Der Schulweg

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Der Schulweg dunkelt aus dem Licht geneigt.
Gesäumt von diesen alten, kalten Schneegestalten.
Und das Gestöber murmelt und es schneit.
Erdrückend, wie aus Sorgenfalten,
fällt der Schnee und liegt und schweigt.
Gewaltig aufgetürmte Urgewalten.

Die Alte zieht die Hand zurück
und lässt das kleine, warme Glück erkalten.
Es scheint als würde ihr das Kind,
wenn sie es an den Wald vertraut, geraubt.
Das Händchen kalt, sobald sie es verlässt.
Und dieses kleine warme Lächeln blaut,
alsbald der Graupel es benetzt.

Zuletzt: Der Weg, der jeden heimtückisch verletzt,
der seine Tarnung nicht durchschaut.
So wie ein Wolf ein Lamm umkreist:
Geduldig, leis, und es erst reißt,
wenn es sich sicher meint.

Die Kleine weint.
Sie kann den Ranzen grade halten
und muss allein durch diese Dunkelheiten ziehen.
Und vor den dunklen Schatten auf den Wegen,
jenen Schreckgestalten will sie fliehen.

Geräusche kommen und sie bleiben.
Tiefer, fremd und nicht von Dingen oder Tier.
Als wenn Dämonen tanzen und sich weiden
an ihres Kinderschluchzens stiller, banger Zier.

Die alte wankt.
Sie weiß wohl um die Tiefe in den Weiden
und in dem alten, knorrigen Geäst.
Gilt es der Kleinen, diesen Weg durchleiden,
so halte sie sich ganz an ihrem guten Beten fest.

So wie sie selber einst die Hand der kranken Mutter fasste;
und deren Sterben schrie in ihrer Brust.
Und wie die Mutter ihr im Arm erblasste
und sie nur spürte, dass sie stark sein muss.

Nicht um dem Tode zu entkommen,
nicht um mit ihm zu streiten und zu handeln.
Nicht um die Zeiten, die an seiner Sense schon zerronnen,
zu begreifen, zu beweinen, zu verhandeln.
Nur um den Weg mit etwas zu besonnen,
das frei wird, wenn wir uns in ihm
verwandeln.

So wandeln sich auf ihrem Weg die Schreckgestalten,
die weiß und prunkend in dem ersten Licht der Sonne stehen.
Da glätten sich des Himmels Sorgenfalten;
beginnt das Gurren und das Auferstehen.
Und kommt nach all dem Spielen auf den Wegen
das Schulhaus schon in ihren wilden Wälderblick,
sie möchte nur noch etwas in der Mythe leben
das Kichern eines ganzen Waldes
im Genick.
 
Zuletzt bearbeitet:
hi @Sidgrani

vielen Dank für Deinen Leseeindruck.

Vermutlich drängen sich die großen Themen im Leben (Heranwachsen, Wurzeln schlagen, aus der Welt herauswachsen - um im Bild des Waldes zu bleiben) immer auch mit einem "unguten" Gefühl auf und meist sind die Dinge nicht (nur) was sie zu sein scheinen.

mes compliments

Dio
 
Hallo Dio,

ich wandele bereits seit gestern auf Deinem Schulweg und genieße ihn sehr, da es in meinen Breiten weder Wölfe noch Schnee gibt. Und alle bebrillten Rotkäppchen sind hier auf ewig an die Hände ihrer maskierten Mütter (bzw. Gouvernanten) gekettet, wenn sie zur teuren Nachhilfestunde rennen.

Dies ist ein sehr reiches und sehr tiefsinniges Gedicht! Eine kleine Frage habe ich zu "Gilt es der Kleinen, diesen Weg durchleiden,". Mein grammatischer Instinkt (-- aber ich kenne die deutsche Sprache fast nur noch aus verstaubten Büchern --) erwartete einen Infinitiv, der hier rhythmisch allerdings unbeholfen klänge. "Es gilt mir, dies aufzuzeigen", oder "jetzt gilt: Durchhalten!" Kann man sagen "Es gilt mir, Chopin spielen"? Aber das ist natürlich Haarspalterei.

Sehr gern gelesen!
LG
RP
 
Hi @Rolf-Peter Wille RP

herzlichen Dank für deine spritzig witzige Rückmeldung. Ich habe zwischenzeitlich ein bisschen auf deiner Internetseite geklickt und bin total begeistert!! Deine Analyse zu Rilkes Herbst hat es in sich. Die Parallele Im bachmann Text- wunderbar!

Wo ich ja gerade wieder so eine chopin Phase habe : kann man dich irgendwo die heroique spielen hören?? Ich taumele mittlerweile zu häufig abends zwischen horowitz und Argerich und könnte jemanden gebrauchen, der mich befreit…

(Schau mal dieses Lächeln bei 5:32 ist das nicht Wahnsinn??

und hier der letzte Akkord bei 1:36 (der Dichter spricht)!! Hat schumann das wirklich so notiert ? Ich finde das einfach unfassbar ergreifend

)

Es freut mich sehr, dass dich der Schulweg etwas beschäftigen konnte. Mit deiner scharfsinnigen Analyse hast du völlig recht und ich war wieder mal ein Narr zu glauben ich hätte unentdeckt damit durchkommen können. Eigentlich gehört da ein „zu“ hin ABER (es folgt der Versuch einer Verteidigung) WENN man „gilt“ als „muss“ übersetzen würde ( die kleine hat ja keine Wahl) dann KÖNNTE „gelten“ hier vielleicht als Modalverb durchgehen und das „zu“ straffrei fehlen? Ansonsten berufe ich mich auf den Tatbestand eines „altertümelns“. Bei Goethe hab ich das nämlich auch schonmal so gelesen ;-)

Merci - so schön dass du die LL mit deinen Sachen bereicherst!!

mes compliments

dio
 
Zuletzt bearbeitet:
Hallo Dio,

Rilke Analyse: oh, vielen Dank für's Lesen!

Chopin: Die Heroique spiele ich leider nicht (...nur oft unterrichtet). Die Oktaven habe ich natürlich probiert. In der Tat: Marthas Gesicht ist ein Lächeln und ihre Oktaven sind ganz Argerich. Bei mir eher umgekehrt: ganz ärgerlich das Gesicht doch die Oktaven lächerlich :rolleyes: ...
Es gibt Liszts Funerailles von mir auf YouTube. Die Oktaven da sind ja fast wie die in der Polonaise. Die Aufnahme ist aber aus dem letzten Jahrhundert. Ich habe andere Chopin Werke, Balladen, Fantaisie, 2. Sonate, etc. Vieles habe ich hier gesammelt: Rolf-Peter Wille, piano . Anderes ist unter Rezitationen: Recitations and Melodramas .

Grammatik: Ich glaube, die grammatisch "richtige" Form ist oft nur die rhetorisch langweiligste. Ich hatte wohl beim ersten Lesen das Wort "gilt" rückbezogen auf das Wanken der Alten und ihr Wissen um die Tiefe in den Weiden.


LG
RP
 

petrasmiles

Mitglied
Erinnert mich eindeutig an den 'Knaben im Moor', bei dem der Reimfluss das Atemlose hervorragend vorangetrieben hat. Erschien mir immer sehr flüssig.
Deinen Text finde ich tiefer, man muss verweilen, das Gefühl geht in die Breite der Situation, will (oder kann) nicht flüchten, rennen, ans rettende 'Ufer'.
Es ist 19. Jahrhundert, und doch modern.
Die übermächtigen Naturgeister drehen nicht nur 'den Haspel im Geröhre!'
Ich glaube, diese Kinderangst ist der Vorläufer von Respekt.

Nur um den Weg mit etwas zu besonnen,
das frei wird, wenn wir uns in ihm
verwandeln.
Das ist es doch.

Liebe Grüße
Petra
 
hi

@Rolf-Peter Wille rp herzlichen dank für den witzigen kommentar . ich finde es ja immer ein zeichen von charakter, wenn man sich selbst nicht zu ernst nimmt aber die links - wunderbares Spiel bin hingerissen …

bei der grammatik bin ich in vielen fällen ganz bei dir - manche (grammatikalisch falschen) wendungen können manchen stücken gerade die richtige stimmung mitgeben . wunderbar - an deiner fundgrube werde ich mich noch lange erfreuen merci !

@petrasmiles

vielen dank für den profunden kommentar. ich habe gerade das gedicht von anette von droste nochmal gelesen obgleich es nicht pate gestanden hat - und würde auch sagen dass teile des sujets überlappen. ich meine auch dass das kind in meinem text im wald unumkehrbar „berührt wurde„ die abgrenzung zwischen den welten ist stärker aufgelöst und bleibt selbst nach der rückkehr noch - als habe die wandlung schon eingesetzt. ein sehr interessanter gedanke dass aus dieser form der angst respekt entstehen kann. ich würde dem zustimmen, gerade insofern hier das reifen , die erfahrung und die wandlung dadurch eine wichtige rolle zu spielen scheint. auch finde ich im ursprünglichen wort einiges im gedicht angelegt; respectus - zurückschauen, rücksicht.

merci

mes compliments

dio
 

wiesner

Mitglied
ich finde es ja immer ein zeichen von charakter, wenn man sich selbst nicht zu ernst nimmt

ich nehme mich immer ernst
sonst machts ja keiner

wenn schon methusalemisch in sachen Chopin dann Arthur Rubinstein
'neu' soll es Murray Perahia sein
ist kein befehl ;)

gruß
wiesner

ach so: das gedicht ist mir entschieden zu lang und mühselig am monitor zu lesen
bin buchleser
 
ich nehme mich immer ernst
sonst machts ja keiner
Hi Wiesner ist doch schonmal ein Anfang ;)

Die Pianisten die du anführst sind auch Weltklasse. Für mich geht aber nichts über Martha und Vladimir bei chopin

dass du Gedichte an Bildschirm nicht liest wenn die zu lang sind hat mich überrascht. Ist aber für mich okay. Bei uns sagen sie immer „jeder jeck is anders“ in diesem Sinne: Stössje. Auf die gute alte Bücherwand (da kann man sich auch mal festhalten wenn’s mal wieder etwas zu viel Kölsch gewesen sind)

Mes compliments

Dio
 
Hi alle,

Pianolupe: wenn Chopin, dann hört doch mal Alfred Cortot, Ignaz Friedman (Mazurkas!!!), Benno Moiseiwitsch, Josef Hofmann, Raoul Koczalski. Ein wirklich guter Pianist kann immer nur ein toter sein ;)... bzw. Tirez sur le pianiste (?)
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Leselupe: Bei "Knabe im Moor" fällt mir auch Hebbels brutaler (und genialer) Heideknabe ein (warning: graphic content :eek: ).
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Chemielupe: ... ? :oops:

LG
RP
 
Lieber rp @Rolf-Peter Wille ich sage merci für die weiteren Inspirationen rund um die Themen . Ich höre gerade auf deine Empfehlung also Friedmann und lese dass er die Mazurka in seiner Jugend selber getanzt hat - lebendig !!! Dazu ein leichter cloudy Bay und ein schönes warmes Feuer .. so lässt sich der kalte Oktober Regen gut trocknen

Mes compliments

Dio
 

Anni123

Mitglied
eine packende und berührende Ballade, wie ich meine. Selten liest man sowas noch. Dionysos. Inhaltlich hat wohl jedes Kind auf dem dunkeln, kalten Schulweg Angst gehabt. Das ist wohl ein Stück Kindheit in jedem, der nicht mit dem SUV in die Schule gefahren wurde. LG von Anni
 



 
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