Der Engel von Monteverde (Friedhof Staglieno bei Genua)

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Herr H.

Mitglied
Er heißt dich nicht willkommen, dieser Bote,
und seine Augen sehen dich nicht an.
Du bist so fremd für ihn wie jeder Tote
und stehst nichtsdestotrotz in seinem Bann.

Die Arme hält er vor der Brust verschränkt,
als wollte er den Leib vor Nähe schützen.
Du wüsstest nur zu gerne, was er denkt.
Doch würde das vermutlich auch nichts nützen.

Vergebens suchst du bei ihm Schutz und Hort.
Er hat für dich kein Mitleid und kein Wort.
Und wenn du zu ihm rufst - er hört dich nicht.

An ihm zerschellen sämtliche Gebete.
In seiner Linken hält er die Trompete.
Und bald wird er sie blasen - zum Gericht.
 

James Blond

Mitglied
Ein schönes Sonett zu einem Meisterwerk. Dieser Engel mit seinen anmutigen, fast noch kindlichen Gesichszügen erscheint bereits als eine Ankündigung des kommenden Jugenstils, dessen Schönheiten oft mit distanzierter Anmut erstrahlen.

Du hast den Ausdruck dieser Statue in treffenden Worten beschrieben: Hier wird kein Helfer in der (Sterbens-)Not, sondern ein gerechter, unbestechlicher Diener des Jüngsten Gerichts dargestellt. Gerchtigkeit bedeutet ja: ohne Ansehen und Anteilnahme (an) der Person, hier zählen allein Taten und ihre Beweggründe.

Bei aller Freude an dem Sonett kann ich mich einer gewissen Kritik nicht enthalten. Seltsamerweise scheinen stets die letzten Verse jeder Strophe aus dem Rahmen zu fallen:

und stehst nichtsdestotrotz in seinem Bann

Hier stört mich das 4-silbrige schwerfällige Trotzmonster, das man eigentlich nur in knallharten Widerspruchsfällen anbringen sollte, zumal es hier mit dem Metrum nicht gerade harmoniert: nichts-des-to-trotz. Aber schwerer wiegt noch das Fehlen eines echten Widerspruches: Dass ich ihm egal bin, heißt ja nicht, dass er es mir auch wäre. Hier eine andere Idee:
doch dich hält schon die Furcht in seinem Bann


In Q2 kommt es am Ende zu einem unabsichtlichen(?) Sprung ins Humorvolle:
Doch würde das vermutlich auch nichts nützen.

Warum wirkt das witzig? Im Angesicht des Todes versucht das Lyridu mit faulen Tricks durchzukommen. "Das würde vermutlich auch nichts nützen" kennzeichnet die Banalität einer alltäglichen Zwickmühle, z.B. in der Polizeikontrolle.
Vorschlag:
"auch wenn du ahnst, es würde dir nichts nützen."

In T1
Und wenn du zu ihm rufst - er hört dich nicht.
stören mich das "und", es wird in T3 sinnvoller eingesetzt, und die Formulierung "zu ihm rufen", die ein verdrehtes "ihm zurufen" ist, nur damit der Jambus erhalten bleibt. Was ich geschrieben hätte:
er hört es nicht, wenn zu ihm jemand spricht.


In T3 ensteht ein Problem durch die Trompete, die ja eigentlich ein Horn oder eine Posaune ist. Das lässt die Ankündigung

Und bald wird er sie blasen - zum Gericht.

im Lichte eines Künstlerauftritts erscheinen. Gemeint ist aber die Hochdramatk des Jüngsten Gerichts.
Mein Vorschlag:
Schon bald wirst Du sie hören - zum Gericht.

Diese letzte Änderung hätte noch einen anderen Vorteil: Die Verse, die "Ihm" und dem "Du" gewidmet sind, ergäben dann ein Muster:

Er - Er - Du - Du
Er - Er - Du - Du

Er - Er - Du - Du
Er - Er - Du - Du

Du - Er - Er
Er - Er - Du

Auch müsste es in Q2Z2 wohl im Präsens "wolle" heißen:
als woll[strike][red]t[/red][/strike]e er den Leib vor Nähe schützen.

Bei aller Kritik: Dein Sonett hat mir gut gefallen und meine Vorschläge sollen nur die Kritik verdeutlichen.
 

Herr H.

Mitglied
Er heißt dich nicht willkommen, dieser Bote,
und seine Augen sehen dich nicht an.
Du bist ihm fremd, so wie ein jeder Tote,
und stehst wie alle doch in seinem Bann.

Die Arme hält er vor der Brust verschränkt,
um Nähe und Berührung zu verhindern.
Du wüsstest nur zu gerne, was er denkt.
Doch würde dies die Angst nicht wirklich lindern.

Vergebens suchst du bei ihm Schutz und Hort.
Er hat für dich kein Mitleid und kein Wort
und stellt sich taub, wenn jemand zu ihm spricht.

An ihm zerschellen sämtliche Gebete.
In seiner Linken hält er die Trompete.
Und bald schon wird er blasen - zum Gericht.
 

Herr H.

Mitglied
Hallo James Blond,
herzlichen Dank für dein ausführliches Echo und die sehr hilfreiche, konstruktive Kritik. Ich habe das Sonett aufgrund der Anregungen überarbeitet und einige deiner Impulse aufgenommen.
LG von
Herrn H.
 

hermannknehr

Mitglied
Lieber Arnd,
ein wunderschönes Sonett, ich werde das Gedicht in meine Sammlung aufnehmen. Ich hatte mich schon vor langer Zeit mit der Statue von Monteverde beschäftigt, und dabei noch mehr das rätselhafte, androgyn-erotische der Gestalt herausgestellt. Aber deine Version ist genauso spannend.
Vielen Dank für das Gedicht.

LG
Hermann
 

Herr H.

Mitglied
Lieber Hermann,
besten Dank! Deine tiefgründige Version über den "Engel" aus deinem neuesten Buch war es übrigens, die mich dazu animiert hat, eine eigene Interpretation zu wagen.

Liebe Grüße
Arnd
 

Herr H.

Mitglied
Er heißt dich nicht willkommen, dieser Bote,
und seine Augen sehen dich nicht an.
Du bist ihm fremd, wie jeder andre Tote,
und stehst wie alle doch in seinem Bann.

Die Arme hält er vor der Brust verschränkt,
um Nähe und Berührung zu verhindern.
Du wüsstest nur zu gerne, was er denkt.
Doch würde dies die Angst nicht wirklich lindern.

Vergebens suchst du bei ihm Schutz und Hort.
Er hat für dich kein Mitleid und kein Wort
und stellt sich taub, wenn jemand zu ihm spricht.

An ihm zerschellen sämtliche Gebete.
In seiner Linken hält er die Trompete.
Und bald schon wird er blasen - zum Gericht.
 



 
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