Fugalee Page
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Ein Ereignis, das seit dem Tage unserer Geburt auf uns zusteuert, das wir nicht verhindern, und dem wir auch nicht entrinnen können. Wir Menschen sprechen in so einem Fall gerne von – Schicksal.
Ich erinnere mich noch genau, als ich meine seltsame Gabe das erste Mal entdeckte. Für einen schüchternen Jungen wie mich konnte es nichts Schlimmeres geben, als vor versammelter Mannschaft ein Referat zu halten. Freies Sprechen vor der Klasse kam für mich einer globalen Katastrophe gleich. Besonders erschwert wurde dies durch den Umstand, dass Melanie in der ersten Reihe saß. Die Klassensprecherin war spindeldürr und groß, doch damals für mich das schönste Mädchen der Welt gewesen. Allerdings hätte ich es nie gewagt, ihr meine Zuneigung zu gestehen. Schon gar nicht, da sie mit Torsten zusammen war, und Torsten war bestimmt einen Kopf größer als ich.
Ich hatte mich immer wieder erfolgreich vor der anstehenden Aufgabe gedrückt, und erst die anderen Mitschüler ihren Vortrag halten lassen. Doch am Schluß, lag es dann an mir, da ich der letzte noch fehlende Referent war.
Nie vergesse ich den Moment, als ich verloren vor der Klasse stand. Das Blut schoss mir in den Kopf, rauschte in den Ohren, pochte in den Schläfen. Meine Hände, eiskalt und feucht, und eine unsichtbare Kraft schnürte mir die Kehle zu. Ich wollte etwas sagen, doch statt meiner Stimme klang nur ein ächzender Laut aus mir heraus. Ich suchte nach Worten, dem passenden Einstieg. Doch so sehr ich mich mühte, desto schlimmer wurde mein Zustand. Meine Gedanken, ein einziges Chaos. Teile des Referats huschten schemenhaft an mir vorbei. So stand ich da und in jeder Sekunde die verging, kam ich dem Abgrund der Blamage ein kleines Stück näher.
Da sah ich, wie „meine“ Melanie leise zu kichern anfing und mir war, als müsste ich vor Scham im tiefsten Erdloch versinken. Als nächstes ging ein Raunen durch die Klasse und einzelne Schüler begannen miteinander zu tuscheln. Kein gutes Zeichen, ging es mir durch den Kopf. Die Lehrerin blickte mich mitleidig an und versuchte mich mit einem aufmunternden Kopfnicken in meinem Vorhaben zu bestärken, die richtigen Worte, den Einstig zu finden.
So nahm ich denn meinen letzten Mut zusammen und fing an zu reden.
Reden? Lächerlich! Ich stotterte dermaßen, verhaspelte mich, gab solchen Unsinn von mir, dass weder Text noch Sinn zu erkennen war.
Nur einen Moment später brüllte die Klasse laut los vor lachen. Ich blickte in die verzerrten Fratzen, die mich anstierten. Ich sah den verhaßten Torsten, der mit dem Finger auf mich zeigte und mich verhöhnte, und als auch noch Melanie die Hand vor den Mund hielt und laut losprustete, da war es dann geschehen.
Ich hatte für einen Moment die Augen geschlossen, und als ich sie wieder öffnete, war Ruhe eingekehrt. Es bot sich mir eine unglaubliche Szene, die mein Leben für immer verändern sollte. Die ganze Klasse schien wie eingefroren. Kein Laut, keine Bewegung, völlige Regungslosigkeit. Melanie hielt immer noch die Hand vor den Mund und hatte das Gesicht zu einem Grinsen verzogen. Peter, der Klassenclown, zog eine fiese Grimasse und streckte mir die Zunge heraus. Michael hatte einen Papierflieger auf die Reise zu David geschickt. Doch auch dieser Flieger stand wie festgetackert in der Luft und rührte sich nicht. Und selbst die Lehrerin war in ihrer Bewegung verharrt. Wie man an ihrer Gestik und Mimik erkennen konnte, wollte sie die Klasse zur Ordnung rufen.
Mit vor Erstaunen weit geöffneten Mund blickte ich in die Runde und fragte mich, was hier wohl geschehen war. Seltsamerweise empfand ich keine Angst, sondern war eher darüber amüsiert, dass Ruhe eingekehrt war. Diese verlieh mir auf kuriose Art und Weise eine Auszeit von meiner Blamage. Da kam mir plötzlich ein Gedanke. Ich drehte mich um und schaute hoch zur Uhr an der Wand. Der Sekundenzeiger bewegte sich nicht. Und während ich mich wunderte und mir klarzumachen versuchte, dass aus irgendeinem Grund die Zeit stillstand, kam auch schon wieder Leben in die Klasse.
Die Schüler brüllten erneut los und ein bis dahin ruhender Papierflieger setzte zur Landung an. Die überforderte Lehrerin war sichtlich um Autorität bemüht und schimpfte wie ein Rohrspatz.
Als endlich wieder Ruhe eingekehrt war, hielt ich zum Erstaunen aller ein tadelloses, fehlerfreies Referat. Ein nie für möglich gehaltenes Selbstvertrauen war über mich gekommen, da ich mir schließlich bewusst geworden war, dass ich es ausgelöst hatte, dieses Zeitphänomen. Und jemand, der die Zeit anhalten konnte, dieser Jemand war bestimmt ein ganz besonderer Junge, mit dem das Schicksal noch viel vorhatte. So ein Junge, der musste vor nichts Angst haben.
Durch mein gesteigertes Selbstvertrauen veränderte sich auch meine Persönlichkeit. In der folgenden Zeit wurde ich immer beliebter und konnte mich über mangelnde Freundschaften nicht mehr beklagen. Ich begann meine Gabe genauer zu untersuchen und stellte fest, dass es mir möglich war, die Zeit genau für eine Minute anzuhalten. Denn, während alles um mich herum stillstand, tickerte meine Armbanduhr munter weiter. Doch selbstverständlich behielt ich mein kleines Geheimnis für mich.
Die neue Gabe hatte viele positive Nebeneffekte. So verbesserte sich mein Notendurchschnitt wie durch Zauberhand, da nun das Abschreiben kein Thema mehr war. Allerdings war ich auch schlau genug, um nicht zu plötzlich zum Musterschüler zu reifen. Ich durfte schließlich keinen Verdacht erregen.
Nach der Schule und den anstehenden Hausaufgaben trieb ich allerlei Schabernack mit den Bewohnern der anliegenden Häuser. Während die Zeit stillstand, schlich ich mich in deren Wohnungen und versteckte die unterschiedlichsten Sachen. Allerdings musste ich mich vorsehen, denn, während eine Minute, in der man die Luft anhalten soll, einem verdammt lange vorkommt, erweist sich die gleiche Zeitspanne für gewisse Streiche doch als recht knapp. Ich hatte natürlich auch schon versucht die Zeit fortwährend anzuhalten. Doch stellte ich fest, dass von einem Zeitstop bis zum nächsten mindestens fünf Minuten vergehen mussten. Erst dann war es mir wieder möglich, die Gabe erneut einzusetzen. Doch störte mich dieser Umstand nicht besonders, denn es blieb noch genügend Zeit und Raum für allerlei Blödsinn.
Erst später, als ich selbst einmal einen Gegenstand vermisste, von dem ich sicher war, ihn an einem bestimmten Ort abgelegt zu haben, dachte ich wieder an meine Kinderstreiche. Ich überlegte, ob es vielleicht noch mehr Menschen gab, welche die Zeit anhalten konnten, und diese einem dann vermutlich ähnliche Streiche spielten. Doch musste ich mir eingestehen, dass ich hiervon ja nichts mitbekäme, da in diesem Fall die Zeit ja auch für mich stillstünde.
Auch stellte sich mir die Frage, was für Dimensionen meine Macht annehmen konnte. War es mir lediglich möglich, die Menschen in unmittelbarer Nähe zur Tatenlosigkeit zu verdammen, oder reichte meine Kraft gar viel weiter? Leider funktionierten in der Zeit des Stillstands auch keine Geräte mehr. So konnte ich nirgendwo anrufen, um meinen Wirkungskreis zu testen. Auch Fernsehbilder lieferten keinen sinnvollen Aufschluss. Ich konnte ja nicht abschätzen, ob nur das ankommende Bild eingefroren war, oder die tatsächliche Szenerie vor Ort. Doch gelangte ich zu dem Schluss, dass mein Talent globale Auswirkungen haben musste. Wäre dem nicht so gewesen, hätte ja eine Zone des Übergangs existieren müssen. Irgendeine gedachte Linie, auf deren einen Seite die Zeit stillstand, während auf der anderen die Dinge ihren Lauf nahmen. Und so ein kleines Zeitphänomen wäre dann den Menschen nicht verborgen und der Weltpresse sicher eine Schlagzeile wert gewesen.
Doch konnte ein kleines Menschlein wirklich die Naturgesetze außer Kraft setzen? Und wie weit reichte meine Kraft nun eigentlich?
Ein Blick in den nächtlichen Sternenhimmel belehrte mich damals dann darüber, dass wenigstens die Sterne recht gelassen auf meine Zeitstopps reagierten. Denn während einer besonderen Minute, die irdisch einzig für mich vergangen war, hatten die Sterne am Firmament äußerst lebendig gefunkelt.
Als ich damals zum Himmel aufgeschaut hatte, fragte ich mich, ob ich nicht auch von irgendwo dort oben herstammte. Schließlich hatten mich meine Eltern adoptiert. Von wem und wie hatten sie mir bis zu ihrem frühen Tode nie verraten.
Egal, irgendwann hatte ich dann beschlossen, die Fragen nach dem wieso und warum aufzugeben und gelernt, meine herausragende Position zu akzeptieren. Bald trat auch etwas viel Aufregenderes in mein Leben, das meine ganze Aufmerksamkeit erforderte. Als das Interesse für Mädchen nicht mehr nur rein platonisch war, konnte mir meine Gabe auch hier wertvolle Dienste leisten. Für Doktorspiele und ausführliche gynäkologische Untersuchungen waren 60 Sekunden natürlich zu kurz, doch um einen Blick unter den Rock einer Angebeteten zu werfen, und so das Geheimnis weiblicher Scham zu ergründen, reichte die Zeit durchaus. Zwar hatte ich schon ein klein wenig ein schlechtes Gewissen bei der Sache, doch der Reiz war für ein pubertierendes Pickelgesicht einfach zu groß. Allerdings, so viel sah man da nun auch wieder nicht, und mein Charakter, der damals noch als rechtschaffen bezeichnet werden konnte, verbot mir dann weiteres Vorgehen. Später, als der Sex längst Einzug in mein Leben gehalten hatte, kam es nur noch sporadisch zu intimen Entgleisungen. Ich erinnere mich an eine Situation in der Fußgängerzone. Ich hatte einer kühlen Blonden ein Lächeln geschenkt und als Antwort nur einen dieser arroganten „Wie kannst du es bloß wagen, ein so tolles Mädchen wie mich überhaupt nur anzusehen“-Blicke erhalten.
Da hatte ich nicht widerstehen können. Ich hielt die Zeit an, zog ihr das Unterhöschen aus, was innerhalb einer Minute gar nicht so einfach war, und steckte es in ihr Handtäschchen. Dann entfernte ich mich schnell. Gerade noch rechtzeitig, als auch schon wieder Leben in die Menschen kam. Aus einiger Entfernung konnte ich beobachten, wie die Blonde erst ein paar Schritte ging. Nun, mich wunderte das nicht. Wer kommt schon auf die Idee, dass einem mitten in der Fußgängerzone plötzlich das Höschen fehlt.
Dann plötzlich blieb sie stehen. Fasste sich mit einer Hand an den Rock und schrie los. Ein paar Passanten blickten zwar recht ratlos drein, doch wirklich stehen blieb niemand. Schließlich braucht der Mensch beim Einkaufen nicht noch zusätzlichen Stress.
Dann beobachtete ich, wie die Blonde zwischen zwei Verkaufshäusern in einer kleinen Nische verschwand und dort einige Zeit blieb. Vermutlich wollte sie nachsehen, ob ihr die Sinne einen Streich gespielt hatten oder ob das Unwahrscheinliche wirklich eingetreten war. Ich überlegte. Sie würde schließlich der Realität ins Auge sehen müssen, sich fragen, wie so etwas hatte geschehen können. Sie würde vermutlich einen Griff in ihre Handtasche tun, weil Frauen, wenn sie nicht weiter wissen, immer einen Griff in ihre Handtasche tun, und dann …
Doch da war sie auch schon wieder aus dem Schatten zwischen den Häusern hervorgekommen. In ihrem Blick war etwas, das ich bislang noch bei keinem Menschen gesehen hatte. Da verspürte ich für einen Moment lang fast ein schlechtes Gewissen. Doch, mir ihre Arroganz in Erinnerung rufend, war dieses schnell wieder beruhigt.
Auch erinnere ich mich noch gut an mein erstes Bewerbungsgespräch. Mein Gott, war ich vielleicht so was von aufgeregt. Meine Eltern hatten mir für diesen Anlass extra neue Klamotten gekauft und mich zum Frisör geschickt. So zurechtgetrimmt saß ich dann ziemlich kleinlaut diesem hochnäsigen Personalchef gegenüber. Er behandelte mich nicht nur von oben herab, sondern stellte mir auch lauter unsinnige Fragen über Politik und Geschichte. Ich fühlte mich völlig ungerecht behandelt, da ich doch nur einen ruhigen Job haben wollte, mit dem ich meinen Lebensunterhalt bestreiten konnte. Schnell war mir klar, dass ich hier keine Chance hätte, einen Job zu bekommen. Es kam mir so vor, als machte sich der Kerl nur einen Spaß daraus, mich mit seinen dämlichen Fragen zu quälen. So überlegte ich angestrengt, wie ich mich für diese Schikane bei ihm rächen konnte. Da kam mir plötzlich ein lustiger Gedanke. Ich hielt wieder einmal die Zeit an, knöpfte mir die neu gekaufte Hose auf und urinierte in seine Kaffeetasse. Nicht viel, nur ein klein wenig, um das Aroma zu verstärken.
Nie vergesse ich sein blödes Gesicht, als die Dinge wieder ihren Lauf nahmen. Nach einem Schluck des Getränks verzog der arrogante Fatzke nur kurz das Gesicht. Er hatte natürlich keinen blassen Schimmer, was ihm soeben widerfahren war. Ich jedoch hatte die größte Mühe, einen teilnahmslosen Eindruck zu machen und nicht in schallendes Gelächter auszubrechen.
Als ich an diesem Tag nach Hause gekommen war, ging mir dann plötzlich ein Licht auf. Weshalb ich erst jetzt darauf kam, bestätigte mir, dass ich nicht zu den hellsten Köpfen zählte. Meine Schummeleien in der Schule rächten sich nun später im Leben.
Ich fragte mich, weshalb ich meine Gabe bisher noch gar nicht gewinnbringend eingesetzt hatte. Warum sollte ich mich das halbe Leben in ein langweiliges Büro setzten, wenn sich die Sache auch angenehmer gestalten ließ?
Mein erster Besuch in Baden-Baden verlief dann auch sehr erfreulich, und nachdem ich mich mit den einzelnen Spielen vertraut gemacht hatte, sollte der große Coup folgen.
Ich bin wohl einer der wenigen Menschen, der von sich behaupten kann, dass Las Vegas ihn zu einem reichen Mann gemacht hat. Gekonnt platziere Roulettekugeln, ein gezielter Blick ins gegnerische Kartenspiel und andere Scharmützel zählten längst zu meinen Spezialitäten.
So hatte ich binnen kurzer Zeit ein stattliches Sümmchen auf der Seite und genoss das Leben in vollen Zügen. Ich ließ keine Party aus und gönnte mir den Luxus eines unbeschwerten Lebens. Immer wenn ich dachte, dass mein Kontostand einen Nachschlag verkraften könnte, flog ich ins nächste Spielerparadies und beschenkte mich mit ganz besonderen 60 Sekunden.
In diesen Jahren veränderte sich dann auch mein Charakter.
Dinge, die ich früher nie getan hätte, grenzte ich nun nicht mehr aus und gab mich allen sündhaften Verlockungen hin. Manche Dinge so abscheulich, dass ich mich heute frage, ob es der gleiche Mensch ist, der hier sitzt oder ob es sich doch um einen außerirdischen Dämonen handelte, der sich damals meines Körpers bemächtigte.
Wohl zur Strafe zeigte mir das Schicksal dann die Grenzen meiner Macht auf. Schon als Kind hatte ich mir immer ein Pferd gewünscht. Jetzt besaß ich ein kleines Gestüt. Sich im Alkohol und Drogenrausch noch auf ein Tier zu setzen, dass über ein sensibles Gemüt verfügt, kann nur als schwachsinnig bezeichnet werden. Kein Hindernis wird einem da zu hoch. An den Abwurf kann ich mich nur noch schemenhaft erinnern. Wohl aber an mein Erwachen im Krankenhaus und an die Stimme des Arztes, der mir im Tonfall der Anteilnahme eröffnete, dass ich mein restliches Leben im Rollstuhl werde verbringen müssen.
Ich ließ mein Haus behindertengerecht umbauen und gönnte mir einen persönlichen Pfleger. Diesen missbrauchte ich dann auch mehr und mehr als eine Art Diener, den ich mit meinen Kapriolen oftmals bis zur Weißglut trieb. Ein äußerst großzügiges Gehalt ließen ihn jedoch meine strapaziösen Launen immer wieder vergessen machen.
Meine Partyfreunde hatten längst das Weite gesucht. Es bestand offenbar kein Interesse, sich die gute Laune von einem Mann im Rollstuhl vermiesen zu lassen. Am Geld konnte ich nun auch keine Freude mehr empfinden. Was nützt einem aller Reichtum, wenn einem die schönsten Frauen nur noch mitleidige Blicke schenken.
Aber ich wollte dieses Partyvolk auch nicht mehr um mich haben. Ich erkannte, dass diese oberflächliche Schickeria nur gesund zu ertragen war. Wenn man zuviel Zeit zum Nachdenken hatte, musste man zu der Erkenntnis gelangen, dass es besser war, sich nach anderer Gesellschaft umzusehen. Ich wollte wieder unter ganz normalen Leuten sein.
Ich wollte nicht mit Neureichen oder Geldadligen zusammentreffen, denen man in regelmäßigen Abständen auf Kreuzfahrten oder an Luxusstränden begegnete.
Ich entschied, mich unter Hinz und Kunz zu mischen. Den Gesprächen von Otto Normalverbraucher zu lauschen, die sich über die Kleinigkeiten und Unwegsamkeiten des Alltags ausließen. Liebenswerte Spießbürgerlichkeit, die ich lange nicht mehr erlebt hatte. Als ich eines Tages in der Zeitung blätterte und eine Reiseannonce erblickte, da hatte ich das Passende gefunden.
Meine erste Busreise führte mich nach Venedig. Es war, wie ich es mir erhofft hatte. Die Gesellschaft der einfachen Leute tat mir gut. Das Prozedere war jedes Mal das gleiche. Die hintersten Plätze hatte ich immer für mich und meinen Pfleger reserviert. Mein Rollstuhl fand im Laderaum der klimatisierten Reisebusse Platz, und der kräftige Jean-Paul trug mich dann zu meinen Fensterplatz. So hätte ich wohl weiter Länder und Städte bereist, wenn das Schicksal nicht noch weit Kurioseres mit mir vorgehabt hätte.
Vielleicht muss ich nun für die Taten büßen, die ich lieber nicht begangen hätte. Ja, ich gebe es zu. Ich habe gelogen und betrogen. Habe Menschen verletzt und enttäuscht. War über alle Maßen dekadent und rücksichtslos. Ich hätte meine Gabe auch zum Wohle anderer einsetzen können, statt nur an mich zu denken. Aber muss mir nun das Schicksal wirklich auf diese dramatische Weise meine Hilflosigkeit vor Augen führen? Gleicht diese absurde Situation nicht einer Farce für einen Menschen, der Macht über die Zeit hat?
Wieder einmal sitze ich in einem dieser feudalen Reisebusse. Jean-Paul, der links von mir sitzt, ist in ein Buch vertieft und offensichtlich ganz in die Fantasiewelt des Autors abgetaucht. Etwas weiter vorne vertreibt sich ein älteres Paar die Zeit. Die Frau gießt ihrem Mann den Kaffee aus der Thermoskanne ein. Die braune Flüssigkeit ist jedoch für den Moment zur Salzsäule erstarrt. Eine Reihe davor schiebt sich ein Kind den von der Mutter gereichten Kuchen in den Mund. Eine Wespe schickt sich an, etwas von der süßen Köstlichkeit abzubekommen. Auch dieses lästige Insekt wird sich die vollen 60 Sekunden gedulden müssen.
Doch die geschenkte Minute muss nun bald vorüber sein. Länger kann ich die Gesetze der Physik nicht außer Kraft setzen. Ich hatte gleich erkannt, dass mir die Zeit nicht reichen würde, den Bus ohne fremde Hilfe zu verlassen. Es stimmt demnach, dass in den letzten Sekunden bis zum Tod, Teile des Lebens noch einmal an einem vorüberziehen. Als kleiner Trost erscheint es, dass wir wohl nicht lange werden leiden müssen. Ich lasse mich erschöpft zurück auf meinen Sitzplatz fallen. Ich blicke noch einmal nach rechts, dann wende ich mich ab von dem Monster. Ich lehne mich zurück, schließe die Augen und erwarte die fürchterliche Kollision. Der Aufprall mit dem nur noch zwei Meter entfernten Schnellzug muss gigantisch sein.
Ich erinnere mich noch genau, als ich meine seltsame Gabe das erste Mal entdeckte. Für einen schüchternen Jungen wie mich konnte es nichts Schlimmeres geben, als vor versammelter Mannschaft ein Referat zu halten. Freies Sprechen vor der Klasse kam für mich einer globalen Katastrophe gleich. Besonders erschwert wurde dies durch den Umstand, dass Melanie in der ersten Reihe saß. Die Klassensprecherin war spindeldürr und groß, doch damals für mich das schönste Mädchen der Welt gewesen. Allerdings hätte ich es nie gewagt, ihr meine Zuneigung zu gestehen. Schon gar nicht, da sie mit Torsten zusammen war, und Torsten war bestimmt einen Kopf größer als ich.
Ich hatte mich immer wieder erfolgreich vor der anstehenden Aufgabe gedrückt, und erst die anderen Mitschüler ihren Vortrag halten lassen. Doch am Schluß, lag es dann an mir, da ich der letzte noch fehlende Referent war.
Nie vergesse ich den Moment, als ich verloren vor der Klasse stand. Das Blut schoss mir in den Kopf, rauschte in den Ohren, pochte in den Schläfen. Meine Hände, eiskalt und feucht, und eine unsichtbare Kraft schnürte mir die Kehle zu. Ich wollte etwas sagen, doch statt meiner Stimme klang nur ein ächzender Laut aus mir heraus. Ich suchte nach Worten, dem passenden Einstieg. Doch so sehr ich mich mühte, desto schlimmer wurde mein Zustand. Meine Gedanken, ein einziges Chaos. Teile des Referats huschten schemenhaft an mir vorbei. So stand ich da und in jeder Sekunde die verging, kam ich dem Abgrund der Blamage ein kleines Stück näher.
Da sah ich, wie „meine“ Melanie leise zu kichern anfing und mir war, als müsste ich vor Scham im tiefsten Erdloch versinken. Als nächstes ging ein Raunen durch die Klasse und einzelne Schüler begannen miteinander zu tuscheln. Kein gutes Zeichen, ging es mir durch den Kopf. Die Lehrerin blickte mich mitleidig an und versuchte mich mit einem aufmunternden Kopfnicken in meinem Vorhaben zu bestärken, die richtigen Worte, den Einstig zu finden.
So nahm ich denn meinen letzten Mut zusammen und fing an zu reden.
Reden? Lächerlich! Ich stotterte dermaßen, verhaspelte mich, gab solchen Unsinn von mir, dass weder Text noch Sinn zu erkennen war.
Nur einen Moment später brüllte die Klasse laut los vor lachen. Ich blickte in die verzerrten Fratzen, die mich anstierten. Ich sah den verhaßten Torsten, der mit dem Finger auf mich zeigte und mich verhöhnte, und als auch noch Melanie die Hand vor den Mund hielt und laut losprustete, da war es dann geschehen.
Ich hatte für einen Moment die Augen geschlossen, und als ich sie wieder öffnete, war Ruhe eingekehrt. Es bot sich mir eine unglaubliche Szene, die mein Leben für immer verändern sollte. Die ganze Klasse schien wie eingefroren. Kein Laut, keine Bewegung, völlige Regungslosigkeit. Melanie hielt immer noch die Hand vor den Mund und hatte das Gesicht zu einem Grinsen verzogen. Peter, der Klassenclown, zog eine fiese Grimasse und streckte mir die Zunge heraus. Michael hatte einen Papierflieger auf die Reise zu David geschickt. Doch auch dieser Flieger stand wie festgetackert in der Luft und rührte sich nicht. Und selbst die Lehrerin war in ihrer Bewegung verharrt. Wie man an ihrer Gestik und Mimik erkennen konnte, wollte sie die Klasse zur Ordnung rufen.
Mit vor Erstaunen weit geöffneten Mund blickte ich in die Runde und fragte mich, was hier wohl geschehen war. Seltsamerweise empfand ich keine Angst, sondern war eher darüber amüsiert, dass Ruhe eingekehrt war. Diese verlieh mir auf kuriose Art und Weise eine Auszeit von meiner Blamage. Da kam mir plötzlich ein Gedanke. Ich drehte mich um und schaute hoch zur Uhr an der Wand. Der Sekundenzeiger bewegte sich nicht. Und während ich mich wunderte und mir klarzumachen versuchte, dass aus irgendeinem Grund die Zeit stillstand, kam auch schon wieder Leben in die Klasse.
Die Schüler brüllten erneut los und ein bis dahin ruhender Papierflieger setzte zur Landung an. Die überforderte Lehrerin war sichtlich um Autorität bemüht und schimpfte wie ein Rohrspatz.
Als endlich wieder Ruhe eingekehrt war, hielt ich zum Erstaunen aller ein tadelloses, fehlerfreies Referat. Ein nie für möglich gehaltenes Selbstvertrauen war über mich gekommen, da ich mir schließlich bewusst geworden war, dass ich es ausgelöst hatte, dieses Zeitphänomen. Und jemand, der die Zeit anhalten konnte, dieser Jemand war bestimmt ein ganz besonderer Junge, mit dem das Schicksal noch viel vorhatte. So ein Junge, der musste vor nichts Angst haben.
Durch mein gesteigertes Selbstvertrauen veränderte sich auch meine Persönlichkeit. In der folgenden Zeit wurde ich immer beliebter und konnte mich über mangelnde Freundschaften nicht mehr beklagen. Ich begann meine Gabe genauer zu untersuchen und stellte fest, dass es mir möglich war, die Zeit genau für eine Minute anzuhalten. Denn, während alles um mich herum stillstand, tickerte meine Armbanduhr munter weiter. Doch selbstverständlich behielt ich mein kleines Geheimnis für mich.
Die neue Gabe hatte viele positive Nebeneffekte. So verbesserte sich mein Notendurchschnitt wie durch Zauberhand, da nun das Abschreiben kein Thema mehr war. Allerdings war ich auch schlau genug, um nicht zu plötzlich zum Musterschüler zu reifen. Ich durfte schließlich keinen Verdacht erregen.
Nach der Schule und den anstehenden Hausaufgaben trieb ich allerlei Schabernack mit den Bewohnern der anliegenden Häuser. Während die Zeit stillstand, schlich ich mich in deren Wohnungen und versteckte die unterschiedlichsten Sachen. Allerdings musste ich mich vorsehen, denn, während eine Minute, in der man die Luft anhalten soll, einem verdammt lange vorkommt, erweist sich die gleiche Zeitspanne für gewisse Streiche doch als recht knapp. Ich hatte natürlich auch schon versucht die Zeit fortwährend anzuhalten. Doch stellte ich fest, dass von einem Zeitstop bis zum nächsten mindestens fünf Minuten vergehen mussten. Erst dann war es mir wieder möglich, die Gabe erneut einzusetzen. Doch störte mich dieser Umstand nicht besonders, denn es blieb noch genügend Zeit und Raum für allerlei Blödsinn.
Erst später, als ich selbst einmal einen Gegenstand vermisste, von dem ich sicher war, ihn an einem bestimmten Ort abgelegt zu haben, dachte ich wieder an meine Kinderstreiche. Ich überlegte, ob es vielleicht noch mehr Menschen gab, welche die Zeit anhalten konnten, und diese einem dann vermutlich ähnliche Streiche spielten. Doch musste ich mir eingestehen, dass ich hiervon ja nichts mitbekäme, da in diesem Fall die Zeit ja auch für mich stillstünde.
Auch stellte sich mir die Frage, was für Dimensionen meine Macht annehmen konnte. War es mir lediglich möglich, die Menschen in unmittelbarer Nähe zur Tatenlosigkeit zu verdammen, oder reichte meine Kraft gar viel weiter? Leider funktionierten in der Zeit des Stillstands auch keine Geräte mehr. So konnte ich nirgendwo anrufen, um meinen Wirkungskreis zu testen. Auch Fernsehbilder lieferten keinen sinnvollen Aufschluss. Ich konnte ja nicht abschätzen, ob nur das ankommende Bild eingefroren war, oder die tatsächliche Szenerie vor Ort. Doch gelangte ich zu dem Schluss, dass mein Talent globale Auswirkungen haben musste. Wäre dem nicht so gewesen, hätte ja eine Zone des Übergangs existieren müssen. Irgendeine gedachte Linie, auf deren einen Seite die Zeit stillstand, während auf der anderen die Dinge ihren Lauf nahmen. Und so ein kleines Zeitphänomen wäre dann den Menschen nicht verborgen und der Weltpresse sicher eine Schlagzeile wert gewesen.
Doch konnte ein kleines Menschlein wirklich die Naturgesetze außer Kraft setzen? Und wie weit reichte meine Kraft nun eigentlich?
Ein Blick in den nächtlichen Sternenhimmel belehrte mich damals dann darüber, dass wenigstens die Sterne recht gelassen auf meine Zeitstopps reagierten. Denn während einer besonderen Minute, die irdisch einzig für mich vergangen war, hatten die Sterne am Firmament äußerst lebendig gefunkelt.
Als ich damals zum Himmel aufgeschaut hatte, fragte ich mich, ob ich nicht auch von irgendwo dort oben herstammte. Schließlich hatten mich meine Eltern adoptiert. Von wem und wie hatten sie mir bis zu ihrem frühen Tode nie verraten.
Egal, irgendwann hatte ich dann beschlossen, die Fragen nach dem wieso und warum aufzugeben und gelernt, meine herausragende Position zu akzeptieren. Bald trat auch etwas viel Aufregenderes in mein Leben, das meine ganze Aufmerksamkeit erforderte. Als das Interesse für Mädchen nicht mehr nur rein platonisch war, konnte mir meine Gabe auch hier wertvolle Dienste leisten. Für Doktorspiele und ausführliche gynäkologische Untersuchungen waren 60 Sekunden natürlich zu kurz, doch um einen Blick unter den Rock einer Angebeteten zu werfen, und so das Geheimnis weiblicher Scham zu ergründen, reichte die Zeit durchaus. Zwar hatte ich schon ein klein wenig ein schlechtes Gewissen bei der Sache, doch der Reiz war für ein pubertierendes Pickelgesicht einfach zu groß. Allerdings, so viel sah man da nun auch wieder nicht, und mein Charakter, der damals noch als rechtschaffen bezeichnet werden konnte, verbot mir dann weiteres Vorgehen. Später, als der Sex längst Einzug in mein Leben gehalten hatte, kam es nur noch sporadisch zu intimen Entgleisungen. Ich erinnere mich an eine Situation in der Fußgängerzone. Ich hatte einer kühlen Blonden ein Lächeln geschenkt und als Antwort nur einen dieser arroganten „Wie kannst du es bloß wagen, ein so tolles Mädchen wie mich überhaupt nur anzusehen“-Blicke erhalten.
Da hatte ich nicht widerstehen können. Ich hielt die Zeit an, zog ihr das Unterhöschen aus, was innerhalb einer Minute gar nicht so einfach war, und steckte es in ihr Handtäschchen. Dann entfernte ich mich schnell. Gerade noch rechtzeitig, als auch schon wieder Leben in die Menschen kam. Aus einiger Entfernung konnte ich beobachten, wie die Blonde erst ein paar Schritte ging. Nun, mich wunderte das nicht. Wer kommt schon auf die Idee, dass einem mitten in der Fußgängerzone plötzlich das Höschen fehlt.
Dann plötzlich blieb sie stehen. Fasste sich mit einer Hand an den Rock und schrie los. Ein paar Passanten blickten zwar recht ratlos drein, doch wirklich stehen blieb niemand. Schließlich braucht der Mensch beim Einkaufen nicht noch zusätzlichen Stress.
Dann beobachtete ich, wie die Blonde zwischen zwei Verkaufshäusern in einer kleinen Nische verschwand und dort einige Zeit blieb. Vermutlich wollte sie nachsehen, ob ihr die Sinne einen Streich gespielt hatten oder ob das Unwahrscheinliche wirklich eingetreten war. Ich überlegte. Sie würde schließlich der Realität ins Auge sehen müssen, sich fragen, wie so etwas hatte geschehen können. Sie würde vermutlich einen Griff in ihre Handtasche tun, weil Frauen, wenn sie nicht weiter wissen, immer einen Griff in ihre Handtasche tun, und dann …
Doch da war sie auch schon wieder aus dem Schatten zwischen den Häusern hervorgekommen. In ihrem Blick war etwas, das ich bislang noch bei keinem Menschen gesehen hatte. Da verspürte ich für einen Moment lang fast ein schlechtes Gewissen. Doch, mir ihre Arroganz in Erinnerung rufend, war dieses schnell wieder beruhigt.
Auch erinnere ich mich noch gut an mein erstes Bewerbungsgespräch. Mein Gott, war ich vielleicht so was von aufgeregt. Meine Eltern hatten mir für diesen Anlass extra neue Klamotten gekauft und mich zum Frisör geschickt. So zurechtgetrimmt saß ich dann ziemlich kleinlaut diesem hochnäsigen Personalchef gegenüber. Er behandelte mich nicht nur von oben herab, sondern stellte mir auch lauter unsinnige Fragen über Politik und Geschichte. Ich fühlte mich völlig ungerecht behandelt, da ich doch nur einen ruhigen Job haben wollte, mit dem ich meinen Lebensunterhalt bestreiten konnte. Schnell war mir klar, dass ich hier keine Chance hätte, einen Job zu bekommen. Es kam mir so vor, als machte sich der Kerl nur einen Spaß daraus, mich mit seinen dämlichen Fragen zu quälen. So überlegte ich angestrengt, wie ich mich für diese Schikane bei ihm rächen konnte. Da kam mir plötzlich ein lustiger Gedanke. Ich hielt wieder einmal die Zeit an, knöpfte mir die neu gekaufte Hose auf und urinierte in seine Kaffeetasse. Nicht viel, nur ein klein wenig, um das Aroma zu verstärken.
Nie vergesse ich sein blödes Gesicht, als die Dinge wieder ihren Lauf nahmen. Nach einem Schluck des Getränks verzog der arrogante Fatzke nur kurz das Gesicht. Er hatte natürlich keinen blassen Schimmer, was ihm soeben widerfahren war. Ich jedoch hatte die größte Mühe, einen teilnahmslosen Eindruck zu machen und nicht in schallendes Gelächter auszubrechen.
Als ich an diesem Tag nach Hause gekommen war, ging mir dann plötzlich ein Licht auf. Weshalb ich erst jetzt darauf kam, bestätigte mir, dass ich nicht zu den hellsten Köpfen zählte. Meine Schummeleien in der Schule rächten sich nun später im Leben.
Ich fragte mich, weshalb ich meine Gabe bisher noch gar nicht gewinnbringend eingesetzt hatte. Warum sollte ich mich das halbe Leben in ein langweiliges Büro setzten, wenn sich die Sache auch angenehmer gestalten ließ?
Mein erster Besuch in Baden-Baden verlief dann auch sehr erfreulich, und nachdem ich mich mit den einzelnen Spielen vertraut gemacht hatte, sollte der große Coup folgen.
Ich bin wohl einer der wenigen Menschen, der von sich behaupten kann, dass Las Vegas ihn zu einem reichen Mann gemacht hat. Gekonnt platziere Roulettekugeln, ein gezielter Blick ins gegnerische Kartenspiel und andere Scharmützel zählten längst zu meinen Spezialitäten.
So hatte ich binnen kurzer Zeit ein stattliches Sümmchen auf der Seite und genoss das Leben in vollen Zügen. Ich ließ keine Party aus und gönnte mir den Luxus eines unbeschwerten Lebens. Immer wenn ich dachte, dass mein Kontostand einen Nachschlag verkraften könnte, flog ich ins nächste Spielerparadies und beschenkte mich mit ganz besonderen 60 Sekunden.
In diesen Jahren veränderte sich dann auch mein Charakter.
Dinge, die ich früher nie getan hätte, grenzte ich nun nicht mehr aus und gab mich allen sündhaften Verlockungen hin. Manche Dinge so abscheulich, dass ich mich heute frage, ob es der gleiche Mensch ist, der hier sitzt oder ob es sich doch um einen außerirdischen Dämonen handelte, der sich damals meines Körpers bemächtigte.
Wohl zur Strafe zeigte mir das Schicksal dann die Grenzen meiner Macht auf. Schon als Kind hatte ich mir immer ein Pferd gewünscht. Jetzt besaß ich ein kleines Gestüt. Sich im Alkohol und Drogenrausch noch auf ein Tier zu setzen, dass über ein sensibles Gemüt verfügt, kann nur als schwachsinnig bezeichnet werden. Kein Hindernis wird einem da zu hoch. An den Abwurf kann ich mich nur noch schemenhaft erinnern. Wohl aber an mein Erwachen im Krankenhaus und an die Stimme des Arztes, der mir im Tonfall der Anteilnahme eröffnete, dass ich mein restliches Leben im Rollstuhl werde verbringen müssen.
Ich ließ mein Haus behindertengerecht umbauen und gönnte mir einen persönlichen Pfleger. Diesen missbrauchte ich dann auch mehr und mehr als eine Art Diener, den ich mit meinen Kapriolen oftmals bis zur Weißglut trieb. Ein äußerst großzügiges Gehalt ließen ihn jedoch meine strapaziösen Launen immer wieder vergessen machen.
Meine Partyfreunde hatten längst das Weite gesucht. Es bestand offenbar kein Interesse, sich die gute Laune von einem Mann im Rollstuhl vermiesen zu lassen. Am Geld konnte ich nun auch keine Freude mehr empfinden. Was nützt einem aller Reichtum, wenn einem die schönsten Frauen nur noch mitleidige Blicke schenken.
Aber ich wollte dieses Partyvolk auch nicht mehr um mich haben. Ich erkannte, dass diese oberflächliche Schickeria nur gesund zu ertragen war. Wenn man zuviel Zeit zum Nachdenken hatte, musste man zu der Erkenntnis gelangen, dass es besser war, sich nach anderer Gesellschaft umzusehen. Ich wollte wieder unter ganz normalen Leuten sein.
Ich wollte nicht mit Neureichen oder Geldadligen zusammentreffen, denen man in regelmäßigen Abständen auf Kreuzfahrten oder an Luxusstränden begegnete.
Ich entschied, mich unter Hinz und Kunz zu mischen. Den Gesprächen von Otto Normalverbraucher zu lauschen, die sich über die Kleinigkeiten und Unwegsamkeiten des Alltags ausließen. Liebenswerte Spießbürgerlichkeit, die ich lange nicht mehr erlebt hatte. Als ich eines Tages in der Zeitung blätterte und eine Reiseannonce erblickte, da hatte ich das Passende gefunden.
Meine erste Busreise führte mich nach Venedig. Es war, wie ich es mir erhofft hatte. Die Gesellschaft der einfachen Leute tat mir gut. Das Prozedere war jedes Mal das gleiche. Die hintersten Plätze hatte ich immer für mich und meinen Pfleger reserviert. Mein Rollstuhl fand im Laderaum der klimatisierten Reisebusse Platz, und der kräftige Jean-Paul trug mich dann zu meinen Fensterplatz. So hätte ich wohl weiter Länder und Städte bereist, wenn das Schicksal nicht noch weit Kurioseres mit mir vorgehabt hätte.
Vielleicht muss ich nun für die Taten büßen, die ich lieber nicht begangen hätte. Ja, ich gebe es zu. Ich habe gelogen und betrogen. Habe Menschen verletzt und enttäuscht. War über alle Maßen dekadent und rücksichtslos. Ich hätte meine Gabe auch zum Wohle anderer einsetzen können, statt nur an mich zu denken. Aber muss mir nun das Schicksal wirklich auf diese dramatische Weise meine Hilflosigkeit vor Augen führen? Gleicht diese absurde Situation nicht einer Farce für einen Menschen, der Macht über die Zeit hat?
Wieder einmal sitze ich in einem dieser feudalen Reisebusse. Jean-Paul, der links von mir sitzt, ist in ein Buch vertieft und offensichtlich ganz in die Fantasiewelt des Autors abgetaucht. Etwas weiter vorne vertreibt sich ein älteres Paar die Zeit. Die Frau gießt ihrem Mann den Kaffee aus der Thermoskanne ein. Die braune Flüssigkeit ist jedoch für den Moment zur Salzsäule erstarrt. Eine Reihe davor schiebt sich ein Kind den von der Mutter gereichten Kuchen in den Mund. Eine Wespe schickt sich an, etwas von der süßen Köstlichkeit abzubekommen. Auch dieses lästige Insekt wird sich die vollen 60 Sekunden gedulden müssen.
Doch die geschenkte Minute muss nun bald vorüber sein. Länger kann ich die Gesetze der Physik nicht außer Kraft setzen. Ich hatte gleich erkannt, dass mir die Zeit nicht reichen würde, den Bus ohne fremde Hilfe zu verlassen. Es stimmt demnach, dass in den letzten Sekunden bis zum Tod, Teile des Lebens noch einmal an einem vorüberziehen. Als kleiner Trost erscheint es, dass wir wohl nicht lange werden leiden müssen. Ich lasse mich erschöpft zurück auf meinen Sitzplatz fallen. Ich blicke noch einmal nach rechts, dann wende ich mich ab von dem Monster. Ich lehne mich zurück, schließe die Augen und erwarte die fürchterliche Kollision. Der Aufprall mit dem nur noch zwei Meter entfernten Schnellzug muss gigantisch sein.