Tom Bosbach schenkte den vielen Gesprächen, die sich darum drehten, warum seine Mutter so war, wie sie war, wenig Beachtung. Er verstand sie ja selbst nicht und alle Versuche, herauszufinden, warum sie eines Abends nackt bis auf einen Schal in den IC Richtung Augsburg stieg, schlugen ebenso fehl wie die Anstrengung, den Vorfall zu vergessen.
Toms Mutter hieß Lilian und jeder – außer Tom selbst – nannte sie Lilly oder Lia mit lang gezogenem „i“. Sie hasste beide Varianten aber liebte alles, was verhalten malachit glänzte. So wie der Schal, an den sich Tom mehr als alles andere erinnerte, als seine Mutter mit der Polizei in der Tür stand und wortlos an ihm und seinem Vater vorbeirauschte. Dabei bewegte sie sich in ihrer Nacktheit so selbstverständlich, dass sie vollständig bekleidet wirkte.
Ohne Eile schritt sie die Stufen zu ihrem Zimmer hinauf und wie immer machten ihre Füße auf dem alten Holz kein Geräusch. Tom war das ein Rätsel. Schon oft hatte er versucht, ebenso geräuschlos die Treppe hinaufzusteigen, klang aber immer wie jemand, der unter keinen Umständen ein Geräusch verursachen wollte.
Lilian hielt inne, blickte über ihre Schulter zurück und maß das schweigsame Grüppchen an der Haustür mit einem nachdenklichen Blick. Dann taxierte sie den Kronleuchter. Unweigerlich taxierten alle den Kronleuchter, und Tom fragte sich, ob dieses kristallene Ungetüm, das schon seit Jahren über den gemeinsamen Mahlzeiten schwebte, darüber hinaus aber kaum beachtet wurde, jemals zuvor so viel Aufmerksamkeit erfahren hatte. Schon immer wollte Lilian den Kronleuchter loswerden, aber jede in diese Richtung gehende Diskussion würgte Toms Vater mit den Worten „Lia, er ist vierundvierzigflammig!“ ab. Aus Richard Bosbachs Mund klang das so unangreifbar wie die ärztliche Ankündigung „Es ist ein Tumor!“. Tom schloss daraus, dass erst eine Flamme mehr oder weniger den Kronleuchter endgültig seiner Daseinsberechtigung entheben würde. Bis dahin war er unantastbar und fraß sich nach Lilians Ansicht tatsächlich wie ein großes Krebsgeschwür durch den häuslichen Frieden.
Langsam wickelte Lilian sich den malachitfarbenen Schal vom Hals und richtete ihn auf den Kronleuchter, so, als wolle sie ihn erschießen. „Lia!“, hauchte Richard vorwurfsvoll, und es war nicht klar, ob sein Tadel ihrer so offen zur Schau gestellten Verachtung oder ihrer Blöße galt, die ohne Schal mehr und mehr an Kontur gewann. „Lia!“, sagte er etwas lauter, trat an den Fuß der Treppe und hob seine Hand, unschlüssig, ob er sie damit bannen oder ihr einfach zuwinken wollte. Lilian beachtete ihn nicht. Sie wandte den Blick ab und schritt die letzten Stufen hinauf. Nie zuvor war sie Tom schöner vorgekommen: Das Haar floss ihr wie schwarzer Samt über den schlanken Rücken, die schmale Taille mündete in rundliche, aber feste Hüften. Die vollen Brüste schimmerten im Halbschatten weiß; ihr leichtes Wogen war nur zu erahnen. Oben angekommen ließ sie den Schal achtlos fallen und verschwand um die Ecke.
„Sie meint es nicht so“, erklärte Toms Vater den Polizeibeamten. Sie starrten Lilian mit offenem Mund nach. „Sie meint es nicht so“, sagte er wenig später auch zu Tom, tätschelte ihm beiläufig den Kopf und zog sich mit seinem irischen Tullamore-Dew-Whiskey in sein Arbeitszimmer zurück, aus dem bis zum frühen Morgen Bachs geistliche Kantaten erklangen. In jener Nacht hob Tom den Schal auf und versteckte ihn in seinem Zimmer. Lilian vermisste ihn nicht. Vielleicht wollte sie ihn auch nicht mehr. Welchem Zweck auch immer er gedient hätte – wie die fehlgeschlagene Fahrt nach Augsburg schien auch der Schal für sie der Vergangenheit anzugehören.
Nicht so für die Leute. Das Thema wurde hingebungsvoll in der Nachbarschaft erörtert. Von ihrem „Aufzug“ war die Rede, nie aber von ihrer Nacktheit, Als wäre allein der malachitfarbene Schal skandalträchtiger als der Busen, den zu bedecken er nur leidlich nachgekommen war.
„Sie meinte es nicht so“, erklärte Tom überall, wo vom „Aufzug“ seiner Mutter die Rede war. Mehr war aus ihm nicht herauszuholen. Er war ein schweigsamer Junge, der im Winter während des Unterrichts seinen Mantel anbehielt und in den Pausen nachdenklich auf seinem Sandwich herumkaute. Eine unheilvolle Aura umgab ihn, an der er selbst keine Schuld trug. Man machte einen großen Bogen um ihn, so, als habe er die Nacktheit seiner Mutter geerbt, und tatsächlich wirkte er selbst im Mantel unbekleideter als Lilian im Schal auf dem Weg nach Augsburg. Jene unheilvolle Aura und das nachdenkliche Kauen weckten schließlich meine Neugier. „Wie meinte sie es denn?“ fragte ich ihn eines Tages auf dem Schulhof. Es erschien mir ehrlicher, ohne Umschweife gleich zur Sache zu kommen. Schneeflocken wirbelten um uns herum. Tom sah von seinem Sandwich auf. Sein Atem gefror zu einer Dampfwolke. „Frag sie doch selbst!“, sagte er und zeichnete mit seinem Schuh eine Horizontale in die dünne Schneedecke, so als wolle er damit endgültig einen Schlussstrich unter die ganze Angelegenheit ziehen. „Wann?“, fragte ich und malte ein Fragezeichen unter die Horizontale. Tom grinste. „Wann immer du willst.“ In jenem Winter wurden wir Freunde.
„Schön, dass du mal Jemanden mit nach Hause bringst, Junge“, sagte Toms Vater und schüttelte mir die Hand. Über seinem Anzug trug er eine dicke Strickjacke. In der linken Hand hielt er eine Lesebrille. Er wirkte müde und hatte tiefe Augenringe, die seinen Blick wie eine umgekippte schwarze 8 umwölkten. Draußen ging ein Schneesturm nieder und das ganze Haus war unterkühlt. „Dein Freund bleibt doch zum Abendessen?“, fragte er. Unsicher blickte ich von ihm zu Tom, der mich bereits in Richtung Treppe zog. „Klar bleibt er“, antwortete er an meiner Stelle und nickte mir zu. „Na, dann macht euch mal ein schönes Feuer, Jungs.“ Richard Bosbach zog den Reißverschluss seiner Strickjacke zu und ging in sein Arbeitszimmer. Von innen verschloss er sorgfältig die Tür. „Warum schließt er sich ein?“, fragte ich. „Hm, er will seine Ruhe.“ Ich lachte. „Aber hier ist es stiller als auf einem Friedhof. Und kalt.“ „Das kann täuschen“, antwortete Tom und ging die Stufen hinauf. „Kommst du nun mit oder nicht?“. Ich folgte ihm und betrat die in der ganzen Nachbarschaft berühmt gewordene Treppe. Den Gerüchten zufolge hatte Lilian hier splitternackt gestanden und versucht, sich mit ihrem Schal am Kronleuchter zu erhängen. Dazu hätte sie aber mindestens fünf Meter durch die Luft fliegen müssen. Es war unmöglich, das Ding von der Treppe aus zu erreichen. „Willst du da Wurzeln schlagen?“, fragte Tom, der bereits oben angekommen war. „Nein“, beeilte ich mich zu sagen und schob fürs Erste meine Neugier beiseite. „Wie meinte er das mit dem Feuer?“, fragte ich. Tom führte mich durch einen schmalen dunklen Korridor. Ein weinfarbener Teppich verschluckte unsere Schritte. „Warts ab“, sagte er und öffnete eine Tür.
Weitaus bemerkenswerter als die Augenringe seines Vaters war Toms Zimmer. Es hatte Dachschrägen und an der Nordseite zur Terrasse hin eine imposante Fensterfront mit Blick auf den verschneiten Wald. Der große offene Kamin, die säuberlich gestapelten Holzscheite und das schmiedeeiserne Kaminbesteck ließen keinen Zweifel daran, dass Richard Bosbach keinen Witz gemacht hatte. „Na, willst du das Feuer anmachen?“, fragte Tom und drückte mir zerknülltes Zeitungspapier in die Hand. Meine Begeisterung schien ihn zu belustigen. „Ja, klar“, sagte ich und löste meinen Blick von dem Bücherregal, das eine gesamte Wandseite einnahm. „Willst du die alle noch lesen?“, überspielte ich mein Unvermögen, das Feuer richtig in Gang zu bringen. „Hab ich schon längst“, bemerkte Tom knapp. „Und wieso versuchst du es nicht erst mit ein paar dünnen Spänen? Die Scheite kommen später.“ „Ich kenne mit damit nicht aus“, gab ich etwas beleidigt zurück. „Wir haben keinen Kamin.“ Tom hockte sich neben mich. „Komm, ich zeigs dir“, sagte er. Ein paar Handgriffe später knisterte ein kleines Feuer im Kamin. Ich blickte aus dem Fenster. Das Schneetreiben war stärker geworden und verwischte die Konturen des Waldes. „Ich mag dieses Geräusch“, sagte Tom nach einer Weile und wies auf das Feuer. „Nun ja, es knistert“, antwortete ich. „Ja, aber klingt es zu Anfang nicht so wie wenn ein Gemälde versucht, aus dem Rahmen zu klettern?“ Ich zuckte die Schultern. „So genau habe ich noch nicht hingehört.“ Tom seufzte. „Dann höre jetzt mal hin!“ Lange Zeit war es still. Ich starrte auf die Flammen und versuchte mir ein Gemälde vorzustellen, das lebendig geworden war und angestrengt versuchte, aus dem Rahmen zu rascheln. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und begann zu lachen. Tom blickte mich tadelnd an. Ich verlor vollends die Beherrschung. Jemand klopfte an die Tür. „Tom? Tom, wen hast du da bei dir? Wer lacht da so schamlos?“ Augenblicklich war ich still. Da draußen stand sie also. Lilian Bosbach, deren Name nach nunmehr einem Jahr noch in aller Munde war. Und nichts als eine Tür trennte sie von mir und meiner Neugierde, die zugegebenermaßen gerade in eine Mischung aus Aufregung und Furcht umschlug. „Nur ein Freund, Mama“, rief Tom. "Ein Freund also. Nun denn, ich will ihn ansehen!", forderte Lilian. Dann verstummte die Stimme hinter der Tür. Tom schien meine Nervosität zu bemerken. "Entspann' dich, Mann, sie kommt hier nie rein", flüsterte er und legte einen Scheit nach.
Fortsetzung folgt...
Toms Mutter hieß Lilian und jeder – außer Tom selbst – nannte sie Lilly oder Lia mit lang gezogenem „i“. Sie hasste beide Varianten aber liebte alles, was verhalten malachit glänzte. So wie der Schal, an den sich Tom mehr als alles andere erinnerte, als seine Mutter mit der Polizei in der Tür stand und wortlos an ihm und seinem Vater vorbeirauschte. Dabei bewegte sie sich in ihrer Nacktheit so selbstverständlich, dass sie vollständig bekleidet wirkte.
Ohne Eile schritt sie die Stufen zu ihrem Zimmer hinauf und wie immer machten ihre Füße auf dem alten Holz kein Geräusch. Tom war das ein Rätsel. Schon oft hatte er versucht, ebenso geräuschlos die Treppe hinaufzusteigen, klang aber immer wie jemand, der unter keinen Umständen ein Geräusch verursachen wollte.
Lilian hielt inne, blickte über ihre Schulter zurück und maß das schweigsame Grüppchen an der Haustür mit einem nachdenklichen Blick. Dann taxierte sie den Kronleuchter. Unweigerlich taxierten alle den Kronleuchter, und Tom fragte sich, ob dieses kristallene Ungetüm, das schon seit Jahren über den gemeinsamen Mahlzeiten schwebte, darüber hinaus aber kaum beachtet wurde, jemals zuvor so viel Aufmerksamkeit erfahren hatte. Schon immer wollte Lilian den Kronleuchter loswerden, aber jede in diese Richtung gehende Diskussion würgte Toms Vater mit den Worten „Lia, er ist vierundvierzigflammig!“ ab. Aus Richard Bosbachs Mund klang das so unangreifbar wie die ärztliche Ankündigung „Es ist ein Tumor!“. Tom schloss daraus, dass erst eine Flamme mehr oder weniger den Kronleuchter endgültig seiner Daseinsberechtigung entheben würde. Bis dahin war er unantastbar und fraß sich nach Lilians Ansicht tatsächlich wie ein großes Krebsgeschwür durch den häuslichen Frieden.
Langsam wickelte Lilian sich den malachitfarbenen Schal vom Hals und richtete ihn auf den Kronleuchter, so, als wolle sie ihn erschießen. „Lia!“, hauchte Richard vorwurfsvoll, und es war nicht klar, ob sein Tadel ihrer so offen zur Schau gestellten Verachtung oder ihrer Blöße galt, die ohne Schal mehr und mehr an Kontur gewann. „Lia!“, sagte er etwas lauter, trat an den Fuß der Treppe und hob seine Hand, unschlüssig, ob er sie damit bannen oder ihr einfach zuwinken wollte. Lilian beachtete ihn nicht. Sie wandte den Blick ab und schritt die letzten Stufen hinauf. Nie zuvor war sie Tom schöner vorgekommen: Das Haar floss ihr wie schwarzer Samt über den schlanken Rücken, die schmale Taille mündete in rundliche, aber feste Hüften. Die vollen Brüste schimmerten im Halbschatten weiß; ihr leichtes Wogen war nur zu erahnen. Oben angekommen ließ sie den Schal achtlos fallen und verschwand um die Ecke.
„Sie meint es nicht so“, erklärte Toms Vater den Polizeibeamten. Sie starrten Lilian mit offenem Mund nach. „Sie meint es nicht so“, sagte er wenig später auch zu Tom, tätschelte ihm beiläufig den Kopf und zog sich mit seinem irischen Tullamore-Dew-Whiskey in sein Arbeitszimmer zurück, aus dem bis zum frühen Morgen Bachs geistliche Kantaten erklangen. In jener Nacht hob Tom den Schal auf und versteckte ihn in seinem Zimmer. Lilian vermisste ihn nicht. Vielleicht wollte sie ihn auch nicht mehr. Welchem Zweck auch immer er gedient hätte – wie die fehlgeschlagene Fahrt nach Augsburg schien auch der Schal für sie der Vergangenheit anzugehören.
Nicht so für die Leute. Das Thema wurde hingebungsvoll in der Nachbarschaft erörtert. Von ihrem „Aufzug“ war die Rede, nie aber von ihrer Nacktheit, Als wäre allein der malachitfarbene Schal skandalträchtiger als der Busen, den zu bedecken er nur leidlich nachgekommen war.
„Sie meinte es nicht so“, erklärte Tom überall, wo vom „Aufzug“ seiner Mutter die Rede war. Mehr war aus ihm nicht herauszuholen. Er war ein schweigsamer Junge, der im Winter während des Unterrichts seinen Mantel anbehielt und in den Pausen nachdenklich auf seinem Sandwich herumkaute. Eine unheilvolle Aura umgab ihn, an der er selbst keine Schuld trug. Man machte einen großen Bogen um ihn, so, als habe er die Nacktheit seiner Mutter geerbt, und tatsächlich wirkte er selbst im Mantel unbekleideter als Lilian im Schal auf dem Weg nach Augsburg. Jene unheilvolle Aura und das nachdenkliche Kauen weckten schließlich meine Neugier. „Wie meinte sie es denn?“ fragte ich ihn eines Tages auf dem Schulhof. Es erschien mir ehrlicher, ohne Umschweife gleich zur Sache zu kommen. Schneeflocken wirbelten um uns herum. Tom sah von seinem Sandwich auf. Sein Atem gefror zu einer Dampfwolke. „Frag sie doch selbst!“, sagte er und zeichnete mit seinem Schuh eine Horizontale in die dünne Schneedecke, so als wolle er damit endgültig einen Schlussstrich unter die ganze Angelegenheit ziehen. „Wann?“, fragte ich und malte ein Fragezeichen unter die Horizontale. Tom grinste. „Wann immer du willst.“ In jenem Winter wurden wir Freunde.
„Schön, dass du mal Jemanden mit nach Hause bringst, Junge“, sagte Toms Vater und schüttelte mir die Hand. Über seinem Anzug trug er eine dicke Strickjacke. In der linken Hand hielt er eine Lesebrille. Er wirkte müde und hatte tiefe Augenringe, die seinen Blick wie eine umgekippte schwarze 8 umwölkten. Draußen ging ein Schneesturm nieder und das ganze Haus war unterkühlt. „Dein Freund bleibt doch zum Abendessen?“, fragte er. Unsicher blickte ich von ihm zu Tom, der mich bereits in Richtung Treppe zog. „Klar bleibt er“, antwortete er an meiner Stelle und nickte mir zu. „Na, dann macht euch mal ein schönes Feuer, Jungs.“ Richard Bosbach zog den Reißverschluss seiner Strickjacke zu und ging in sein Arbeitszimmer. Von innen verschloss er sorgfältig die Tür. „Warum schließt er sich ein?“, fragte ich. „Hm, er will seine Ruhe.“ Ich lachte. „Aber hier ist es stiller als auf einem Friedhof. Und kalt.“ „Das kann täuschen“, antwortete Tom und ging die Stufen hinauf. „Kommst du nun mit oder nicht?“. Ich folgte ihm und betrat die in der ganzen Nachbarschaft berühmt gewordene Treppe. Den Gerüchten zufolge hatte Lilian hier splitternackt gestanden und versucht, sich mit ihrem Schal am Kronleuchter zu erhängen. Dazu hätte sie aber mindestens fünf Meter durch die Luft fliegen müssen. Es war unmöglich, das Ding von der Treppe aus zu erreichen. „Willst du da Wurzeln schlagen?“, fragte Tom, der bereits oben angekommen war. „Nein“, beeilte ich mich zu sagen und schob fürs Erste meine Neugier beiseite. „Wie meinte er das mit dem Feuer?“, fragte ich. Tom führte mich durch einen schmalen dunklen Korridor. Ein weinfarbener Teppich verschluckte unsere Schritte. „Warts ab“, sagte er und öffnete eine Tür.
Weitaus bemerkenswerter als die Augenringe seines Vaters war Toms Zimmer. Es hatte Dachschrägen und an der Nordseite zur Terrasse hin eine imposante Fensterfront mit Blick auf den verschneiten Wald. Der große offene Kamin, die säuberlich gestapelten Holzscheite und das schmiedeeiserne Kaminbesteck ließen keinen Zweifel daran, dass Richard Bosbach keinen Witz gemacht hatte. „Na, willst du das Feuer anmachen?“, fragte Tom und drückte mir zerknülltes Zeitungspapier in die Hand. Meine Begeisterung schien ihn zu belustigen. „Ja, klar“, sagte ich und löste meinen Blick von dem Bücherregal, das eine gesamte Wandseite einnahm. „Willst du die alle noch lesen?“, überspielte ich mein Unvermögen, das Feuer richtig in Gang zu bringen. „Hab ich schon längst“, bemerkte Tom knapp. „Und wieso versuchst du es nicht erst mit ein paar dünnen Spänen? Die Scheite kommen später.“ „Ich kenne mit damit nicht aus“, gab ich etwas beleidigt zurück. „Wir haben keinen Kamin.“ Tom hockte sich neben mich. „Komm, ich zeigs dir“, sagte er. Ein paar Handgriffe später knisterte ein kleines Feuer im Kamin. Ich blickte aus dem Fenster. Das Schneetreiben war stärker geworden und verwischte die Konturen des Waldes. „Ich mag dieses Geräusch“, sagte Tom nach einer Weile und wies auf das Feuer. „Nun ja, es knistert“, antwortete ich. „Ja, aber klingt es zu Anfang nicht so wie wenn ein Gemälde versucht, aus dem Rahmen zu klettern?“ Ich zuckte die Schultern. „So genau habe ich noch nicht hingehört.“ Tom seufzte. „Dann höre jetzt mal hin!“ Lange Zeit war es still. Ich starrte auf die Flammen und versuchte mir ein Gemälde vorzustellen, das lebendig geworden war und angestrengt versuchte, aus dem Rahmen zu rascheln. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und begann zu lachen. Tom blickte mich tadelnd an. Ich verlor vollends die Beherrschung. Jemand klopfte an die Tür. „Tom? Tom, wen hast du da bei dir? Wer lacht da so schamlos?“ Augenblicklich war ich still. Da draußen stand sie also. Lilian Bosbach, deren Name nach nunmehr einem Jahr noch in aller Munde war. Und nichts als eine Tür trennte sie von mir und meiner Neugierde, die zugegebenermaßen gerade in eine Mischung aus Aufregung und Furcht umschlug. „Nur ein Freund, Mama“, rief Tom. "Ein Freund also. Nun denn, ich will ihn ansehen!", forderte Lilian. Dann verstummte die Stimme hinter der Tür. Tom schien meine Nervosität zu bemerken. "Entspann' dich, Mann, sie kommt hier nie rein", flüsterte er und legte einen Scheit nach.
Fortsetzung folgt...