Der Schuh auf dem Dach

Ringelroth

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Svenja Tilmann kam an jenem Montag völlig erschöpft nach Hause. An diesem Abend Ende August, als sie die Spätschicht bis 20 Uhr hatte, war es drückend heiß.
Mit Schweißperlen auf der Stirn trug sie ihr Fahrrad die drei Stufen zum Abstellraum für Räder hinunter, der unter dem Treppenaufgang des vierstöckigen Wohnhauses lag. Ihr T-Shirt klebte an ihrem Oberkörper und ihre kurzen, rotbraunen Haare waren ebenso nass wie ihre Füße in den roten Chucks, obwohl der Supermarkt, in dem Svenja arbeitete, nur rund drei Kilometer von ihrer Wohnung entfernt und der Nachhauseweg vollkommen eben war Wann sie das letzte Mal so geschwitzt hatte, daran konnte sie sich nicht mehr erinnern. Aber sie hatte schon morgens beim Aufstehen so ein komisches Gefühl. Eine seltsame Art der Spannung lag in der Luft. Als sie auf der Arbeit die schweren Kartons mit den Konserven auf ihren Rollcontainer stellte, um im Verkaufsraum die Regale aufzufüllen, hatte sie den ersten heftigen Schweißausbruch. Sie musste an ihre Mutter denken. So musste sie sich wohl fühlen, wenn sie von ihren Hitzewallungen in den Wechseljahren sprach. Da Svenja aber vorige Woche gerade Mal ihren neunzehnten Geburtstag gefeiert hatte, musste es einen anderen Grund geben. Vielleicht lag es am Wetter – es war drückend schwül und sah verdammt nach einem Gewitter aus.

Svenja wohnte allein im vierten Stock, direkt unterm Dachboden. Während sie die Treppe hinaufkeuchte dachte sie mit Schaudern daran, dass sie in ihrer Wohnung eine backofenähnliche Atmosphäre erwarten würde. Als sie die Wohnungstür aufschloss und in die Diele trat, wurde ihre Erwartung zur Gewissheit. Obwohl die beiden Fenster zur Hofseite des Hauses gekippt, und die Rollläden heruntergelassen waren, die Luft in ihren vier Wänden war stickig und warm. Sie stellte ihre Tasche ab und machte zuerst einmal Durchzug. Vor der Küche war ein kleiner Balkon. Sie öffnete die Flügeltür und trat hinaus. Die Sonne stand nun tiefer am Horizont und legte ein sanftes, gelbliches Licht auf die Dächer der Stadt.
Svenja liebte diese friedlichen Abendstunden im Sommer, wenn das hektische Leben zur Ruhe kam, der Straßenverkehr allmählich an Lautstärke verlor und vom Lachen und Lärmen der Kinder in den schattigen Hinterhöfen abgelöst wurde. Der Wind, der hier oben leichteres Spiel hatte, als unten in den verwinkelten Straßen, streichelte sie mit warmer Hand. Sie löste sich von ihrem geliebten Ausblick auf die Stadt und freute sich auf eine kühlende Dusche.
Die Erfrischung war leider von kurzer Dauer, denn obwohl sie nur mit einem hauchdünnen Top und Bermudas bekleidet war, bildeten sich auf ihren Armen winzige Schweißperlen, als sie sich einen Salat zum Abendessen zubereitete. Das Fenster zur Straße in ihrem Wohnzimmer hatte sie geschlossen, aber die Fenster zum Hof ließ sie offen. Die Temperatur war etwas erträglicher geworden, doch sie wollte keine Erkältung riskieren. Mit ihrem gefüllten Teller setzte sie sich auf die Couch und schaltete den Fernseher ein.

Sie musste kurz eingenickt sein. Als sie auf die Uhr schaute, war es bereits nach 22 Uhr. Svenja gähnte, streckte sich, und schaute sich noch die Wettervorhersage an, bevor sie zu Bett ging. Der Wettermann sagte leider nichts von einem kühlenden Gewitter, jedenfalls nicht für die kommende Nacht. Es war Vollmond und es würde nur eine lockere Bewölkung geben mit wenig Abkühlung, weil eine warme Südwestströmung weiterhin feuchte Luftmassen ins Land schaufelte. Gewitter wurden erst für den nächsten Nachmittag erwartet.
Vollmond, auch das noch, brummelte Svenja, als sie den Fernseher ausschaltete. Sie nahm den schmutzigen Teller, löschte das Licht und ging in die Küche, wo sie ihren Teller zum Frühstückgeschirr vom Morgen in die Spüle stellte. Abwaschen kann ich auch morgen noch, dachte sie. Die verschwitzten Chucks mussten die Nacht zum Lüften auf dem Balkon verbringen. Danach verschwand sie im Bad.

Vom Schlafzimmerfenster aus blickte sie in den dunkelblauen Nachthimmel, über den nur vereinzelt, wie tiefgraue Schatten, ein paar Wolken zogen. Der volle Mond war noch ein kleiner, rötlich-gelber Ball hinter dem Dunst des Horizontes. Sie brachte das Fenster in Kippstellung und ließ den Rollladen bis zur Hälfte herunter. Ganz herunterlassen wollte sie ihn trotz des Vollmondes nicht, da sie sonst das Gefühl überkäme, ersticken zu müssen. Dass auf diese Weise nachherviel Licht ins Zimmer fallen würde, war ihr klar, aber sie musste zwischen zwei Übeln wählen. Nur mit ihrem Slip bekleidet ging sie zu Bett und zog das dünne Laken, das ihr als Zudecke diente, über die Beine bis zum Bauch. Noch war es dunkel im Zimmer, doch in ein, zwei Stunden würde sich das ändern. Mit der Frage, ob sie die halbe Nacht wieder kein Auge zu bekommen würde, war sie eingeschlafen.

Svenja wurde wach, als sie jemanden ihren Namen rufen hörte. Sie war sich nicht ganz sicher, ob das nun real oder nur ein Traum war. Das Grün der Leuchtziffern ihres Weckers tanzte vor ihren Augen. Ein paar Sekunden später las sie 1 Uhr 17. Es war inzwischen kein bisschen abgekühlt. Im Gegenteil, so muss sich ein Brot fühlen, kurz bevor der Bäcker die Ofenklappe wieder aufmachte. Nur ein Fuß war noch vom Laken bedeckt, der Rest des Tuches war aus dem Bett gerutscht. Unter ihrem Kinn und unter ihren Brüsten stand der Schweiß. Gerade als sie überlegte, aufzustehen um sich mit kaltem Wasser ein wenig Linderung zu verschaffen, hörte sie wieder diese angenehm tiefe Männerstimme, die ihren Namen rief. Gleichzeitig kam von oben ein leises Poltern, als wäre jemand gegen einen Stuhl gestoßen. Aber das konnte gar nicht sein. Über ihr war der Dachboden. Dort wohnte niemand. Außer Staub und Spinnweben gab es dort auch nichts, wogegen jemand stoßen könnte. Während sie noch über eine Alternative nachdachte, rumpelte es erneut, und sie hätte schwören können, dass ein Mann ihren Namen gerufen hatte. Sie war jetzt hellwach, und da sie keine ängstliche Natur war, wollte sie dieser Sache sofort auf den Grund gehen.
Im Bad zog sie T-Shirt und Shorts an, nahm ihre roten Chucks vom Balkon und schlüpfte hinein. Sie ersparte sich das Zubinden. Die Schnürsenkel wurden einfach seitlich in den Schuh gestopft. Dann schlich sie sich aus der Wohnung und ging leise bis zum Ende des Flures, wo sich in der Decke die Luke zum Dachboden befand.
Sie zog an der Kette und die Metallleiter sank quietschend und ruckend vor ihre Füße. Bevor sie hinauf ging, lauschte sie ins Treppenhaus – doch alles war ruhig. Als ihr Fuß die erste Stufe berührte, kamen erneut von oben Geräusche. Diesmal glaubte sie Schritte gehört zu haben.
Als Angst würde sie das ungewohnte Gefühl, das sie in diesem Moment überkam, nicht bezeichnen, aber ihr Puls legte an Tempo zu. Sie kletterte an der senkrecht herabhängenden Leiter hoch, drehte den Riegel der Luke und drückte diese vorsichtig auf. Ein angenehm kühler, betörend duftender Hauch erreichte ihre Nase. Sie zog sich an den Rändern der Luke hoch und schlüpfte mit pochendem Herzen auf den Dachboden. Der Raum war in ein diffuses, türkisfarbenes Licht getaucht.
Svenja war wie in Trance, als sich langsam eine Gestalt, wie aus einem Nebel heraus auf sie zu bewegte. Furcht jedoch empfand sie immer noch nicht. Im Gegenteil, sie war fasziniert von dem Anblick dieses Wesens und fühlte sich tief in ihrem Inneren zu ihm hingezogen. Ein Lächeln lag auf ihren zarten, jugendlichen Zügen, als sie seine Stimme hörte: „Svenja, meine geliebte Jungfrau.“ Die fremde Gestalt kam langsam auf sie zu.
Sie sah nicht den Dämon, der er war, nackt, einen Kopf kleiner als sie, von tiefen Narben am ganzen Körper entstellt. In ihren Augen war er in diesem Augenblick der Prinz aus ihren sehnsuchtvollsten Träumen. Der Ritter und Held, der sie auf sein stolzes Ross hinaufzog und mit ihr in den Sonnenuntergang ritt.
Der Alb umarmte sie mit seinen muskulösen, von warzigen Furchen durchzogenen Armen, und sie küssten sich voller Leidenschaft. Ohne von ihr zu lassen, zog er sie unter eines der Dachfenster, das durch Ruß und Staub getrübt, nur einen Schimmer des Vollmondlichtes hindurch ließ. Er öffnete den Riegel des Dachfensters und ließ es herunterklappen. Einander an den Händen haltend, schwebten beide Körper durch den eigentlich viel zu engen Durchlass hinaus in die schmeichelnde Atmosphäre dieser magischen Nacht. Sanft legte er Svenja auf die Ziegel. Deren unebene Form und die Neigung des Daches waren für das Mädchen nicht vorhanden. Sie war völlig dem Zauber dieses Nachtwesens erlegen, und glaubte sich auf weichem Moos gebettet, mitten in einem lichtdurchfluteten Wald.
Mit flinken Klauen entkleidete er das Mädchen in sekundenschnelle, ohne dass sie ihm Widerstand entgegen gebracht hätte. Svenja schloss lächelnd ihre Augen und öffnete ihren Schoß.
„Svenja, meine schöne Jungfrau. Heute Nacht gehörst du mir“, raunte ihr der Dämon ins Ohr.

Als Svenja am Morgen erwachte, fröstelte sie. Das Laken lag auf dem Boden.
Trotz Vollmond und tropischer Nachttemperaturen fühlte sie sich ausgeschlafen und voller Energie. Da sich ihre Blase meldete, stand sie auf und ging zur Toilette. Bilder eines Traumes der letzten Nacht stiegen in ihr auf und sie musste lächeln. Der große, gutaussehende Typ hatte nicht lange gefackelt und sie hatten sich auf einer kleinen, moosbewachsenen Waldlichtung geliebt. Wieder und wieder hatte er sie, wie in einem Rausch, von einem Höhepunkt zum nächsten getrieben.
Svenja seufzte. Ja, ein schöner Traum. Aber diesen Helden gab es in ihrem wirklichen Leben nicht – noch nicht. Für einen One-night-stand war sie sich zu schade, und außerdem war sie viel zu wählerisch, um sich einzulassen.
Später, als sie geduscht und angezogen war, wollte sie ihre Chucks vom Balkon holen. Doch da stand nur noch einer.

Der Zweite, der ein paar Meter über ihr auf dem Dach lag, hätte ihr sagen können, dass Träume nicht immer nur Schäume sind.
 



 
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