DER
APFELDIEB
Lilo war zum Kampf bereit. Dieses Jahr würde sie den Halunken erwischen, der sich jeden Spätherbst an ihrem Apfelbaum gütlich tat. Nur weil sie im November 75 wurde, bedeutete das nicht, dass sie wehrlos war! Die rüstige Seniorin schnaubte und wiegte den Besen in ihrer Hand, welchen Torben ihr letzten Dienstag aus dem Baumarkt mitgebracht hatte. "Der Stiel muß richtig schön massiv sein, das ist die Hauptsache", so lautete die Kaufanweisung für ihren 18jährigen Enkel. Torben hatte schief gegrinst, ihr jedoch wie gewünscht ein Prachtexemplar besorgt, welches Lilo sofort nach Erhalt am Kartoffelsack ausprobierte. Torben war ob der unvermuteten Gewaltbereitschaft seiner Großmutter bleich geworden. "Soll ich dir nicht lieber einen Bewegungsmelder im Garten installieren? Das verschreckt den Apfeldieb, dann kommt er vielleicht gar nicht erst auf den Hof. Du kannst doch nicht mit dem Besen auf ihn losgehen, Oma!" "Ach Junge, ich habe im Krieg doch noch ganz andere Dinge getan." Nicht einmal Lilos Kirschtorte konnte Torbens Entsetzen besänftigen.
Krieg. Das war auch jetzt das richtige Wort. Lilo befand sich im Krieg. Seit vier Jahren schon. Seit jenem Morgen Anfang Oktober, als sie ihren alten Apfelbaum geplündert vorfand. Den Baum, den ihr Vater 1927 anläßlich ihrer Geburt gepflanzt hatte! Der Dieb hatte sämtliche Wilhelmsäpfel entwendet, keine einzige der köstlichen, süßsäuerlich schmeckenden Früchte zurückgelassen. Der Fehdehandschuh war geworfen.
Über den Garten webte sich das erlöschende Licht der Abenddämmerung. Gleich eroberte sich die Dunkelheit das Terrain. Dann wurde es ernst. Lilo war wohl präpariert. Gegen drohende Müdigkeit hatte sie am Nachmittag eine extra stark aufgebrühte Kanne Kaffee getrunken, und um den Täter in die Irre zu führen, lief im zur Straße gelegenen, hell erleuchteten Wohnzimmer der Fernseher - durch die dichten Gardinen war von draußen ein gemütlicher Fernsehabend zu vermuten. Hier im zum Garten gewandten Hauswirtschaftsraum würde das Licht ausbleiben. Die Rentnerin rutschte auf dem Hocker ein wenig nach vorne und stützte sich mit den Ellbogen auf das Kissen, welches sie der Bequemlichkeit halber auf die Fensterbank gelegt hatte. Durch den Spalt des auf Kipp gestellten Fensters wehte eine zarte Brise herbstlichen Dufts. Draußen war es ruhig. Auch um die Nachbarhäuser hatte sich Stille gelegt. Nur ab und an rauschte auf der Hauptstraße ein Auto längs und tauchte Lilos Garten für Sekunden in den Strahl eines flüchtigen Lichtkegels.
Drei Stunden später, ihr Kreuz schmerzte und fast wären ihr trotz des Koffeingehalts im Blut die Augen zugefallen, hörte Lilo ein Geräusch. Sie hielt den Atem an. Tatsächlich! Im Garten schmatzte jemand! Sacht erhob Lilo sich vom Hocker, griff nach dem bereitgestellten Besen neben der Fensterbank, fühlte nach der kleinen Lampe in der linken Tasche ihrer Kittelschürze und schlich samt Besen aus dem Hauswirtschaftsraum über den Flur zur Hintertür. Leise drückte sie die Klinke hinunter, öffnete die schwere Holztür einen Spalt breit und horchte hinaus. Das Schmatzen hielt an. Es kam vom Apfelbaum. Nachdem letzte Woche fast alle Bäume alter Apfelsorten in der Umgebung leer geräumt worden waren, hatte sich der Räuber diese Nacht Lilos Baum ausgesucht. Eigentlich liebte Lilo die Abgeschiedenheit des Landlebens, doch jetzt, in diesem Moment, wäre es ihr lieber gewesen, keine 100 Meter vom nächsten Hof entfernt zu wohnen.
Lilo kämpfte den Anflug von Angst nieder und umkrallte den Besenstiel. Der sollte was erleben! Sie zu beklauen! Gebückt tastete sich die fast 75jährige an Hügelbeeten und Brombeersträuchern vorbei. Vor dem Baum suchte sie das Dunkel nach einer Gestalt ab. Nichts - außer Schmatzen. Lilo hob mit der rechten Hand den Besen, bereit, auf den Eindringling einzuschlagen, kramte mit links nach der Taschenlampe, richtete diese auf den Baumstamm und knipste das Licht an. Nichts. Das Schmatzen hielt an. Lilo ging um den Baum herum, den Lichtstrahl auf den Boden gerichtet. Das Schmatzen verstummte. Da! Im Schein der Taschenlampe funkelten ihr zwei dunkle Augen entgegen. Lilo stampfte mit dem Fuß auf. "Verdammt!" Der Igel verschwand unter den Brombeerbüschen.
Das Klingeln des Telefons rief Lilo ins Haus zurück. Im Flur angekommen, nahm sie, ein wenig außer Atem, den Hörer ab. Es war Erna vom anderen Ende der Hauptstraße. "Wir haben den Dieb gestellt, als er unsere Cox Orangenetten pflückte. Und ich wundere mich noch, dass Asta nicht anschlägt, obwohl da jemand im Garten umher huscht..." Lilo strahlte in die Muschel. "Endlich! Habt ihr schon die Polizei gerufen? Wer ist denn der Lump?" Ein Seufzen drang aus der Leitung. "Ach je, es ist schon ein starkes Stück! Dein Torben hat die Äpfel geklaut. Er sagt, seine Lehrer zahlen richtig gut für solch besondere Pausensnacks."
APFELDIEB
Lilo war zum Kampf bereit. Dieses Jahr würde sie den Halunken erwischen, der sich jeden Spätherbst an ihrem Apfelbaum gütlich tat. Nur weil sie im November 75 wurde, bedeutete das nicht, dass sie wehrlos war! Die rüstige Seniorin schnaubte und wiegte den Besen in ihrer Hand, welchen Torben ihr letzten Dienstag aus dem Baumarkt mitgebracht hatte. "Der Stiel muß richtig schön massiv sein, das ist die Hauptsache", so lautete die Kaufanweisung für ihren 18jährigen Enkel. Torben hatte schief gegrinst, ihr jedoch wie gewünscht ein Prachtexemplar besorgt, welches Lilo sofort nach Erhalt am Kartoffelsack ausprobierte. Torben war ob der unvermuteten Gewaltbereitschaft seiner Großmutter bleich geworden. "Soll ich dir nicht lieber einen Bewegungsmelder im Garten installieren? Das verschreckt den Apfeldieb, dann kommt er vielleicht gar nicht erst auf den Hof. Du kannst doch nicht mit dem Besen auf ihn losgehen, Oma!" "Ach Junge, ich habe im Krieg doch noch ganz andere Dinge getan." Nicht einmal Lilos Kirschtorte konnte Torbens Entsetzen besänftigen.
Krieg. Das war auch jetzt das richtige Wort. Lilo befand sich im Krieg. Seit vier Jahren schon. Seit jenem Morgen Anfang Oktober, als sie ihren alten Apfelbaum geplündert vorfand. Den Baum, den ihr Vater 1927 anläßlich ihrer Geburt gepflanzt hatte! Der Dieb hatte sämtliche Wilhelmsäpfel entwendet, keine einzige der köstlichen, süßsäuerlich schmeckenden Früchte zurückgelassen. Der Fehdehandschuh war geworfen.
Über den Garten webte sich das erlöschende Licht der Abenddämmerung. Gleich eroberte sich die Dunkelheit das Terrain. Dann wurde es ernst. Lilo war wohl präpariert. Gegen drohende Müdigkeit hatte sie am Nachmittag eine extra stark aufgebrühte Kanne Kaffee getrunken, und um den Täter in die Irre zu führen, lief im zur Straße gelegenen, hell erleuchteten Wohnzimmer der Fernseher - durch die dichten Gardinen war von draußen ein gemütlicher Fernsehabend zu vermuten. Hier im zum Garten gewandten Hauswirtschaftsraum würde das Licht ausbleiben. Die Rentnerin rutschte auf dem Hocker ein wenig nach vorne und stützte sich mit den Ellbogen auf das Kissen, welches sie der Bequemlichkeit halber auf die Fensterbank gelegt hatte. Durch den Spalt des auf Kipp gestellten Fensters wehte eine zarte Brise herbstlichen Dufts. Draußen war es ruhig. Auch um die Nachbarhäuser hatte sich Stille gelegt. Nur ab und an rauschte auf der Hauptstraße ein Auto längs und tauchte Lilos Garten für Sekunden in den Strahl eines flüchtigen Lichtkegels.
Drei Stunden später, ihr Kreuz schmerzte und fast wären ihr trotz des Koffeingehalts im Blut die Augen zugefallen, hörte Lilo ein Geräusch. Sie hielt den Atem an. Tatsächlich! Im Garten schmatzte jemand! Sacht erhob Lilo sich vom Hocker, griff nach dem bereitgestellten Besen neben der Fensterbank, fühlte nach der kleinen Lampe in der linken Tasche ihrer Kittelschürze und schlich samt Besen aus dem Hauswirtschaftsraum über den Flur zur Hintertür. Leise drückte sie die Klinke hinunter, öffnete die schwere Holztür einen Spalt breit und horchte hinaus. Das Schmatzen hielt an. Es kam vom Apfelbaum. Nachdem letzte Woche fast alle Bäume alter Apfelsorten in der Umgebung leer geräumt worden waren, hatte sich der Räuber diese Nacht Lilos Baum ausgesucht. Eigentlich liebte Lilo die Abgeschiedenheit des Landlebens, doch jetzt, in diesem Moment, wäre es ihr lieber gewesen, keine 100 Meter vom nächsten Hof entfernt zu wohnen.
Lilo kämpfte den Anflug von Angst nieder und umkrallte den Besenstiel. Der sollte was erleben! Sie zu beklauen! Gebückt tastete sich die fast 75jährige an Hügelbeeten und Brombeersträuchern vorbei. Vor dem Baum suchte sie das Dunkel nach einer Gestalt ab. Nichts - außer Schmatzen. Lilo hob mit der rechten Hand den Besen, bereit, auf den Eindringling einzuschlagen, kramte mit links nach der Taschenlampe, richtete diese auf den Baumstamm und knipste das Licht an. Nichts. Das Schmatzen hielt an. Lilo ging um den Baum herum, den Lichtstrahl auf den Boden gerichtet. Das Schmatzen verstummte. Da! Im Schein der Taschenlampe funkelten ihr zwei dunkle Augen entgegen. Lilo stampfte mit dem Fuß auf. "Verdammt!" Der Igel verschwand unter den Brombeerbüschen.
Das Klingeln des Telefons rief Lilo ins Haus zurück. Im Flur angekommen, nahm sie, ein wenig außer Atem, den Hörer ab. Es war Erna vom anderen Ende der Hauptstraße. "Wir haben den Dieb gestellt, als er unsere Cox Orangenetten pflückte. Und ich wundere mich noch, dass Asta nicht anschlägt, obwohl da jemand im Garten umher huscht..." Lilo strahlte in die Muschel. "Endlich! Habt ihr schon die Polizei gerufen? Wer ist denn der Lump?" Ein Seufzen drang aus der Leitung. "Ach je, es ist schon ein starkes Stück! Dein Torben hat die Äpfel geklaut. Er sagt, seine Lehrer zahlen richtig gut für solch besondere Pausensnacks."