an Xena oder Conan... An GOTT glauben viele... oder, was wohl richtiger ist, sie tun so als ob, weils wohl gerade mal wieder opportun ist. Das ist es was mich ängstigt, dass es tatsächlich Menschen gibt, die diesen Blödfug für wahr..oder wahrscheinlich halten. Und wenn man diesen Menschen solche Geschichten vorsetzt, schaun die sich nach IHREM Engel um... Würdet ihr euch umsehen, ob nicht Conan neben euch im Zug sitzt? DAS ist der Unterschied...
Ich bin mir durchaus bewusst, dass die Medien dieses Engelthema und ähnliche momentan wieder aus der Versenkung holen und hochpushen.. Aber gerade im Angedenken an den 11. September sollten wir uns fragen welche Geschichten über Gott haben diese Attentäter gehört.. Diese Leute wussten, sie kommen ins Paradies... oder wie auch immer es in diesem Kulturkreis da heissen mag...
Ihre Seelen sind bei ihrem Gott... vielleicht hat jener Daniel sie hinübergetragen, was meint ihr? Wenn ich anfangen soll, zu glauben, dass diese Menschen für das, was sie taten noch mit ihrem Paradies belohnt wurde... Dann gibt es nichts mehr was richtig ist... Alles ist erlaubt, ich such mir zu jedem Thema nur die richtige Religion aus.
Wisst ihr, was mir ein ´"Freund" gesagt hat, auf die Information hin, dass im WTC auch ein Kindergarten gewesen ist?
Er sagte: Gott weiss alles, er hat die Kinder von der Erde genommen, weil er wusste, was aus ihnen wird...
Das ist an Zynismus kaum noch zu überbieten und bestärkt mich in meiner Meinung...
Ich weiss dass ich damit gegen den Strom schwimme, jenen Strom, der die Menschheit an den Abgrund treibt... Aber irgendwer hier in der LL hat da so einen tollen Spruch drauf: Wer zur Quelle will, muss gegen den Strom schwimmen. Nun, ich will nicht zur Quelle... aber ich will ebensowenig mit in den Abgrund gezerrt werden.

Criss Jordan
 
Danke.

Hallo, vielen Dank für Euer Interesse.
Was den Behemoth betrifft: Es ist der "intensive Plural" des hebräischen Wortes "Bestie" und bezeichnete wohl ursprünglich den Elefanten, als noch niemand Elefanten gesehen hatte, bzw. eine Mischung von Elefant und Rhinozeros. Es wird 19 mal in der Bibel erwähnt. Man kann darüber nachlesen bei Jorge Luis Borges: Der Squonk. Buch der imaginären Wesen.
In meiner Geschichte ist er einfach ein Typ, der zuerst erschreckend und häßlich und am Ende nur anmaßend und lächerlich ist. Und der Name Behemoth gefiel mir irgendwie.
Was die "christliche Symbolik" betrifft, so halte ich ihre Verwendung für legitim. Man benutzt ja nun einmal die Bilder, Mythen und Symbole, die man vorfindet. Das tat auch schon Altmeister Goethe im "Faust" (das ist nur ein Beispiel, ich will mich um Gottes Willen nicht mit Goethe vergleichen!), ohne daß ihn deswegen jemand des religiösen Obskurantismus bezichtigen würde. Übrigens sind Engel, Teufel und Dämonen sowie die Vorstellung eines Totenreichs keine genuin christlichen Mythen. Ich glaube, daß wir im Strom eines kollektiven Unbewußten schwimmen, und daraus schöpfen, egal, wie wir diese Schöpfungen nun nennen und einkleiden. Ich denke, keine Mythologie ist an sich böse, sondern eine Versuch, mit bestimmten schwierigen Dingen fertig zu werden.
Dazu ein Zitat von Stephen King:
"Wir fallen aus der Gebärmutter ins Grab, von einer Schwärze in die nächste, erinnern uns kaum an die eine und wissen nichts von der anderen - es sei denn durch den Glauben. Daß wir angesichts dieser schlichten und dennoch verstörenden Tatsachen unsere geistige Gesundheit behalten, ist beinahe göttlich. Daß wir die mächtige Intuition unserer Phantasie auf sie richten und sie durch diesen Spiegel der Träume betrachten können - daß wir, wie zaghaft auch immer, unsere Hände in die Öffnung legen können, die sich im Zentrum der Säule der Wahrheit auftut - das ist ... nun, das ist Magie, nicht?"
Aus: Stephen King: Danse Macabre
 

Magic Magor

Mitglied
Fantasy oder Religion?

Nun wie der Autor schon bemerkte ist es durchaus legitim religiöse Dinge zu benutzen. Für mich ist diese Geschichte ebenso Fantasy wie Conan oder Xena. Es geht hier um geschichten die so in der Realität nie stattfinden könnten und denen eine gehörige Portion Phantasie innewohnt daher auch der Begriff Fantasy.
Sicher manche Leute könnten diese Geschichte als wahr betrachten aber ehrlich gesagt ist, daß nicht das Problem des Autors. Als Autor kann man es nicht jedem Recht machen. Und wenn ich sowas für wahr halte ist das mein Problem.

Der Spruch deines Bekannten ist denke ich kein Zynismus. Manche Menschen brauchen die Vorstellung eines Gottes um mit der Realität fertig zu werden. Wenn er den Gedanken nicht erträgt, daß diese Kinder einfach so gestorben sind, dann hilft ihm diese Vorstellung des Gottes und das die Kinder nun in guten Händen sind. So etwas ist nur menschlich und sollte demnach nicht verurteilt werden.
 

Criss Jordan

Mitglied
Magic?

Mein Bekannter meinte es nicht so, wie du es jetzt deutest. Er meinte, diese Kinder wären eh zu Verbrechern geworden, also gleich weg damit.

C.J.
 

Bone

Mitglied
@jorden

deine argumente sind sehr interessant, doch ich finde, das Fantasy und scifi doch eher unterhaltunsstoff ist und keine religiöse diskussion auslösen sollte.

indiana jones hat die bundeslade und den heiligen gral ausgebudelt; arnie kämpfte in seven days gegen den teufel und christoper walken ruft zum krieg gegen den himmel aus.

DAS sind doch alles nur Geschichten zur Unterhaltung, die den christlichen Glauben dafür ausschlachten, so wie viele andere dinge auch!!!
Trotzdem heißt es nicht, das wir solche sachen glauben, das ist jedem selbst überlassen!


und von wegen 11 sept. du hast recht, dass diese leute von religiösen Gerede angetrieben werden ABER wenn es nicht das religiöse gerede wäre dann wäre es ein anderes gerede.

ob hitler den leuten erzählt juden sind nichts wert und an allem schuld oder binladen allen erzält die westliche welt ist gottlos und an allem schuld: das PROBLEM ist einfach, dass die mesnchen so blöde sind und sowas schlucken!!!

gruß
bone
 

Criss Jordan

Mitglied
Hi Bone

Hast recht, es lohnt nicht, weltanschauliche Dinge hier in der Lupe zu klären, ich denke, wenn Stefan seine Geschichte religiös gemeint hätte, stünde sie nicht in dieser Rubrik.
Ich war nur sowieso auf hundert an dem Tag, als ich das las, eben wegen jenes "Freundes" den ich nun nicht mehr Freund nenne. Also, @ Stefan, tut mir leid, dass du es abgekriegt hast.
Es gibt da ein Sprichwort:
Die Menschen sind intelligent, nur die Leute sind blöd... Es hilft halt nicht, nur Grips zu haben, wenn der vollgebanstert ist mit irgendwelchem ideologischen Müll, welcher Art auch immer. Naja, wie gesagt, das hier ist woll die falsche Plattform, danke, dass ihr mir verzeiht (ich hoffe, dass ihr das tut).

Criss Jordan
 



 
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