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Der Strauch der Erinnerung
Am Rande eines großen, dunklen Waldes lebte einmal ein Zwerg. Er arbeitete viel auf dem Feld und liebte die Natur. Nur den Menschen gegenüber war er etwas mürrisch und verschlossen, obwohl nicht viele Wanderer an seiner einsamen Hütte vorbei kamen.
Eines späten Abends klopfte es an die Tür und er schreckte von seinem Lehnstuhl hoch, auf dem er eingedämmert war. Er stand auf und öffnete. Ein wettergegerbter Mann mit einer groben, braunen Kutte und einem großen Rucksack bat um ein Nachtlager.
Was er ihm dafür bieten könne, fragte der Zwerg misstrauisch.
„Ich habe kein Geld“, sagte der Wanderer, „aber dafür eine richtige Antwort auf jede Frage der Welt."
„Davon kann ich mir nichts kaufen“, grummelte der Zwerg. „Aber ich kann dich wohl kaum in der Kälte schlafen lassen. Ich will sehen, ob ich noch etwas Suppe übrig habe.“
„Das ist sehr freundlich von dir“, sagte der Wanderer und trat ein. „Hast du denn keine Frage, die dich quält? Mir ist nichts zu schwierig!“
„Du nimmst den Mund ganz schön voll!“ Der Zwerg kratzte sich den Bart, während der Wanderer die Gemüsesuppe schlürfte. „Ich habe schon seit langem eine Frage, aber die wirst auch du mir nicht beantworten können. Vor langer Zeit habe ich etwas ganz Wichtiges vergessen. Etwas, das meinem Leben erst richtig Sinn gegeben hat. Aber so sehr ich mich bemühe, es will mir beim besten Willen nicht mehr einfallen. Was das wohl gewesen sein mag?“
Der Wanderer zog die Stirne kraus. „Das ist in der Tat eine schwierige Frage. Lass mich eine Nacht darüber schlafen. Dann werde ich versuchen, dir eine Antwort zu geben. Ich will morgen früh aufstehen, damit ich den Wald in einem Tag durchqueren kann.“
Am nächsten Morgen weckte der Zwerg den Wanderer schon sehr früh und begehrte die Antwort auf seine Frage. Sein Gast gähnte verschlafen und sagte: „Ich habe darüber nachgedacht und Gott gebeten, dass er die Antwort in dieses Samenkorn legt. Setz es ein und hege es gut. Übers Jahr wird ein Strauch daraus, und wenn er dann Frucht trägt, wirst du die Antwort wissen. Dann komme ich zurück und nehme mir ein Samenkorn des Strauchs wieder mit.“
Der Zwerg dachte zuerst, der Wanderer mache sich einen Spaß mit ihm. Doch als er sah, wie das Samenkorn in seiner Hand in allen Farben schillerte und glänzte, wusste er, dass es ein besonderer Strauch war. Er versprach dem Wanderer, das Samenkorn am besten Plätzchen in seinem Garten zu säen und es täglich zu gießen, damit es gute Frucht trage.
„Sehr gut!“, lobte der Wanderer, „Wenn es Frühjahr wird, besuche ich dich wieder, und du wirst die Antwort wissen. Darauf gebe ich dir mein Wort.“
„Und du wirst als Dank ein Samenkorn des Strauchs bekommen. Darauf gebe ich dir meins!“,(Komma weg) erwiderte der Zwerg, und sie reichten sich die Hände.
Der Zwerg tat wie versprochen und grub den schillernden Samen in der schönsten Ecke des Gartens ein. Jeden Abend, wenn er von der Arbeit am Feld zurückkam, goss er fürsorglich die Erde in der Hoffnung, bald einen ersten Trieb zu Gesicht zu bekommen. Doch über zwei Monate vergingen und nichts war zu sehen. Da streichelte der Zwerg den Boden, in dem das Samenkorn lag und sprach: „O besondere Pflanze! Magst du denn nicht wachsen? Es wird schon bald Sommer!“
Und plötzlich erinnerte er sich an ein altes Zwergenlied, das man für Kinder sang, die wachsen sollten, und summte es dem Samenkorn vor.
Siehe da, am nächsten Tag drang ein winziges grünes Blättchen an die Oberfläche. Der Zwerg freute sich sehr und beschloss, dem kleinen Strauch jeden Tag ein Lied vorzusingen, auf dass er gut wachse.
Und jeden Abend fiel ihm ein neues Lied ein, das er schon lange nicht mehr gehört oder selbst gesungen hatte. Mal war es eine traurige Melodie, mal eine lustige. Doch immer war der Zwerg glücklich, es singen zu können. Mit jedem Lied wuchs der Strauch ein Stückchen mehr. Mal etwas gewunden, mal stracks geradeaus. Doch immer mit vollen, kräftigen Blättern in Herzform. Die fand der Zwerg besonders hübsch, denn solche Blätter hatte er noch nie zuvor gesehen.
So zogen die Monate ins Land, bis es Herbst und der Strauch mannshoch wurde. Der Zwerg fuhr die Ernte ein und untersuchte den Strauch am Abend genau, ob er nicht schon Frucht trage. Aber nichts war zu finden. Da seufzte der Zwerg und sagte sich, dass es wohl daran liege, dass er erst so spät im Frühjahr gewachsen sei und noch Zeit brauche. So sang er weiter jeden Abend seine Lieder, oft bis tief in die Nacht.
Schließlich fiel der erste Schnee und es wurde bitterkalt. Der Strauch jedoch blieb weiter grün und trug noch keine Frucht. Der Zwerg zündete ein Lagerfeuer an, um den Strauch warm zu halten. Er selber fror im Bett, weil er das Feuer im Ofen während des Singens hatte ausgehen lassen. Nach ein paar Wochen wurde er jedoch sehr krank und war zu schwach, um vor die Tür zu gehen.
Als er endlich gesund wurde, war der Schnee schon fast wieder geschmolzen. Er eilte aus dem Haus, um zu sehen, wie es seinem geliebten Strauch ging. Doch o Schreck: Schnee und Frost hatten die Zweige geknickt und verdorren lassen. Die wunderschönen herzförmigen Blätter hatten Rehe gefressen. Nur noch ein trockener, kümmerlicher Rest stak tot in der Erde.
Da weinte der Zwerg bitterlich und sang mit lauter Stimme ein uraltes zwergisches Totenlied. Drei volle Stunden lang erklang seine tiefe Stimme bis weit in den Wald hinein, während ihm dicke Tränen über die Backen liefen. Als er geendet hatte, fiel ihm ein, wann er das Lied das letzte Mal gesungen hatte, und noch viel mehr. Das war es gewesen, woran er sich vor Schmerz so lange nicht mehr hatte erinnern können:
Er war ein berühmter Sänger im Zwergenland gewesen und hatte das schönste Zwergenmädchen der Stadt geheiratet. Sie hatten sich sehr geliebt, doch sie starb ein Jahr später mit ihrem Erstgeborenen im Kindsbett. An ihrem Grab sang er das Totenlied und schwor sich, nie wieder vor anderen Leuten zu singen. Er verließ die Stadt, ging in den Wald und wollte dort sterben. Nachdem er sich ins Moos gelegt hatte, schlief er ein und wachte erst nach Tagen auf, als ihm Regen das Gesicht benetzte. Er setzte sich verwundert auf und wusste nicht, wer er war und wie er dorthin gekommen war. Am anderen Ende des Waldes baute er sich ein Haus und war darob zufrieden.
Als ihm das alles wieder eingefallen war, wurde der Zwerg ganz still. Er wusch sich sein Gesicht und suchte im Wald einen schönen, glatten Stein. Den schleppte er in den Garten, wo der tote Strauch lag und meißelte den Namen seiner Frau hinein. Als er die trockenen Zweige zum Kompost werfen wollte, fiel ihm auf, dass sich auf einem eine einzelne kleine Knospe befand, und in ihr ein schillerndes Samenkorn.
Es dauerte nicht lang und der Wanderer kehrte zurück. Der Zwerg begrüßte ihn traurig. „Hier hast du dein Samenkorn. Es ist das einzige, das mir vom Strauch geblieben ist.“ Und er erzählte dem Wanderer, was passiert war.
„Alles, was ich geliebt habe, habe ich verloren. Nichts, was mir wichtig war, ist noch bei mir. Hätte ich dich doch nie gefragt, was ich vergessen hatte!“, schluchzte der Zwerg und vergrub das Gesicht in seinen Händen.
„Du hast dein Wort gehalten, dafür danke ich dir. Aber hast du nicht gesehen“, fragte der Wanderer, „dass dein Apfelbaum heuer andere Blätter trägt als sonst? Und die Radieschen treiben diesmal auch anders aus.“
Der Zwerg sah sich verwundert um. In der Tat, an allen Pflanzen um ihn herum sah man hie und da herzförmige Blätter sprießen.
„Siehst du“, sprach der Wanderer, „es bleibt immer etwas von der Liebe. Sie überträgt sich auf alles herum. Wenn man dich genau ansieht, könnte man meinen, dass auch dein Bart herzförmig wächst. Doch jetzt, mein Guter, sing mir doch etwas Schönes vor, so wie du es mit dem Strauch gemacht hast.“