Aber ist das nicht ganz schön ungemütlich, so nah am Abgrund?
Diese Frage hört sie öfters. Fast jeder, der auf seiner Reise in ihrer Hütte am Rand der Schlucht eine Rast einlegt, stellt sie irgendwann. Spätestens, wenn sie zum Brunnen muss, um neues Wasser zu holen. Der Brunnen befindet sich auf der anderen Seite der Schlucht, erreichbar nur über eine windschiefe Konstruktion aus Seilen und Brettern, eigenhändig errichtet von einem Ur-Ur-Ur-Großvater, wie sie nie versäumt anzumerken. Die Bezeichnung „Seilbrücke“ wäre zu hoch gegriffen. Aber das behalten die Besucher lieber für sich.
Was sie sich nicht verkneifen können, die Gäste, ist aber die Frage nach der Lebensqualität. Immerhin: diese Tiefe, ein Sturz, der sichere Tod und das alles immerzu lauernd, in nächster Nähe – ob ihr nicht graut? Sie kramt dann ihre ganze Geduld hervor – ein bisschen hat sie ja auch Mitleid, den Gästen selber graut nämlich sichtlich - und erklärt: Nein, wirklich nicht, warum auch? Abgründe existieren, mit diesem Wissen kann jeder leben. Hier existiert eben einer zufällig neben ihr. Gefährlich soll das sein? Aber im Gegenteil! Ein Abgrund vor der Haustür lehrt, die Schritte achtsam zu setzen. Viel bedrohlicher haben es die in den Ebenen, in den lieblichen Hügeln: nie etwas anderes unter den Füßen als sanfte Grasteppiche und gepflasterte Wege – wer schaut da noch, wohin er tritt?
Meistens sehen die Gäste das ein und sprechen dann von etwas anderem. Dieser hier bohrt weiter. „Hinunterschauen darf man aber nicht, oder?“
Sie lächelt. Das gute, alte Zeichentrickklischee: Großes Tier jagt kleines Tier, merkt im Eifer nicht, dass es keinen Boden mehr unter den Füßen hat und fällt erst, als es sich dessen bewusst wird. Natürlich - beim Gang über die Brücke heftest du den Blick am besten auf den Brunnen. Aber ein gelegentlicher Blick in den Abgrund, das ist schon wichtig. Warum? Weil du wissen musst, dass es tief ist, tödlich. Und zwar wirklich wissen, im Bauch, nicht bloß im Hirn. Den Bauch überzeugst du am leichtesten mit deinen eigenen Augen, den musst du auch immer wieder erinnern, er gewöhnt sich sonst und vergisst.
„Also doch ein bisschen Grauen?“
Wissen, dass es tief ist. Die Schritte achtsam setzen – das ist die ganze Zauberei, dazu braucht es kein Grauen. Aber das Wissen um die Tiefe! Das motiviert.
Er lehnt sich weiter vor. So ist das also. Wie interessant. Sie findet Gefallen am Thema.
Die Abgründe, führt sie weiter aus, vertragen keine Ignoranz. Sie rächen sich, wenn sie nicht beachtet werden. Sie tun sich dann plötzlich hinter Böschungen auf, werden heimtückisch. Achtsamkeit! Das ist das Um und Auf mit Abgründen.
Es ist spät geworden. Sie bleiben noch bei Tisch sitzen, schwer und müde von der Mahlzeit, und schweigen. Aber noch ist nichts gegessen. Es macht ihm zu schaffen, sie sieht es.
„Und trotzdem! Ich glaub’s nicht. So direkt daneben... das geht nicht ohne Verdrängung.“
Sie zuckt mit den Schultern. Dann glaub’s nicht.
„Ein kurzer Blick vielleicht, das ja. Aber auf die Dauer – von... sagen wir: einer Stunde – den Abgrund vor Augen – und zwar auch vor dem inneren, keine Ablenkung! .... ob du das aushältst? Ich wette: nein.“
Die Wette gilt. Sie sitzt auf der Brücke und lässt die Beine baumeln. Den Blick nach unten gerichtet. Jeden Felsvorsprung kennt sie wie ihre eigenen Fingernägel. Kein Raubvogel stürzt sich hinunter auf seine Beute. Kein Schmetterling taumelt tanzend empor. Nichts stört die Leere dieses Raumes. Jeder Moment ist wie der vorige, wie der kommende, vielleicht ist auch immer der selbe Moment, gefangen zwischen den Wänden. Zeit ist hier überflüssig. Sie kommt nicht, sie vergeht nicht. Eine furchtbare Vorstellung, wenn einem so langweilig ist wie ihr gerade.
Vor den äußeren Augen tut sich nichts, darum konzentriert sie sich auf die inneren.
Natürlich bleibt sie dabei in der Schlucht, treu der Bedingung. Was könnte jemand hier tun außer sitzen und schauen? Zum Beispiel stürzen. Oder springen. Fallen. Aufprallen. Sie stellt sich vor, wie ihre Knochen zertrümmern. Wie die Wucht des Aufpralls ihr die Splitter durch das Fleisch rammt... - Sie greift nach dem Seil, um sich festzuhalten. All die Vorgänge im Körper, die notwendig sind für diese Bewegung, das komplexe Zusammenspiel der Muskeln! - Dieser Körper ist ein Wunder. Dieser Körper ist sie. Dieser Körper ist: ihre Knochen, ungebrochen, nicht in Trümmern, ihre Haut, unversehrt, nicht in Fetzen, darunter das Blut, nicht auf den Felsen verspritzt. Sie spürt, wie ihr Herz es durch die Adern pumpt, noch nie hat sie das so deutlich gespürt. Noch nie hat sie sich so deutlich gespürt. Nach dem Aufprall wäre sie Brei – ein Bild gegen das sich ihr Magen wehrt, alles in ihr wehrt sich dagegen. Das ist es also, was sie meinen mit dem Grauen.
Jetzt wird ihr klar, wie kühn sie ist. Sie nimmt die Hand wieder weg, lässt die Beine baumeln, schaut in den Abgrund. Sie ist kühn und spürt sich so deutlich wie noch nie. Das Bild vom Brei – soll das alles sein was diese Schlucht an Schrecken für sie bereithält?
Sie stellt sich vor zu fallen. Lange sitzt sie so und stellt sich vor zu fallen.
Der Aufprall ist nicht das Schlimmste. Noch schlimmer: kein Aufprall. Endloses Fallen.
Hat diese Schlucht wirklich einen Grund? Sie ist sich nicht mehr sicher und kann es nicht mehr überprüfen, denn da ist nur mehr Schwärze. Es ist sehr spät geworden. Doch diese Dunkelheit senkt sich nicht herab von einem weiten Himmel, diese Dunkelheit steigt aus der Schlucht empor. Auch die Stille um sie herum ist nicht die friedvolle Stille einer Nacht in den Bergen. Auch die Stille steigt aus der Schlucht empor. Sie hat ihre eigene Melodie. Sie singt vom endlosen Fallen. Nie hat sie gemerkt, wie schön dieses Lied ist. Und jetzt kann sie sich nicht mehr davon lösen. Wie auch? Sie fällt ja noch.
Es ist mehr als ein Lied. Es ist ein Ruf. Ein Ruf, der sie erreicht.
Sein Ruf vom Rand der Schlucht zu ihr herüber: Die Stunde ist vorbei. Sie schüttelt sich inwendig, springt auf und streicht grinsend den Wetteinsatz ein. Was für eine bescheuerte Wette! Nie wieder wird sie sich auf so etwas einlassen.
.
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Es ist zu spät. Sie hat das Lied gehört, und sie hört es wieder in ihren Träumen.
Seit Neuestem wandelt sie im Schlaf.
Diese Frage hört sie öfters. Fast jeder, der auf seiner Reise in ihrer Hütte am Rand der Schlucht eine Rast einlegt, stellt sie irgendwann. Spätestens, wenn sie zum Brunnen muss, um neues Wasser zu holen. Der Brunnen befindet sich auf der anderen Seite der Schlucht, erreichbar nur über eine windschiefe Konstruktion aus Seilen und Brettern, eigenhändig errichtet von einem Ur-Ur-Ur-Großvater, wie sie nie versäumt anzumerken. Die Bezeichnung „Seilbrücke“ wäre zu hoch gegriffen. Aber das behalten die Besucher lieber für sich.
Was sie sich nicht verkneifen können, die Gäste, ist aber die Frage nach der Lebensqualität. Immerhin: diese Tiefe, ein Sturz, der sichere Tod und das alles immerzu lauernd, in nächster Nähe – ob ihr nicht graut? Sie kramt dann ihre ganze Geduld hervor – ein bisschen hat sie ja auch Mitleid, den Gästen selber graut nämlich sichtlich - und erklärt: Nein, wirklich nicht, warum auch? Abgründe existieren, mit diesem Wissen kann jeder leben. Hier existiert eben einer zufällig neben ihr. Gefährlich soll das sein? Aber im Gegenteil! Ein Abgrund vor der Haustür lehrt, die Schritte achtsam zu setzen. Viel bedrohlicher haben es die in den Ebenen, in den lieblichen Hügeln: nie etwas anderes unter den Füßen als sanfte Grasteppiche und gepflasterte Wege – wer schaut da noch, wohin er tritt?
Meistens sehen die Gäste das ein und sprechen dann von etwas anderem. Dieser hier bohrt weiter. „Hinunterschauen darf man aber nicht, oder?“
Sie lächelt. Das gute, alte Zeichentrickklischee: Großes Tier jagt kleines Tier, merkt im Eifer nicht, dass es keinen Boden mehr unter den Füßen hat und fällt erst, als es sich dessen bewusst wird. Natürlich - beim Gang über die Brücke heftest du den Blick am besten auf den Brunnen. Aber ein gelegentlicher Blick in den Abgrund, das ist schon wichtig. Warum? Weil du wissen musst, dass es tief ist, tödlich. Und zwar wirklich wissen, im Bauch, nicht bloß im Hirn. Den Bauch überzeugst du am leichtesten mit deinen eigenen Augen, den musst du auch immer wieder erinnern, er gewöhnt sich sonst und vergisst.
„Also doch ein bisschen Grauen?“
Wissen, dass es tief ist. Die Schritte achtsam setzen – das ist die ganze Zauberei, dazu braucht es kein Grauen. Aber das Wissen um die Tiefe! Das motiviert.
Er lehnt sich weiter vor. So ist das also. Wie interessant. Sie findet Gefallen am Thema.
Die Abgründe, führt sie weiter aus, vertragen keine Ignoranz. Sie rächen sich, wenn sie nicht beachtet werden. Sie tun sich dann plötzlich hinter Böschungen auf, werden heimtückisch. Achtsamkeit! Das ist das Um und Auf mit Abgründen.
Es ist spät geworden. Sie bleiben noch bei Tisch sitzen, schwer und müde von der Mahlzeit, und schweigen. Aber noch ist nichts gegessen. Es macht ihm zu schaffen, sie sieht es.
„Und trotzdem! Ich glaub’s nicht. So direkt daneben... das geht nicht ohne Verdrängung.“
Sie zuckt mit den Schultern. Dann glaub’s nicht.
„Ein kurzer Blick vielleicht, das ja. Aber auf die Dauer – von... sagen wir: einer Stunde – den Abgrund vor Augen – und zwar auch vor dem inneren, keine Ablenkung! .... ob du das aushältst? Ich wette: nein.“
Die Wette gilt. Sie sitzt auf der Brücke und lässt die Beine baumeln. Den Blick nach unten gerichtet. Jeden Felsvorsprung kennt sie wie ihre eigenen Fingernägel. Kein Raubvogel stürzt sich hinunter auf seine Beute. Kein Schmetterling taumelt tanzend empor. Nichts stört die Leere dieses Raumes. Jeder Moment ist wie der vorige, wie der kommende, vielleicht ist auch immer der selbe Moment, gefangen zwischen den Wänden. Zeit ist hier überflüssig. Sie kommt nicht, sie vergeht nicht. Eine furchtbare Vorstellung, wenn einem so langweilig ist wie ihr gerade.
Vor den äußeren Augen tut sich nichts, darum konzentriert sie sich auf die inneren.
Natürlich bleibt sie dabei in der Schlucht, treu der Bedingung. Was könnte jemand hier tun außer sitzen und schauen? Zum Beispiel stürzen. Oder springen. Fallen. Aufprallen. Sie stellt sich vor, wie ihre Knochen zertrümmern. Wie die Wucht des Aufpralls ihr die Splitter durch das Fleisch rammt... - Sie greift nach dem Seil, um sich festzuhalten. All die Vorgänge im Körper, die notwendig sind für diese Bewegung, das komplexe Zusammenspiel der Muskeln! - Dieser Körper ist ein Wunder. Dieser Körper ist sie. Dieser Körper ist: ihre Knochen, ungebrochen, nicht in Trümmern, ihre Haut, unversehrt, nicht in Fetzen, darunter das Blut, nicht auf den Felsen verspritzt. Sie spürt, wie ihr Herz es durch die Adern pumpt, noch nie hat sie das so deutlich gespürt. Noch nie hat sie sich so deutlich gespürt. Nach dem Aufprall wäre sie Brei – ein Bild gegen das sich ihr Magen wehrt, alles in ihr wehrt sich dagegen. Das ist es also, was sie meinen mit dem Grauen.
Jetzt wird ihr klar, wie kühn sie ist. Sie nimmt die Hand wieder weg, lässt die Beine baumeln, schaut in den Abgrund. Sie ist kühn und spürt sich so deutlich wie noch nie. Das Bild vom Brei – soll das alles sein was diese Schlucht an Schrecken für sie bereithält?
Sie stellt sich vor zu fallen. Lange sitzt sie so und stellt sich vor zu fallen.
Der Aufprall ist nicht das Schlimmste. Noch schlimmer: kein Aufprall. Endloses Fallen.
Hat diese Schlucht wirklich einen Grund? Sie ist sich nicht mehr sicher und kann es nicht mehr überprüfen, denn da ist nur mehr Schwärze. Es ist sehr spät geworden. Doch diese Dunkelheit senkt sich nicht herab von einem weiten Himmel, diese Dunkelheit steigt aus der Schlucht empor. Auch die Stille um sie herum ist nicht die friedvolle Stille einer Nacht in den Bergen. Auch die Stille steigt aus der Schlucht empor. Sie hat ihre eigene Melodie. Sie singt vom endlosen Fallen. Nie hat sie gemerkt, wie schön dieses Lied ist. Und jetzt kann sie sich nicht mehr davon lösen. Wie auch? Sie fällt ja noch.
Es ist mehr als ein Lied. Es ist ein Ruf. Ein Ruf, der sie erreicht.
Sein Ruf vom Rand der Schlucht zu ihr herüber: Die Stunde ist vorbei. Sie schüttelt sich inwendig, springt auf und streicht grinsend den Wetteinsatz ein. Was für eine bescheuerte Wette! Nie wieder wird sie sich auf so etwas einlassen.
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Es ist zu spät. Sie hat das Lied gehört, und sie hört es wieder in ihren Träumen.
Seit Neuestem wandelt sie im Schlaf.