Ich sehe es im Augenwinkel. Es ist nur eine kleine Bewegung, aber sie entgeht mir nicht. Natürlich nicht. Zum ersten Mal ist es an diesem Morgen ganz still. Kein Rascheln, kein Klappern der Tastatur, kein dumpfes Stimmengewirr. Bisher hatte unaufhörlich das Telefon geklingelt, mal bei ihr, mal bei mir. Oder die Tür sprang auf und irgendein Sachbearbeiter legte Berge voller Arbeit auf den Tisch. Dann erschien auch noch er, der Chef.
„Die Umsatzzahlen bitte! Fertig?“
Ich fragte vorsichtig, ob das nicht Zeit hätte und deutete auf den übervollen Tisch.
„Frau Klein, ihr Kollege ist wohl etwas überlastet! Mit ihm befasse ich mich später. Das wird zwar etwas unappetitlich, aber auch interessant. Sie werden mir die Zahlen doch bringen, nicht wahr? Sagen wir bis 10:00 Uhr?“
Was für eine Frage! So kann nur ein Chef fragen: ‚Sie werden mir die Zahlen doch bringen?’ Natürlich wird sie! Der Einzige, der hier mal die Lippe riskiert, bin doch ich! Frau Klein aber strich sich, kaum das er die Tür hinter sich geschlossen hatte, ihre blonden Haarstränen hinter die Ohren, ließ von nun an das Telefon bimmeln und würdigte mich mit keinem einzigen Blick mehr.
Ohne Frage, hübsch ist sie ja. Eine Frau zum Verlieben? Nun ja, vielleicht unter anderen Umständen… Doch wie lautet die eiserne Büroregel: Niemals mit einer Kollegin. Niemals. Einmal, ich glaube es war im Mai vor zwei Jahren, da dachte ich, sie würde mich anlächeln, einfach so! Doch dann kam treffsicher ihr Räuspern über mich und die bewaffnete Frage:
„Herr Hopf, sie starren mich so an! Können sie nicht mal woanders hinsehen?“
Blutüberströmt lag ich minutenlang in der Ecke und winselte vor mich hin. Dabei mag ich ihre Stimme, wirklich! Sie klingt weich und fest, sogar wenn sie so etwas Blödes sagt. Wenn die Kleine, so nenne ich sie heimlich, zum Beispiel von ihrer Katze erzählt - das muss man gehört und gesehen haben! - bekommt ihre Stimme einen geschmeidigen Ton, ihre grünen Augen leuchten auf einmal, dass man meinen könnte, da funkeln zwei Smaragde.
Zehn vor zehn, Frau Klein seufzte leise. Ihrem Seufzer folgte, wonach ich mich schon den ganzen Morgen sehne: Stille, endlich Stille. Sie hat es tatsächlich geschafft: die Zahlen sind in Felder sortiert, ein Programm hat dazu die passende Grafik gedruckt, alles überschaubar, sauber und fein. Es ist noch Zeit, zehn himmlische Minuten. Gehe nie zu Deinem Fürst, wenn Du nicht gerufen wirst! Auch so eine eiserne Büroregel. ‚Warum eigentlich nicht?’, fragen oft die Neuen ungläubig. Noch ahnen sie nicht, dass die Vollendung einer Arbeit sie an den Anfang aller Mühe zurückversetzen wird. Frau Klein ist nicht neu, nur verdammt ehrgeizig. Und so schauen wir gemeinsam durch den geöffneten Lamellenvorhang in den Vormittag hinaus.
Grau. Grau ist der richtige Ausdruck für das Wetter da draußen. Den Kontrast dazu bilden schwarze Wolken voller Raben. Manchmal könnte man denken, sie fliegen nur so aus Spaß, fliegen um zu Krächzen und um allen zu zeigen: Seht her, hier kommen wir, die mächtigsten Vögel der Stadt. Dann, wie auf ein geheimes Zeichen, regnen sie auf eine Weide hinter dem Parkplatz herab. Und jetzt? Stille.
„Kolkraben“, sage ich und drehe die Heizung noch weiter auf.
„Wie bitte?“
„Das sind Kolkraben! Sind ziemlich schlau, die Kameraden…“
Ich spüre ihren Blick, sehe, wie sie zögert. Als es geschieht, durchläuft mich ein wohliger Schauer. Ihre dünnen Finger wandern zur roten Bluse, der obere Knopf springt auf, dann senken sie sich wieder auf die Tastatur. Wer lässt sich denn so etwas einfallen, ausgerechnet Weiß! Schwarze Knöpfe würden besser passen, zumindest zu ihrer Unterwäsche. Oder ist es etwa dunkles Blau, was da schimmert? Egal. Gleich wird Frau Klein auf ihrem Stuhl zu mir rollen, wird sich etwas über den Schreibtisch beugen und mich bitten, noch schnell, bevor sie zum Chef muss, ihre Zahlen zu kontrollieren. Aber ach! Stattdessen nimmt sie die Mappe unter den Arm, stellt sich eilig vor den Schrankspiegel, zieht ihren Keinerküßtbesser-Stift durchs Gesicht. Wieder nichts, als ob ich es geahnt hätte!
„Ich geh dann mal.“
„Wussten Sie eigentlich“ sage ich halblaut, während sie schon zur Türklinke greift, „dass man da unten auf der Weide ein totes Kalb gefunden hat?“
Sie zuckt mit den Schultern. „Und?“
„Es waren die Raben!“ flüstere ich.
„Die Raben?“
„Da kann man gar nichts machen! Wissen Sie, auf einmal stürzen sie herab und fangen an zu hacken! Hackackackackack!“
„Was ist denn mit Ihnen los? Sie haben wohl zu viel Hitchcock-Filme gesehen, was?“
„Hackackackackack!“
Mit einem lauten Knall schmeißt sie die Tür hinter sich zu. Verstehe einer die Frauen! Zugegeben, das zweite „Hackackackackack!“ hätte ich mir verkneifen können. Aber muss sie denn auch so aufgedonnert zum Chef takeln?
Ich ziehe die Schublade auf, greife in die Tüte mit den Sonnenblumenkernen und schiebe sie einzeln in meinen Mund. Immer hübsch der Reihe nach, jedem soll das Seine geschehen. Möglicherweise habe ich diese Leidenschaft von meiner schlesischen Großmutter geerbt. Jedenfalls hatte sie immer einen kleinen Vorrat solcher Kerne in ihrer rechten Kittelschürzentasche. Manchmal durfte meine Hand in die unergründlichen Tiefen dieser Tasche hinabwandern, durfte zwischen all den anderen Dingen wühlen, die Frauen für gewöhnlich in Handtaschen umhertragen. Wie kleine Goldklümpchen schürfte ich die Leckerei aus dem tiefen See ihrer Geborgenheit. „Für den kleinen Hunger zwischendurch“, sagte sie dann und strich mir über den Kopf. Zum ersten Mal ist es mir heute warm.
Über den Parkplatz ist zum Pförtnerhäuschen eine Leitung gespannt. Auf ihr zähle ich 7 Raben. Großmutter hätte sie gefüttert. Warum eigentlich nicht? Ich öffne das Fenster und lege 7 Sonnenblumenkerne aus, jedes mit einem handbreiten Abstand zum Nächsten. Warten hinter geschlossenem Fenster: Und tatsächlich! Einer nach dem anderen kommt angeflogen und holt sich seinen Kern. Der letzte Rabe bleibt, stolziert etwas unschlüssig auf dem Sims herum, schaut, als ob er durch die Scheibe sehen könnte.
Er schaut mich an! Ja doch, ich bin mir sicher, er schaut mich an! Und dann, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, trommelt er seine Botschaft gegen die Fensterscheibe: Hackackackackack! Ich bin perplex. Der Rabe aber fliegt zurück auf die Leitung und schaukelt balancierend mit den andern im Wind. Ich greife in meine Tüte, zähle wieder 7 Kerne ab. Als ich die Schublade schließe, heben sie die Köpfe, schauen zu mir herüber! Das ist doch ein Witz, oder? Ich öffne das Fenster, lege die Reihe noch einmal aus. Wieder das Gleiche. Einer nach dem anderen startet, pickt seinen Kern. Der letzte Rabe lässt das Getrommel folgen.
Hackackackackack!
„Hackihück!“, rufe ich durch das offene Fenster dem letzten Raben hinterher, was soviel wie „Komm zurück!“ bedeuten soll. Und wirklich! Der Rabe fliegt eine Schleife und landet wieder auf dem Fensterbrett.
„Fein gemacht, Kolki!“, höre ich mich sagen, „Dafür gibt es eine Extraportion.“
Positive Stimulans nennt man das. Tja, wenn es um Motivation der Mitarbeiter geht, könnte mein Chef noch so manches von mir lernen! Nur, mich fragt ja keiner.
Nächste Aufgabe: Staffelflug!
„Ich möchte von Euch nun einen Staffelflug sehen“, erkläre ich dem Raben und füge auf Kolkrabisch hinzu: „Hackehuck!“
Kann sein, dass er mich auf Deutsch versteht, kann auch sein, dass ich wie aus dem Nichts Kolkis Sprache sprechen kann, wer weiß das schon so genau? Obwohl, und ich gebe es ungern zu, mein Kolkrabisch könnte auch Indianisch sein. Und wenn schon, Chingagook wäre sicher stolz auf mich.
Jedenfalls fliegt Kolki zu seinen Kollegen, umkreist sie einmal krächzend und dann, wirklich kaum zu glauben, starten sie gemeinsam zu einem Staffelflug vom Feinsten, wirklich wahr! Schnell lege ich sieben kleine Häufchen aus und klatsche anerkennend Beifall.
Die Raben picken noch, meine Gedanken sind wieder bei Frau Klein.
„Ich geh dann mal“, äffe ich sie nach und sehe dabei auf die Uhr. Immerhin! Über eine Stunde ist sie nun schon bei ihm drin. „Ich geh dann mal, ich geh dann mal.“ Na und? Soll sie doch! Soll sie doch bleiben, wo der Pfeffer wächst. Mir ist das doch egal. Nein wirklich! Was habe ich damit zu tun, wenn eine erwachsene Frau einen Knopf öffnet, bevor sie ihrem Chef die Umsatzzahlen erklärt. Sie wird schon wissen, wie das Thema am besten zu vermitteln ist.
„Ihr Kollege scheint überlastet“, hat er gesagt. Und wie er das gesagt hat, so, als ob ich schon zum alten Eisen gehören würde. Stehe ich etwa auf seiner schwarzen Liste?
Etwas anderes denken. Ich muss an etwas anderes denken! Nur an was? Lautes Krächzen lenkt meinen Blick wieder in das Grau. Neulich habe ich gelesen, Kolkraben seien geradezu gierig nach Kälberkot. Etwas unappetitlich ist das Thema ja, aber auch interessant! Auf den Kot von Kälbern, die noch gesäugt werden, sind die Vögel besonders gierig. Milchzucker! Die Kameraden sind auf den unverdauten Milchzucker aus. Normalerweise ist das nämlich so: Stehen die Kälber nach einem Verdauungsschläfchen auf, heben sie ihren Schwanz. Das wiederum wissen die schlauen Vögel und nutzten es sogar ganz gezielt aus: Sie kneifen den schlafenden Tieren solange in den Schwanz, bis diese aufwachen und sich erheben. Jetzt brauchen sie nur noch warten, bis es Klatsch macht.
Die dritte Aufgabe wartet: man darf das Interesse der Vögel nicht enttäuschen. Zwar ist mein Vorrat an Sonnenblumenkernen dezimiert, aber für eine Aufgabe würden sie schon noch ausreichen. Während ich am Fenster stehend noch darüber nachsinne, welche neue Herausforderung für Kolki und seine Kollegen angemessen sei, entdecke ich Frau Klein und den Chef! Na so was! Gemeinsam gehen Sie über den Parkplatz und werden sicher gleich in sein schwarzes Auto steigen. Fahren wohl erst Mittagessen und dann zu ihm. Oder umgedreht.
Ich flüstere Kolki zu: „Kackackin!“. Vorsichtshalber ergänze ich in meiner Sprache: „Zerhackt ihn!“
Er schaut mich kurz an, gibt den anderen ein krächzendes Zeichen, und dann geht es los! Die Raben stürzen sich mitten im Flug auf meinen Chef hinab und flattern wild um seinen Kopf. Der wehrt sich nach Kräften, fuchtelt mit seiner Aktentasche und schlägt die erste Angriffswelle zurück. Doch schon sind sie wieder da! Der Chef rennt was er kann, verliert dabei sein Toupet, zögert einen Moment - das Stück war teuer! Doch die Vögel kennen kein Erbarmen und treiben ihn vor sich her. Er erreicht sein Auto, schwingt sich hinein und schießt mit heulendem Motor davon.
Meine Raben sammeln sich auf dem Sims, holen sich ihre verdienten Kerne und ich klatsche versteckt Beifall. Frau Klein aber steht mit offenem Mund allein auf dem Platz, geht unschlüssig zum Toupet, hebt es triefend aus einer Pfütze und lässt es gleich darauf wieder fallen.
Als sich die Tür öffnet, ist es halb zwölf. Genau genommen, noch nicht ganz, es fehlen noch zwei Minuten. 88 Minuten also! In dieser Zeit laufen woanders ganze Filme ab. Die schöne Frau Klein setzt sich still an ihren Platz und tippselt weiter, so als ob nichts geschehen wäre.
„Übrigens“, sagt sie ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden, „Sie sollen nach dem Mittag zum Chef kommen. Ich sage es ihnen gleich, es sieht nicht gut für Sie aus.“
„Zum Chef? Musste der nicht dringend zum Frisör? Ohne sein Toupet wird der doch hier nicht…“
„Toupet? Was für ein Toupet?“, fragt die Hexe spitz, „Kann es sein, Herr Hopf, dass Sie schon wieder geträumt haben? Ich fürchte, Sie werden sich in Zukunft dafür andere Plätze suchen müssen“
„Geträumt?“
Unauffällig ziehe ich die Schublade auf. Tatsächlich, die Tüte mit den Sonnenblumenkernen war noch gut gefüllt.
Als ich etwas später wie bestellt ins Büro meines Chefs komme, finde ich es offen und leer. Niemand da! Keine Sekretärin, kein Nichts. Einmal im Leben muss man ja auch Glück haben, oder? Ich suche fieberhaft auf dem dunklen Fußboden nach einem kleinen weißen Fleck.
„Nanu! Was machen Sie denn unter meinem Schreibtisch?! Jetzt hört aber auch alles auf!“
„Wussten Sie“, antworte ich, nachdem ich wieder aufrecht vor ihm stand, „dass dieser kleine weiße Knopf wie kein anderer vorzüglich zu einer roten Bluse passt?“
„Die Umsatzzahlen bitte! Fertig?“
Ich fragte vorsichtig, ob das nicht Zeit hätte und deutete auf den übervollen Tisch.
„Frau Klein, ihr Kollege ist wohl etwas überlastet! Mit ihm befasse ich mich später. Das wird zwar etwas unappetitlich, aber auch interessant. Sie werden mir die Zahlen doch bringen, nicht wahr? Sagen wir bis 10:00 Uhr?“
Was für eine Frage! So kann nur ein Chef fragen: ‚Sie werden mir die Zahlen doch bringen?’ Natürlich wird sie! Der Einzige, der hier mal die Lippe riskiert, bin doch ich! Frau Klein aber strich sich, kaum das er die Tür hinter sich geschlossen hatte, ihre blonden Haarstränen hinter die Ohren, ließ von nun an das Telefon bimmeln und würdigte mich mit keinem einzigen Blick mehr.
Ohne Frage, hübsch ist sie ja. Eine Frau zum Verlieben? Nun ja, vielleicht unter anderen Umständen… Doch wie lautet die eiserne Büroregel: Niemals mit einer Kollegin. Niemals. Einmal, ich glaube es war im Mai vor zwei Jahren, da dachte ich, sie würde mich anlächeln, einfach so! Doch dann kam treffsicher ihr Räuspern über mich und die bewaffnete Frage:
„Herr Hopf, sie starren mich so an! Können sie nicht mal woanders hinsehen?“
Blutüberströmt lag ich minutenlang in der Ecke und winselte vor mich hin. Dabei mag ich ihre Stimme, wirklich! Sie klingt weich und fest, sogar wenn sie so etwas Blödes sagt. Wenn die Kleine, so nenne ich sie heimlich, zum Beispiel von ihrer Katze erzählt - das muss man gehört und gesehen haben! - bekommt ihre Stimme einen geschmeidigen Ton, ihre grünen Augen leuchten auf einmal, dass man meinen könnte, da funkeln zwei Smaragde.
Zehn vor zehn, Frau Klein seufzte leise. Ihrem Seufzer folgte, wonach ich mich schon den ganzen Morgen sehne: Stille, endlich Stille. Sie hat es tatsächlich geschafft: die Zahlen sind in Felder sortiert, ein Programm hat dazu die passende Grafik gedruckt, alles überschaubar, sauber und fein. Es ist noch Zeit, zehn himmlische Minuten. Gehe nie zu Deinem Fürst, wenn Du nicht gerufen wirst! Auch so eine eiserne Büroregel. ‚Warum eigentlich nicht?’, fragen oft die Neuen ungläubig. Noch ahnen sie nicht, dass die Vollendung einer Arbeit sie an den Anfang aller Mühe zurückversetzen wird. Frau Klein ist nicht neu, nur verdammt ehrgeizig. Und so schauen wir gemeinsam durch den geöffneten Lamellenvorhang in den Vormittag hinaus.
Grau. Grau ist der richtige Ausdruck für das Wetter da draußen. Den Kontrast dazu bilden schwarze Wolken voller Raben. Manchmal könnte man denken, sie fliegen nur so aus Spaß, fliegen um zu Krächzen und um allen zu zeigen: Seht her, hier kommen wir, die mächtigsten Vögel der Stadt. Dann, wie auf ein geheimes Zeichen, regnen sie auf eine Weide hinter dem Parkplatz herab. Und jetzt? Stille.
„Kolkraben“, sage ich und drehe die Heizung noch weiter auf.
„Wie bitte?“
„Das sind Kolkraben! Sind ziemlich schlau, die Kameraden…“
Ich spüre ihren Blick, sehe, wie sie zögert. Als es geschieht, durchläuft mich ein wohliger Schauer. Ihre dünnen Finger wandern zur roten Bluse, der obere Knopf springt auf, dann senken sie sich wieder auf die Tastatur. Wer lässt sich denn so etwas einfallen, ausgerechnet Weiß! Schwarze Knöpfe würden besser passen, zumindest zu ihrer Unterwäsche. Oder ist es etwa dunkles Blau, was da schimmert? Egal. Gleich wird Frau Klein auf ihrem Stuhl zu mir rollen, wird sich etwas über den Schreibtisch beugen und mich bitten, noch schnell, bevor sie zum Chef muss, ihre Zahlen zu kontrollieren. Aber ach! Stattdessen nimmt sie die Mappe unter den Arm, stellt sich eilig vor den Schrankspiegel, zieht ihren Keinerküßtbesser-Stift durchs Gesicht. Wieder nichts, als ob ich es geahnt hätte!
„Ich geh dann mal.“
„Wussten Sie eigentlich“ sage ich halblaut, während sie schon zur Türklinke greift, „dass man da unten auf der Weide ein totes Kalb gefunden hat?“
Sie zuckt mit den Schultern. „Und?“
„Es waren die Raben!“ flüstere ich.
„Die Raben?“
„Da kann man gar nichts machen! Wissen Sie, auf einmal stürzen sie herab und fangen an zu hacken! Hackackackackack!“
„Was ist denn mit Ihnen los? Sie haben wohl zu viel Hitchcock-Filme gesehen, was?“
„Hackackackackack!“
Mit einem lauten Knall schmeißt sie die Tür hinter sich zu. Verstehe einer die Frauen! Zugegeben, das zweite „Hackackackackack!“ hätte ich mir verkneifen können. Aber muss sie denn auch so aufgedonnert zum Chef takeln?
Ich ziehe die Schublade auf, greife in die Tüte mit den Sonnenblumenkernen und schiebe sie einzeln in meinen Mund. Immer hübsch der Reihe nach, jedem soll das Seine geschehen. Möglicherweise habe ich diese Leidenschaft von meiner schlesischen Großmutter geerbt. Jedenfalls hatte sie immer einen kleinen Vorrat solcher Kerne in ihrer rechten Kittelschürzentasche. Manchmal durfte meine Hand in die unergründlichen Tiefen dieser Tasche hinabwandern, durfte zwischen all den anderen Dingen wühlen, die Frauen für gewöhnlich in Handtaschen umhertragen. Wie kleine Goldklümpchen schürfte ich die Leckerei aus dem tiefen See ihrer Geborgenheit. „Für den kleinen Hunger zwischendurch“, sagte sie dann und strich mir über den Kopf. Zum ersten Mal ist es mir heute warm.
Über den Parkplatz ist zum Pförtnerhäuschen eine Leitung gespannt. Auf ihr zähle ich 7 Raben. Großmutter hätte sie gefüttert. Warum eigentlich nicht? Ich öffne das Fenster und lege 7 Sonnenblumenkerne aus, jedes mit einem handbreiten Abstand zum Nächsten. Warten hinter geschlossenem Fenster: Und tatsächlich! Einer nach dem anderen kommt angeflogen und holt sich seinen Kern. Der letzte Rabe bleibt, stolziert etwas unschlüssig auf dem Sims herum, schaut, als ob er durch die Scheibe sehen könnte.
Er schaut mich an! Ja doch, ich bin mir sicher, er schaut mich an! Und dann, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, trommelt er seine Botschaft gegen die Fensterscheibe: Hackackackackack! Ich bin perplex. Der Rabe aber fliegt zurück auf die Leitung und schaukelt balancierend mit den andern im Wind. Ich greife in meine Tüte, zähle wieder 7 Kerne ab. Als ich die Schublade schließe, heben sie die Köpfe, schauen zu mir herüber! Das ist doch ein Witz, oder? Ich öffne das Fenster, lege die Reihe noch einmal aus. Wieder das Gleiche. Einer nach dem anderen startet, pickt seinen Kern. Der letzte Rabe lässt das Getrommel folgen.
Hackackackackack!
„Hackihück!“, rufe ich durch das offene Fenster dem letzten Raben hinterher, was soviel wie „Komm zurück!“ bedeuten soll. Und wirklich! Der Rabe fliegt eine Schleife und landet wieder auf dem Fensterbrett.
„Fein gemacht, Kolki!“, höre ich mich sagen, „Dafür gibt es eine Extraportion.“
Positive Stimulans nennt man das. Tja, wenn es um Motivation der Mitarbeiter geht, könnte mein Chef noch so manches von mir lernen! Nur, mich fragt ja keiner.
Nächste Aufgabe: Staffelflug!
„Ich möchte von Euch nun einen Staffelflug sehen“, erkläre ich dem Raben und füge auf Kolkrabisch hinzu: „Hackehuck!“
Kann sein, dass er mich auf Deutsch versteht, kann auch sein, dass ich wie aus dem Nichts Kolkis Sprache sprechen kann, wer weiß das schon so genau? Obwohl, und ich gebe es ungern zu, mein Kolkrabisch könnte auch Indianisch sein. Und wenn schon, Chingagook wäre sicher stolz auf mich.
Jedenfalls fliegt Kolki zu seinen Kollegen, umkreist sie einmal krächzend und dann, wirklich kaum zu glauben, starten sie gemeinsam zu einem Staffelflug vom Feinsten, wirklich wahr! Schnell lege ich sieben kleine Häufchen aus und klatsche anerkennend Beifall.
Die Raben picken noch, meine Gedanken sind wieder bei Frau Klein.
„Ich geh dann mal“, äffe ich sie nach und sehe dabei auf die Uhr. Immerhin! Über eine Stunde ist sie nun schon bei ihm drin. „Ich geh dann mal, ich geh dann mal.“ Na und? Soll sie doch! Soll sie doch bleiben, wo der Pfeffer wächst. Mir ist das doch egal. Nein wirklich! Was habe ich damit zu tun, wenn eine erwachsene Frau einen Knopf öffnet, bevor sie ihrem Chef die Umsatzzahlen erklärt. Sie wird schon wissen, wie das Thema am besten zu vermitteln ist.
„Ihr Kollege scheint überlastet“, hat er gesagt. Und wie er das gesagt hat, so, als ob ich schon zum alten Eisen gehören würde. Stehe ich etwa auf seiner schwarzen Liste?
Etwas anderes denken. Ich muss an etwas anderes denken! Nur an was? Lautes Krächzen lenkt meinen Blick wieder in das Grau. Neulich habe ich gelesen, Kolkraben seien geradezu gierig nach Kälberkot. Etwas unappetitlich ist das Thema ja, aber auch interessant! Auf den Kot von Kälbern, die noch gesäugt werden, sind die Vögel besonders gierig. Milchzucker! Die Kameraden sind auf den unverdauten Milchzucker aus. Normalerweise ist das nämlich so: Stehen die Kälber nach einem Verdauungsschläfchen auf, heben sie ihren Schwanz. Das wiederum wissen die schlauen Vögel und nutzten es sogar ganz gezielt aus: Sie kneifen den schlafenden Tieren solange in den Schwanz, bis diese aufwachen und sich erheben. Jetzt brauchen sie nur noch warten, bis es Klatsch macht.
Die dritte Aufgabe wartet: man darf das Interesse der Vögel nicht enttäuschen. Zwar ist mein Vorrat an Sonnenblumenkernen dezimiert, aber für eine Aufgabe würden sie schon noch ausreichen. Während ich am Fenster stehend noch darüber nachsinne, welche neue Herausforderung für Kolki und seine Kollegen angemessen sei, entdecke ich Frau Klein und den Chef! Na so was! Gemeinsam gehen Sie über den Parkplatz und werden sicher gleich in sein schwarzes Auto steigen. Fahren wohl erst Mittagessen und dann zu ihm. Oder umgedreht.
Ich flüstere Kolki zu: „Kackackin!“. Vorsichtshalber ergänze ich in meiner Sprache: „Zerhackt ihn!“
Er schaut mich kurz an, gibt den anderen ein krächzendes Zeichen, und dann geht es los! Die Raben stürzen sich mitten im Flug auf meinen Chef hinab und flattern wild um seinen Kopf. Der wehrt sich nach Kräften, fuchtelt mit seiner Aktentasche und schlägt die erste Angriffswelle zurück. Doch schon sind sie wieder da! Der Chef rennt was er kann, verliert dabei sein Toupet, zögert einen Moment - das Stück war teuer! Doch die Vögel kennen kein Erbarmen und treiben ihn vor sich her. Er erreicht sein Auto, schwingt sich hinein und schießt mit heulendem Motor davon.
Meine Raben sammeln sich auf dem Sims, holen sich ihre verdienten Kerne und ich klatsche versteckt Beifall. Frau Klein aber steht mit offenem Mund allein auf dem Platz, geht unschlüssig zum Toupet, hebt es triefend aus einer Pfütze und lässt es gleich darauf wieder fallen.
Als sich die Tür öffnet, ist es halb zwölf. Genau genommen, noch nicht ganz, es fehlen noch zwei Minuten. 88 Minuten also! In dieser Zeit laufen woanders ganze Filme ab. Die schöne Frau Klein setzt sich still an ihren Platz und tippselt weiter, so als ob nichts geschehen wäre.
„Übrigens“, sagt sie ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden, „Sie sollen nach dem Mittag zum Chef kommen. Ich sage es ihnen gleich, es sieht nicht gut für Sie aus.“
„Zum Chef? Musste der nicht dringend zum Frisör? Ohne sein Toupet wird der doch hier nicht…“
„Toupet? Was für ein Toupet?“, fragt die Hexe spitz, „Kann es sein, Herr Hopf, dass Sie schon wieder geträumt haben? Ich fürchte, Sie werden sich in Zukunft dafür andere Plätze suchen müssen“
„Geträumt?“
Unauffällig ziehe ich die Schublade auf. Tatsächlich, die Tüte mit den Sonnenblumenkernen war noch gut gefüllt.
Als ich etwas später wie bestellt ins Büro meines Chefs komme, finde ich es offen und leer. Niemand da! Keine Sekretärin, kein Nichts. Einmal im Leben muss man ja auch Glück haben, oder? Ich suche fieberhaft auf dem dunklen Fußboden nach einem kleinen weißen Fleck.
„Nanu! Was machen Sie denn unter meinem Schreibtisch?! Jetzt hört aber auch alles auf!“
„Wussten Sie“, antworte ich, nachdem ich wieder aufrecht vor ihm stand, „dass dieser kleine weiße Knopf wie kein anderer vorzüglich zu einer roten Bluse passt?“