liebermann
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Der letzte Fahrgast (Release 3.0)
DER LETZTE FAHRGAST [Release 3.0]
Max der Busfahrer liebte die Gleichförmigkeit. Jeden Tag fuhr er in seinem roten Bus die gleiche Route. Seit nun fast zweiundzwanzig Jahren. Immer wenn er sie wechseln sollte, machte er einen solchen Terz, dass es kein Vorgesetzter wagte, ihn auf eine andere Strecke zu versetzen. Seine Chefs wechselten, auch die Kollegen, aber Max konnte auf seiner Route bleiben. Auch sonst liebte Max die Abwechslung nicht. In seiner Freizeit besuchte er immer die gleiche Dorfkneipe, bestellte das Gleiche zu essen und zu trinken und redete mit seinen Bekannten über die immer gleichen Themen. Wenn sie ihn nicht gerade wieder einmal hänselten - wegen seiner Stirnglatze, seinem Bauch und weil er mit fast fünfzig noch immer bei seiner Mutter wohnte und keine Freundin hatte. An die Späße hatte er sich schon gewöhnt, waren sie doch kaum abwechslungsreicher als seine Arbeit.
Max hasste Veränderungen. Früher zog seine Familie alle drei Jahre um, da sein Vater als Offizier bei der Bundeswehr gedient hatte und die Versetzungen immer mit Beförderungen verbunden waren. Für Max war das der blanke Horror gewesen. Neue Schulen mit neuen Lehrern, neue Mitschüler, eine neue Umgebung, alles war ihm damals fremd Da er schon als Kind klein, dick und unsicher war, hänselten und verprügelten ihn seine Klassenkameraden regelmäßig. Kaum hatte er neue Freunde gefunden, und das kam selten genug vor, musste er schon wieder umziehen. Daher hielt sich auch seine Trauer sehr in Grenzen, als sein autoritärer Vater, mit dem er sich eh nicht gut verstand, bei einem Autounfall ums Leben kam. Max dachte damals nur: endlich hat die Umzieherei ein Ende. Zwar fand er noch immer keine wirklichen Freunde, aber er kannte sein Umfeld, wusste, wer die netten, gleichgültigen oder bösartigen Menschen waren. Entsprechend konnte er sich zu verhalten. Mit den netten und gleichgültigen redete er, den bösartigen ging er aus dem Weg. Monotonie bedeutete Kontrolle. Solange die Dinge ihren gewohnten Lauf nahmen, hatte er jede Situation im Griff.
Deshalb liebte er seinen Job als Busfahrer. Hier hatte er alles unter Kontrolle. Wenn er mit seiner frisch gebügelten dunkelblauen Fahreruniform hinter dem Lenkrad saß, waren alle freundlich zu ihm und zeigten Respekt. Sein Hemd hatte nie Falten oder Flecken, die Hose zierte eine ordentliche Bügelfalte, die seine Mutter jeden Abend auffrischte. Im Bus hatte er das Sagen, niemand durfte ihn verspotten oder ärgern. Er war der Fahrer der Route zwölf. Nicht, dass diese Route etwas Besonderes gewesen wäre, aber es war seine Route. Er kam immer pünktlich zum Dienst, fuhr nie zu früh oder zu spät an seinen Haltestellen ab - außer wenn es Schnee, Unfälle oder einen Stau gab. Aber dafür konnte er nichts. Wie ein Tiger kontrollierte er sein Revier, Eindringlinge hatten keine Chance. Oft sammelte er in seiner Pause die zurückgebliebenen Getränkedosen, gebrauchte Papiertaschentücher, leere Zigarettenschachtel und den sonstigen Müll ein. Mit Nagellackentferner entfernte er selbst die widerlichsten Schmierereien, denn sein Bus musste immer ordentlich und sauber sein. Jeder Schmutz, jede Zerstörung und jedes unanständige Benehmen trafen ihn persönlich. Wenn Teenies ihren Abfall auf den Boden warfen, Geschrei veranstalteten oder mit dicken Filzstiften Sprüche auf die Sitze schrieben, wies Max sie entschlossen zurecht. Wurden sie frech zu ihm, rief er die Polizei, die ihn schon bestens kannte. Angeblich rief kein Fahrer so oft die Polizei wie er. Meist waren die Jugendlichen dann schon über alle Berge, aber das machte Max nichts aus, schließlich glaubte er, dass sie alle als potenzielle Arbeitslose, Drogenabhängige oder andere Versager enden würden.
Seine Fahrgäste kannte Max fast alle. Er wusste wo sie einstiegen und wo sie den Bus wieder verließen. Manche kannte er mit Namen, manche erkannte er an ihren Kleidern und an ihren ewig gleichen Gewohnheiten. Er grüßte sie freundlich, führte ab und zu einen kleinen Smalltalk und Hunde von alten Damen ließ er gelegentlich umsonst mitfahren - obwohl für diese der halbe Fahrpreis fällig gewesen wäre. Max liebte seine Arbeit. So wie ein Kapitän sein Schiff über die stürmische See manövrierte, so stellte sich Max vor, steuerte er seinen Bus durch die wilden Wogen des unberechenbaren Straßenverkehrs, in dem alle möglichen Gefahren lauerten.
Alles war gut. Bis zu jenem Tag, an dem der Andere zum ersten Mal seinen Bus bestieg. Er hatte schwarze Haare, die sich lang und fettig über seine Schultern kringelten. Am herausgewachsenen Ansatz konnte man erkennen, dass er sie gefärbt hatte. Er war klein und schlank und trug immer einen abgewetzten Parka und grobe Schuhe, die er meist nicht zugebunden hatte. Schätzungsweise hatte er dreißig Jahre auf dem Buckel, hielt immer eine Dose Bier in der Hand und setzte sich stets nach ganz hinten in den Bus. Da er am Bahnhof meist als erster in den leeren Bus einstieg, konnte er sich fast jedes Mal auf die leere Rückbank lümmeln. Wenn er dort saß, mieden die anderen Fahrgäste diesen Teil des Busses.
Der Auftritt des Anderen glich in seinem immer gleichen Ablauf einem Ritual. Nachdem er seinen Platz besetzt hatte, starrte er in den Innenspiegel des Busses, bis sich sein Blick mit dem von Max kreuzte. Dann grinste er frech, prostete Max frech mit seiner Dose zu, wandte seinen Blick ab und schaute aus dem Fenster. Er tat so, als ob der Bus ihm gehörte, als ob er einen Anspruch auf den Platz auf der Rückbank hätte. Mit seinem Bundeswehrucksack blockierte er einen Sitzplatz, mit seinen Beinen, die er breit ausstreckte, die restlichen.
Der Andere verhielt sich immer gleich. Eigentlich hätte Max das mögen müssen, war er ihm doch dadurch sehr ähnlich.
Vom Bahnhof bis zum Stadtzentrum stiegen fast nur Leute zu. Erst Richtung stadtauswärts verließen die Ersten wieder den Bus und je weiter es in Richtung Land ging, desto weniger Fahrgäste blieben übrig. Die letzten fünf Stationen fuhr Max seine Tour fast immer alleine. Bis der Andere in Erscheinung getreten war. Er fuhr jedes Mal bis zur Endstation. Das hätte Max nicht weiter gestört, vermutlich hätte er es nicht einmal bemerkt, wenn der Andere sich nicht immer gleich auffällig verhalten hätte. Sobald beide alleine im Bus waren, ging es los. Der Andere drückte auf jeder der letzten Stationen die Stopptaste – immer! Die Anzeige „Wagen hält“ leuchtete im Wagen und bei Max auf dem Armaturenbrett auf. Und Max hielt an. Aber nie verließ der Andere den Bus. Anfangs war Max noch verunsichert. Stimmte etwas mit dem Bus nicht? Die Überprüfung durch die Mechaniker ergab, dass alles in bester Ordnung war.
Die Vorschrift sagte, dass er anhalten musste, wenn keine Störung der Anzeige vorlag. Max begann seinen letzten Fahrgast zu beobachten. In seinem Innenspiegel kontrollierte er, wie der Andere ganz schamlos, ohne jede Spur von Versteckspiel, die Stopptaste drückte. Also hielt Max an. Der Andere stieg nie aus. Max ärgerte zunehmend. Und je mehr er sich das anmerken ließ, desto mehr schien sich der Andere zu freuen. Fröhlich nippte er an seinem Bier, spielte mit dem Handy oder grinste einfach nur frech. Nicht still für sich. Er grinste immer in Richtung Innenspiegel. Er sah, dass Max ihn beobachtete, und schien zu wissen, dass es ihn ärgerte. Das war dem Anderen aber egal. Nein, nicht egal, es bereitete ihm sichtlich eine riesige Freude, wenn er Max vor Wut kochen sah. Kaum, dass die Tür zu war und die Fahrt fortgesetzt wurde, drückte der Andere wieder auf die Stopptaste. An der Endstation prostete er mit seiner Bierdose Max über den Innenspiegel feixend zu, stieg grußlos aus und verschwand im Dunkel der Nacht.
Max überlegte sich, ob er den Anderen zur Rede stellen sollte. Aber was sollte er sagen? Beim zweiundsechzigsten Mal war es dann soweit. Wieder befanden sie sich nur noch zu zweit im Bus. Im Innenspiegel hatte er genau beobachtet, wie der Andere lässig die Stopptaste drückte. Max ging nach hinten und sprach ihn an: „Sie haben die Stopptaste gedrückt!“ Der Andere grinste und sagte einfach: „Nein, da musst du dich täuschen.“ Fassungslos wusste Max nicht, was er machen sollte. Was wagte dieser Typ nur. Nicht nur dass er ihn duzte wie ein Erwachsener ein kleines Kind, nein er stritt schlichtweg einfach alles ab! Max war so empört, dass er keinen weiteren Satz mehr herausbrachte. Nachdem er einige Sekunden versucht etwas zu sagen, stammelte er nur: „Ich habe aber gesehen, dass sie den Knopf gedrückt haben.“ Lapidar antwortete der Andere, „Nö, du halluzinierst wohl.“ Zitternd vor Wut und gedemütigt ging er wieder vor zu seinem Fahrersitz. „Und jetzt schleich dich nach Vorne und fahr weiter“, hörte er den Anderen von hinten rufen. Kaum, dass er losgefahren war, blinkte das Licht „Wagen hält“ wieder auf. Er unterdrückte seine Wut, hielt an der nächsten Station an, öffnete die Tür, schloss sie wieder und fuhr weiter, während der Andere wieder grinste, noch eine Spur unverschämter als sonst. So ging das bis zur Endstation. Dann stieg der Andere aus, prostete ihm zu und lachte frech. Einmal mehr war Max der Verlierer.
Beim einhundertsechzehnten Mal hatte Max eine andere Idee. Da sein letzter Fahrgast immer bis zur Endstation fuhr, ignorierte er einfach das Leuchten des Stoppsignals. Er hielt an der Endstation, der Andere stieg aus, noch immer frech grinsend. Ja, er hatte ein Mittel gegen das dreiste Verhalten gefunden. Das glaubte Max zumindest. Bis er am Abend wieder in den Busbahnhof einfuhr. Sein Chef rief ihn zu sich: „Max, ein Fahrgast hat sich gerade über sie beschwert. Sie haben mehrfach Stoppsignale ignoriert und sind an Haltestellen vorbeigefahren. Wegen ihnen musste ein Kunde gegen seinen Willen bis zur Endstation fahren.“ Alle seine Rechtfertigungen nützten Max nichts. Sein Chef drohte, ihn auf eine andere Route zu versetzen, falls es noch weitere Reklamationen geben würde. „Krieg die Probleme mit deinen Fahrgästen gefälligst so geregelt, dass keine Beschwerden mehr kommen“, sagte er zu Max. Und zum Abschied rief er ihm nach: „Und komm nicht auf die blöde Idee die Polizei zu rufen, die ist auch schon von dir genervt!“ Also gut, sagte sich Max, er würde die Stoppsignale morgen wieder beachten.
Am nächsten Morgen kündigte sich der Winter mit Nässe und Nebel an. Max hatte Kopfschmerzen. und dachte über die Drohung seines Chefs nach, ihn auf eine neue Route zu versetzen. Ihn versetzen! Den Fahrer von Route zwölf! Gut, er musste anhalten, wollte er seine Route und sein Job behalten. Aber was sollte er tun? Sich weiter terrorisieren lassen? Max hatte vor Wut, Angst und Hilflosigkeit die ganze Nacht fast nicht geschlafen. Max wollte nicht viel. Er wollte nur was ihm zustand: Respekt. Aber den verweigerte der Andere ihm. Er hasste diese schmierige Gestalt, die ihn ohne jeden Respekt behandelte. Als Max am Nachmittag seine Schicht begann und auf seinem Fahrersitz Platz nahm, wusste er noch immer nicht, was er tun sollte.
Wie immer stieg der Andere am Hauptbahnhof ein. Und wie immer hielt er seine Bierdose in der Hand, wie immer bewegte er sich zielstrebig auf die Rückbank zu und machte sich dort breit. Immer dasselbe Verhalten, Max wurde so nervös, dass ihm sogar zweimal das Wechselgeld herunterfiel, das er einem Fahrgast herausgeben wollte. Weitere Fahrgäste stiegen zu. Max beobachte den Anderen im Innenspiegel. Der grinste, als ob er von dem Ärger wusste, den Max mit seinem Chef bekommen hatte. Sie belauerten sich. Draußen war es kalt, die Heizung lief auf Hochtouren. Ein erster Schneeregen ging nieder. Die vielen Menschen schwitzten in ihrer warmen Winterkleidung. Zuerst beschlugen sich die Seitenfenster, dann auch der Innenspiegel Max konnte den Anderen nicht mehr sehen. Aber er wollte sich auch nicht umdrehen, nein, eine solche Blöße wollte er sich nicht geben.
Der Bus erreichte die Stadtgrenze. Die ersten Menschen stiegen aus. Nach einigen Minuten hatte die Belüftungsanlage die Fenster und den Innenspiegel wieder frei geblasen. Der Andere saß noch immer hinten. Frech prostete er Max im Spiegel zu. Einige Stationen weiter stiegen die nächsten Fahrgäste aus. Langsam leerte sich der Bus. Noch ein paar Stationen, dann würde Max alleine mit dem Anderen sein. Sie passierten denn Friedhof. Nur noch fünf Personen saßen im Bus als er die Stadt verließ. Am Dorfplatz von Neuburg stiegen die restlichen Fahrgäste aus. Außer dem Anderen.
Sie fuhren den Fluss entlang, dichter Nebel zwang Max zum drosseln des Tempos. Nach wenigen Sekunden leuchtete schon das Stoppsignal auf seinem Armaturenbrett. Das rote Licht brannte sich in sein Hirn. Max spürte jeden Herzschlag, er fühlte ein leichtes Hämmern in seinem Kopf. Es ging also wieder los.
Nach wenigen Kilometern erreichten sie Regensdorf. Max hielt vorschriftsmäßig an der Haltestelle an. Wieder stieg der Andere nicht aus. Kaum fuhr er los, brannte wieder das rote Licht. Mit jedem erneuten Aufleuchten wurde das Hämmern in seinem Kopf etwas stärker. Das rote Licht auf seiner Armatur störte ihn, es drang schmerzhaft in ihn ein. Über den Innenspiegel sah er das Grinsen des Anderen. Max wusste er, dass er die Fahrt jetzt zu Ende bringen musste. Er hasste diese Ratte, die in bei seinem Chef denunziert hatte. Mit jedem neuerlichen Erscheinen des Rotlichts steigerte sich der Druck in seinem Schädel. Ja, mit jedem neuen roten Licht würde sein Kopf ein Stück wachsen, wie ein roter Luftballon, der irgendwann explodierte. Max beschleunigte den Bus, bis er ihn auf der Mitte einer Brücke zum Halten brachte. Ganz unvorschriftsmäßig. Sein Schädel stand kurz vor der Explosion. Der Andere schaute verwundert nach vorne. Max blickte nach oben, auf den roten Nothammer, der über seinem Platz hing. Jetzt war ein Notfall! Mit einem Griff riss er den Hammer aus der Halterung. Er lag gut in der Hand. Max sprang auf, ging mit großen schnellen Schritten auf seinen letzten Fahrgast zu und fixierte ihn mit einem starren Blick. Das freche Grinsen verschwand gänzlich aus seinem Gesicht. Zuerst war der Andere etwas verunsichert. Schnell fasste er sich aber wieder und sagte: „Fahr weiter Arschloch!“
„Du willst also, dass ich stoppe? In Ordnung, jetzt ist Stopp“, schrie Max. „Stopp, Stopp, da hast du deinen verschissenen Stopp“, und während er brüllte, ließ er den Hammer auf den Kopf des Anderen sausen. Immer wieder traf er mit der golden glänzenden Spitze den Schädel. Er bearbeitete den Kopf seines letzten Fahrgasts wie ein Metzger, der ein Schweineschnitzel flach klopft. Mit jedem Schlag ließ der Druck in seinem Schädel nach. Der Andere hielt zuerst noch die Hände schützend vor sein Gesicht, irgendwann verließen ihn aber seine Kräfte und seine Arme fielen zur Seite. Langsam ging sein Schreien in ein leises Wimmern über, bis es ganz verstummte. Blut vermischte sich mit dem Bier am Boden. Als Max keinen Widerstand mehr fühlte und unter der Hammerspitze nur noch warmer Brei zur Seite spritzte, hörte er irgendwann auf. Er nahm den leblosen Körper, schleppte ihn an die Tür und öffnete sie. Unter ihm auf der anderen Seite des Brückengeländers trieben träge Nebelfetzen auf dem Fluss. „Du wolltest aussteigen?“, keuchte. „Also gut, jetzt steigst du aus!“
© 2005 Frank Liebermann
DER LETZTE FAHRGAST [Release 3.0]
Max der Busfahrer liebte die Gleichförmigkeit. Jeden Tag fuhr er in seinem roten Bus die gleiche Route. Seit nun fast zweiundzwanzig Jahren. Immer wenn er sie wechseln sollte, machte er einen solchen Terz, dass es kein Vorgesetzter wagte, ihn auf eine andere Strecke zu versetzen. Seine Chefs wechselten, auch die Kollegen, aber Max konnte auf seiner Route bleiben. Auch sonst liebte Max die Abwechslung nicht. In seiner Freizeit besuchte er immer die gleiche Dorfkneipe, bestellte das Gleiche zu essen und zu trinken und redete mit seinen Bekannten über die immer gleichen Themen. Wenn sie ihn nicht gerade wieder einmal hänselten - wegen seiner Stirnglatze, seinem Bauch und weil er mit fast fünfzig noch immer bei seiner Mutter wohnte und keine Freundin hatte. An die Späße hatte er sich schon gewöhnt, waren sie doch kaum abwechslungsreicher als seine Arbeit.
Max hasste Veränderungen. Früher zog seine Familie alle drei Jahre um, da sein Vater als Offizier bei der Bundeswehr gedient hatte und die Versetzungen immer mit Beförderungen verbunden waren. Für Max war das der blanke Horror gewesen. Neue Schulen mit neuen Lehrern, neue Mitschüler, eine neue Umgebung, alles war ihm damals fremd Da er schon als Kind klein, dick und unsicher war, hänselten und verprügelten ihn seine Klassenkameraden regelmäßig. Kaum hatte er neue Freunde gefunden, und das kam selten genug vor, musste er schon wieder umziehen. Daher hielt sich auch seine Trauer sehr in Grenzen, als sein autoritärer Vater, mit dem er sich eh nicht gut verstand, bei einem Autounfall ums Leben kam. Max dachte damals nur: endlich hat die Umzieherei ein Ende. Zwar fand er noch immer keine wirklichen Freunde, aber er kannte sein Umfeld, wusste, wer die netten, gleichgültigen oder bösartigen Menschen waren. Entsprechend konnte er sich zu verhalten. Mit den netten und gleichgültigen redete er, den bösartigen ging er aus dem Weg. Monotonie bedeutete Kontrolle. Solange die Dinge ihren gewohnten Lauf nahmen, hatte er jede Situation im Griff.
Deshalb liebte er seinen Job als Busfahrer. Hier hatte er alles unter Kontrolle. Wenn er mit seiner frisch gebügelten dunkelblauen Fahreruniform hinter dem Lenkrad saß, waren alle freundlich zu ihm und zeigten Respekt. Sein Hemd hatte nie Falten oder Flecken, die Hose zierte eine ordentliche Bügelfalte, die seine Mutter jeden Abend auffrischte. Im Bus hatte er das Sagen, niemand durfte ihn verspotten oder ärgern. Er war der Fahrer der Route zwölf. Nicht, dass diese Route etwas Besonderes gewesen wäre, aber es war seine Route. Er kam immer pünktlich zum Dienst, fuhr nie zu früh oder zu spät an seinen Haltestellen ab - außer wenn es Schnee, Unfälle oder einen Stau gab. Aber dafür konnte er nichts. Wie ein Tiger kontrollierte er sein Revier, Eindringlinge hatten keine Chance. Oft sammelte er in seiner Pause die zurückgebliebenen Getränkedosen, gebrauchte Papiertaschentücher, leere Zigarettenschachtel und den sonstigen Müll ein. Mit Nagellackentferner entfernte er selbst die widerlichsten Schmierereien, denn sein Bus musste immer ordentlich und sauber sein. Jeder Schmutz, jede Zerstörung und jedes unanständige Benehmen trafen ihn persönlich. Wenn Teenies ihren Abfall auf den Boden warfen, Geschrei veranstalteten oder mit dicken Filzstiften Sprüche auf die Sitze schrieben, wies Max sie entschlossen zurecht. Wurden sie frech zu ihm, rief er die Polizei, die ihn schon bestens kannte. Angeblich rief kein Fahrer so oft die Polizei wie er. Meist waren die Jugendlichen dann schon über alle Berge, aber das machte Max nichts aus, schließlich glaubte er, dass sie alle als potenzielle Arbeitslose, Drogenabhängige oder andere Versager enden würden.
Seine Fahrgäste kannte Max fast alle. Er wusste wo sie einstiegen und wo sie den Bus wieder verließen. Manche kannte er mit Namen, manche erkannte er an ihren Kleidern und an ihren ewig gleichen Gewohnheiten. Er grüßte sie freundlich, führte ab und zu einen kleinen Smalltalk und Hunde von alten Damen ließ er gelegentlich umsonst mitfahren - obwohl für diese der halbe Fahrpreis fällig gewesen wäre. Max liebte seine Arbeit. So wie ein Kapitän sein Schiff über die stürmische See manövrierte, so stellte sich Max vor, steuerte er seinen Bus durch die wilden Wogen des unberechenbaren Straßenverkehrs, in dem alle möglichen Gefahren lauerten.
Alles war gut. Bis zu jenem Tag, an dem der Andere zum ersten Mal seinen Bus bestieg. Er hatte schwarze Haare, die sich lang und fettig über seine Schultern kringelten. Am herausgewachsenen Ansatz konnte man erkennen, dass er sie gefärbt hatte. Er war klein und schlank und trug immer einen abgewetzten Parka und grobe Schuhe, die er meist nicht zugebunden hatte. Schätzungsweise hatte er dreißig Jahre auf dem Buckel, hielt immer eine Dose Bier in der Hand und setzte sich stets nach ganz hinten in den Bus. Da er am Bahnhof meist als erster in den leeren Bus einstieg, konnte er sich fast jedes Mal auf die leere Rückbank lümmeln. Wenn er dort saß, mieden die anderen Fahrgäste diesen Teil des Busses.
Der Auftritt des Anderen glich in seinem immer gleichen Ablauf einem Ritual. Nachdem er seinen Platz besetzt hatte, starrte er in den Innenspiegel des Busses, bis sich sein Blick mit dem von Max kreuzte. Dann grinste er frech, prostete Max frech mit seiner Dose zu, wandte seinen Blick ab und schaute aus dem Fenster. Er tat so, als ob der Bus ihm gehörte, als ob er einen Anspruch auf den Platz auf der Rückbank hätte. Mit seinem Bundeswehrucksack blockierte er einen Sitzplatz, mit seinen Beinen, die er breit ausstreckte, die restlichen.
Der Andere verhielt sich immer gleich. Eigentlich hätte Max das mögen müssen, war er ihm doch dadurch sehr ähnlich.
Vom Bahnhof bis zum Stadtzentrum stiegen fast nur Leute zu. Erst Richtung stadtauswärts verließen die Ersten wieder den Bus und je weiter es in Richtung Land ging, desto weniger Fahrgäste blieben übrig. Die letzten fünf Stationen fuhr Max seine Tour fast immer alleine. Bis der Andere in Erscheinung getreten war. Er fuhr jedes Mal bis zur Endstation. Das hätte Max nicht weiter gestört, vermutlich hätte er es nicht einmal bemerkt, wenn der Andere sich nicht immer gleich auffällig verhalten hätte. Sobald beide alleine im Bus waren, ging es los. Der Andere drückte auf jeder der letzten Stationen die Stopptaste – immer! Die Anzeige „Wagen hält“ leuchtete im Wagen und bei Max auf dem Armaturenbrett auf. Und Max hielt an. Aber nie verließ der Andere den Bus. Anfangs war Max noch verunsichert. Stimmte etwas mit dem Bus nicht? Die Überprüfung durch die Mechaniker ergab, dass alles in bester Ordnung war.
Die Vorschrift sagte, dass er anhalten musste, wenn keine Störung der Anzeige vorlag. Max begann seinen letzten Fahrgast zu beobachten. In seinem Innenspiegel kontrollierte er, wie der Andere ganz schamlos, ohne jede Spur von Versteckspiel, die Stopptaste drückte. Also hielt Max an. Der Andere stieg nie aus. Max ärgerte zunehmend. Und je mehr er sich das anmerken ließ, desto mehr schien sich der Andere zu freuen. Fröhlich nippte er an seinem Bier, spielte mit dem Handy oder grinste einfach nur frech. Nicht still für sich. Er grinste immer in Richtung Innenspiegel. Er sah, dass Max ihn beobachtete, und schien zu wissen, dass es ihn ärgerte. Das war dem Anderen aber egal. Nein, nicht egal, es bereitete ihm sichtlich eine riesige Freude, wenn er Max vor Wut kochen sah. Kaum, dass die Tür zu war und die Fahrt fortgesetzt wurde, drückte der Andere wieder auf die Stopptaste. An der Endstation prostete er mit seiner Bierdose Max über den Innenspiegel feixend zu, stieg grußlos aus und verschwand im Dunkel der Nacht.
Max überlegte sich, ob er den Anderen zur Rede stellen sollte. Aber was sollte er sagen? Beim zweiundsechzigsten Mal war es dann soweit. Wieder befanden sie sich nur noch zu zweit im Bus. Im Innenspiegel hatte er genau beobachtet, wie der Andere lässig die Stopptaste drückte. Max ging nach hinten und sprach ihn an: „Sie haben die Stopptaste gedrückt!“ Der Andere grinste und sagte einfach: „Nein, da musst du dich täuschen.“ Fassungslos wusste Max nicht, was er machen sollte. Was wagte dieser Typ nur. Nicht nur dass er ihn duzte wie ein Erwachsener ein kleines Kind, nein er stritt schlichtweg einfach alles ab! Max war so empört, dass er keinen weiteren Satz mehr herausbrachte. Nachdem er einige Sekunden versucht etwas zu sagen, stammelte er nur: „Ich habe aber gesehen, dass sie den Knopf gedrückt haben.“ Lapidar antwortete der Andere, „Nö, du halluzinierst wohl.“ Zitternd vor Wut und gedemütigt ging er wieder vor zu seinem Fahrersitz. „Und jetzt schleich dich nach Vorne und fahr weiter“, hörte er den Anderen von hinten rufen. Kaum, dass er losgefahren war, blinkte das Licht „Wagen hält“ wieder auf. Er unterdrückte seine Wut, hielt an der nächsten Station an, öffnete die Tür, schloss sie wieder und fuhr weiter, während der Andere wieder grinste, noch eine Spur unverschämter als sonst. So ging das bis zur Endstation. Dann stieg der Andere aus, prostete ihm zu und lachte frech. Einmal mehr war Max der Verlierer.
Beim einhundertsechzehnten Mal hatte Max eine andere Idee. Da sein letzter Fahrgast immer bis zur Endstation fuhr, ignorierte er einfach das Leuchten des Stoppsignals. Er hielt an der Endstation, der Andere stieg aus, noch immer frech grinsend. Ja, er hatte ein Mittel gegen das dreiste Verhalten gefunden. Das glaubte Max zumindest. Bis er am Abend wieder in den Busbahnhof einfuhr. Sein Chef rief ihn zu sich: „Max, ein Fahrgast hat sich gerade über sie beschwert. Sie haben mehrfach Stoppsignale ignoriert und sind an Haltestellen vorbeigefahren. Wegen ihnen musste ein Kunde gegen seinen Willen bis zur Endstation fahren.“ Alle seine Rechtfertigungen nützten Max nichts. Sein Chef drohte, ihn auf eine andere Route zu versetzen, falls es noch weitere Reklamationen geben würde. „Krieg die Probleme mit deinen Fahrgästen gefälligst so geregelt, dass keine Beschwerden mehr kommen“, sagte er zu Max. Und zum Abschied rief er ihm nach: „Und komm nicht auf die blöde Idee die Polizei zu rufen, die ist auch schon von dir genervt!“ Also gut, sagte sich Max, er würde die Stoppsignale morgen wieder beachten.
Am nächsten Morgen kündigte sich der Winter mit Nässe und Nebel an. Max hatte Kopfschmerzen. und dachte über die Drohung seines Chefs nach, ihn auf eine neue Route zu versetzen. Ihn versetzen! Den Fahrer von Route zwölf! Gut, er musste anhalten, wollte er seine Route und sein Job behalten. Aber was sollte er tun? Sich weiter terrorisieren lassen? Max hatte vor Wut, Angst und Hilflosigkeit die ganze Nacht fast nicht geschlafen. Max wollte nicht viel. Er wollte nur was ihm zustand: Respekt. Aber den verweigerte der Andere ihm. Er hasste diese schmierige Gestalt, die ihn ohne jeden Respekt behandelte. Als Max am Nachmittag seine Schicht begann und auf seinem Fahrersitz Platz nahm, wusste er noch immer nicht, was er tun sollte.
Wie immer stieg der Andere am Hauptbahnhof ein. Und wie immer hielt er seine Bierdose in der Hand, wie immer bewegte er sich zielstrebig auf die Rückbank zu und machte sich dort breit. Immer dasselbe Verhalten, Max wurde so nervös, dass ihm sogar zweimal das Wechselgeld herunterfiel, das er einem Fahrgast herausgeben wollte. Weitere Fahrgäste stiegen zu. Max beobachte den Anderen im Innenspiegel. Der grinste, als ob er von dem Ärger wusste, den Max mit seinem Chef bekommen hatte. Sie belauerten sich. Draußen war es kalt, die Heizung lief auf Hochtouren. Ein erster Schneeregen ging nieder. Die vielen Menschen schwitzten in ihrer warmen Winterkleidung. Zuerst beschlugen sich die Seitenfenster, dann auch der Innenspiegel Max konnte den Anderen nicht mehr sehen. Aber er wollte sich auch nicht umdrehen, nein, eine solche Blöße wollte er sich nicht geben.
Der Bus erreichte die Stadtgrenze. Die ersten Menschen stiegen aus. Nach einigen Minuten hatte die Belüftungsanlage die Fenster und den Innenspiegel wieder frei geblasen. Der Andere saß noch immer hinten. Frech prostete er Max im Spiegel zu. Einige Stationen weiter stiegen die nächsten Fahrgäste aus. Langsam leerte sich der Bus. Noch ein paar Stationen, dann würde Max alleine mit dem Anderen sein. Sie passierten denn Friedhof. Nur noch fünf Personen saßen im Bus als er die Stadt verließ. Am Dorfplatz von Neuburg stiegen die restlichen Fahrgäste aus. Außer dem Anderen.
Sie fuhren den Fluss entlang, dichter Nebel zwang Max zum drosseln des Tempos. Nach wenigen Sekunden leuchtete schon das Stoppsignal auf seinem Armaturenbrett. Das rote Licht brannte sich in sein Hirn. Max spürte jeden Herzschlag, er fühlte ein leichtes Hämmern in seinem Kopf. Es ging also wieder los.
Nach wenigen Kilometern erreichten sie Regensdorf. Max hielt vorschriftsmäßig an der Haltestelle an. Wieder stieg der Andere nicht aus. Kaum fuhr er los, brannte wieder das rote Licht. Mit jedem erneuten Aufleuchten wurde das Hämmern in seinem Kopf etwas stärker. Das rote Licht auf seiner Armatur störte ihn, es drang schmerzhaft in ihn ein. Über den Innenspiegel sah er das Grinsen des Anderen. Max wusste er, dass er die Fahrt jetzt zu Ende bringen musste. Er hasste diese Ratte, die in bei seinem Chef denunziert hatte. Mit jedem neuerlichen Erscheinen des Rotlichts steigerte sich der Druck in seinem Schädel. Ja, mit jedem neuen roten Licht würde sein Kopf ein Stück wachsen, wie ein roter Luftballon, der irgendwann explodierte. Max beschleunigte den Bus, bis er ihn auf der Mitte einer Brücke zum Halten brachte. Ganz unvorschriftsmäßig. Sein Schädel stand kurz vor der Explosion. Der Andere schaute verwundert nach vorne. Max blickte nach oben, auf den roten Nothammer, der über seinem Platz hing. Jetzt war ein Notfall! Mit einem Griff riss er den Hammer aus der Halterung. Er lag gut in der Hand. Max sprang auf, ging mit großen schnellen Schritten auf seinen letzten Fahrgast zu und fixierte ihn mit einem starren Blick. Das freche Grinsen verschwand gänzlich aus seinem Gesicht. Zuerst war der Andere etwas verunsichert. Schnell fasste er sich aber wieder und sagte: „Fahr weiter Arschloch!“
„Du willst also, dass ich stoppe? In Ordnung, jetzt ist Stopp“, schrie Max. „Stopp, Stopp, da hast du deinen verschissenen Stopp“, und während er brüllte, ließ er den Hammer auf den Kopf des Anderen sausen. Immer wieder traf er mit der golden glänzenden Spitze den Schädel. Er bearbeitete den Kopf seines letzten Fahrgasts wie ein Metzger, der ein Schweineschnitzel flach klopft. Mit jedem Schlag ließ der Druck in seinem Schädel nach. Der Andere hielt zuerst noch die Hände schützend vor sein Gesicht, irgendwann verließen ihn aber seine Kräfte und seine Arme fielen zur Seite. Langsam ging sein Schreien in ein leises Wimmern über, bis es ganz verstummte. Blut vermischte sich mit dem Bier am Boden. Als Max keinen Widerstand mehr fühlte und unter der Hammerspitze nur noch warmer Brei zur Seite spritzte, hörte er irgendwann auf. Er nahm den leblosen Körper, schleppte ihn an die Tür und öffnete sie. Unter ihm auf der anderen Seite des Brückengeländers trieben träge Nebelfetzen auf dem Fluss. „Du wolltest aussteigen?“, keuchte. „Also gut, jetzt steigst du aus!“
© 2005 Frank Liebermann