Nicole Nohr
Mitglied
Der Tejináshi des Vesuv
Süditalien. Unendliche Weiten. Himmlische Ruhe.
Ich blieb einen Moment stehen, schloss die Augen und versuchte diese Stimmung einzufangen. Tief inhalierte ich die saubere Luft, die dort auf knapp 1200 Meter Höhe frisch und dennoch wärmend um meine Nase wehte.
Könnte es doch immer so sein, dachte ich gerade wehmütig, als die Idylle durch lautes Keuchen und Schnaufen unterbrochen wurde. Seufzend öffnete ich die Augen und stellte mich dem Grauen, das mich nun erwartete.
Dieses Grauen offenbarte sich mir heute durch eine Gruppe schwitzender Touristen. Bunt gekleidet, und mit Sonnenbrillen und Fotoapparaten bewaffnet, sah die etwa zwanzigköpfige Gruppe wie eine Karikatur aus einem schlecht gemachten Hollywoodfilm aus.
Die buntgewürfelte Schar kämpfte sich das letzte Stück des steilen Wegs hinauf und somit dem Ende des Aufstiegs entgegen. Eines Aufstiegs, der sich schon alleine wegen der herrlichen Aussicht auf die Landschaft Süditaliens lohnte. Doch für so etwas hatten die meisten dieser Pauschaltouristen keinen Sinn. Und mir blieb leider keine Zeit mehr, den Ausblick zu genießen. Die Arbeit rief.
„Willkommen auf dem Gipfel des Vesuv“, begrüßte ich die Touristengruppe, die sich langsam um mich scharrte, und begann damit mein übliches Programm. „Der Vesuv, östlich von Neapel gelegen, ist einer der größten Vulkane Europas. Seine Höhe veränderte sich im Laufe der Jahrhunderte von Ausbruch zu Ausbruch. Momentan befinden wir uns auf knapp 1277 Metern. Der erste registrierte Ausbruch fand zur Zeit Neros im Jahre 63 nach Christus statt, wo er einen großen Teil Pompejis - eine der blühensten Städte der damaligen Zeit - unter sich begrub. Zwei Jahre später löschte der Vesuv die Stadt dann komplett aus und riss Tausende Menschen in den Tod…“
Ich fuhr mit meinem Vortrag fort und schaute dabei in die Runde. An den Minen der Leute konnte ich erkennen, dass sie nur einen Bruchteil von dem, was ich gerade erzählte, aufnahmen – und wahrscheinlich noch weniger davon verstanden oder im Gedächtnis behalten würden. Aber was sollte ich machen? Erstens bezahlen die Leute mich für den Vortrag und zweitens hatte ich mir den Beruf schließlich ausgesucht. Als Sohn einer italienischen Mutter und eines deutschen Vaters war ich nämlich zweisprachig aufgewachsen und somit bestens für den Job qualifiziert. Gerne hätte ich etwas anderes, etwas vernünftiges gelernt, aber das Schicksal hatte es so gewollt.
„Der letzte Ausbruch des Monte Vesuvio, wie wir Italiener ihn nennen, fand im März 1944 statt, bei ihm kamen 26 Menschen ums Leben. Dieser bisher letzte größere Ausbruch gab dem Vulkan sein heutiges Aussehen.“ Damit beendete ich meinen kleinen Vortrag und freute mich schon auf ein paar Minuten zum Verschnaufen. Mit fünfundfünfzig Jahren war ich immerhin nicht mehr der Jüngste und schaffte den Aufstieg nicht mehr problemlos.
„Haben Sie noch irgendwelche Fragen? Falls nicht, gebe ich ihnen Zeit, die wunderschöne Landschaft zu genießen. In dreißig Minuten machen wir uns dann wieder an den Abstieg.“
Niemand schien Fragen zu haben, das war gut. Ich wollte mich gerade abwenden und es mir an einem kleinen Felsvorsprung gemütlich machen, als ich sie wieder hörte, diese Stimme, diesen Akzent, der mich schon während des Aufstieges so genervt hatte: „Entschuldigen Sie, Antonio-San!“ „Herr Iwasaki, was kann ich für Sie tun?“ Die einzigen Japaner in der Gruppe, Herr Iwasaki aus Tokio und seine Frau, standen vor mir. An diesem Tag blieb mir aber auch nichts erspart. Während des ganzen Aufstieges hatten die beiden – die angeblich kein Wort Deutsch sprachen und nur Bilder knipsen wollten, wie ihr Reiseleiter mir versichert hatte – mich genervt. Ihr Vulkan, der Fujijama, sei ja viel, viel interessanter und schöner und überhaupt. Hier wäre es langweilig usw. …
Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Im Grunde genommen, konnte mir ihre Meinung ja egal sein. Nach dem Abstieg würde ich sie niemals wieder sehen. Sollten sie doch denken, was sie wollten. Wenn sie der Meinung waren, dass „ihr“ Fujijama der bessere Vulkan sei, konnte ich damit leben. Ich fragte mich nur, warum sie dann diese Reise überhaupt gebucht hatten. Herr und Frau Iwasaki schienen anders als andere Japaner zu sein. Ihre Landsleute reisten einmal in ihrem Leben nach Europa und besuchten dort in zehn Tagen 26 Länder. Nein, ihr Programm war anders, denn sonst hätten sie sich für den Aufstieg hierher keine Zeit genommen.
„Antonio-San, wann wir sehen den Krater?“, fragte Frau Iwasaki schüchtern und riss mich aus meinen Gedanken. „Der Krater ist dort hinten. Wenn Sie möchten, bringe ich Sie hin.“ Scheinbar hatte ich gerade meine soziale Ader entdeckt, anders konnte ich mir meine Nachgiebigkeit nicht erklären. „Das sehr nett von Ihnen sein, Antonio-San.“ Herr Iwasaki machte ein paar hektische Verbeugungen und folgte mir. Seine Frau schlich hinter uns her.
„So, da sind wir“, erklärte ich, als wir an den Rand des Sprengtrichters von fast vier Kilometer Durchmesser angelangt waren. „Passen Sie auf, dass Sie nicht so nahe herantreten, sonst fallen Sie noch hinein.“ Die Japaner nickten heftig und stellten sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können. Ihre gerade noch hellauf begeisterten Mienen verdunkelten sich und ich ahnte Schlimmes. Gedanklich bereitete ich mich schon auf eine erneute Tirade a la „Unser Fujijama ist aber viel aufregender“ vor und musste auch nicht lange darauf warten. “Antonio-san? Machen Sie Scherz?“, fragte Herr Iwasaki. „Nein“, antwortete ich verwundert. „Wie kommen Sie denn darauf?“
„Nun, dieses schwarze Loch ist nicht Krater des berühmten Vesuv. Ist langweilig, dunkel und schwarz. Zeigen Sie uns richtige Krater!“
Ich war wütend, verkniff mir aber ein verächtliches Lachen und sagte mit neutraler Miene: „Das ist der Krater, Herr Iwasaki. Dieser Kessel hier baut sich über der Ruine eines älteren Vulkans auf, was eine Seltenheit ist und ihn somit zu…“ Ich wollte erklären, dass er damit etwas ganz Besonderes war, wurde aber von Herrn Iwasaki heftig kopfschüttelnd unterbrochen. „Nein, nein, Antonio-san. Der hier ist langweilig. Ich mich fragen, warum wir Zeit mit Aufstieg verschwendet haben. Bei uns in Tokio, ist Fujijama. Der seien viel interessanter. Nicht so…“ Er schien nach den richtigen Worten zu suchen, um dieses – in meinen Augen einmalig schöne Bild des Kraters - zu beleidigen. „Nicht so schwarz und…und… hässlich!“
Damit war es heraus. Meine Abneigung gegen den Asiaten wurde größer und größer. In Gedanken suchte ich vergeblich nach etwas, womit ich diesen kleinen Iwasaki, der mir gerade Mal bis zur Brust reichte, zum Schweigen bringen konnte – wenn es sein musste, mit Gewalt. Aber meine gute Erziehung verbot es mir. Stattdessen erinnerte ich mich plötzlich daran, was mein Großvater mir einmal gezeigt hatte, als wir – ich war gerade vier Jahre alt – zum ersten Mal gemeinsam hierher gekommen waren. Unschlüssig, ob ich es wagen konnte, zögerte ich einen Moment. Dann beschloss ich, es wenigstens zu versuchen.
„Herr Iwasaki“, sagte ich und kramte umständlich in meiner Tasche nach einem Blatt Papier. „Ich akzeptiere Ihre Meinung, doch bitte ich Sie, mir noch einen Augenblick Ihrer kostbaren Zeit zu widmen. Vielleicht kann ich Ihre Meinung ja ändern.“ Beide Japaner schauten mich skeptisch an. Aber schlussendlich nickten sie. Herr Iwasaki verschränkte die Arme vor der Brust, während seine Frau mich neugierig anschaute. Mittlerweile waren noch einige aus der Reisegruppe zu uns getreten und beobachteten mich interessiert.
Jetzt nur nicht nervös werden, Antonio!, sagte ich mir und fuhr mit der Hand über den nackten Felsen. Als ich eine geeignete Stelle gefunden hatte, nahm ich das Blatt Papier, hielt es einen Moment demonstrativ der Gruppe entgegen und drückte es dann vorsichtig gegen den Lavafelsen. Ich zählte leise bis zehn, durchbohrte dabei das Blatt Papier mit meinen Blicken und hoffte inständig, dass mein kleines Experiment funktionieren würde. Ich spürte die Blicke der anderen in meinem Rücken und bekam vor Nervosität schweißnasse Hände.
Dann passierten viele Dinge gleichzeitig. Zuerst begann das Blatt rot zu glühen, dann hörte ich leise „Oh“ und „Ah“ Rufe hinter mir. Das Glühen wurde heller und heller, bis das Blatt plötzlich leise zischend zu brennen anfing. Die Rufe meiner Reisegruppe wurden lauter und aufgeregter. Ich drehte mich um und hielt Herrn Iwasaki das Papier entgegen. „Was sagen Sie nun?“, lächelte ich und fügte in Gedanken grimmig „Sie Banause“ hinzu. Iwasaki wich zurück. Er packte seine Frau am Arm und zerrte sie eilig ein paar Schritte fort, seine Augen in schierem Entsetzen geweitet.
Mir der plötzlichen Ruhe bewusst werdend, überlegte ich einen Moment, ob es klug gewesen war, dieses kleine Zauberkunststück vorzuführen. Unter den zweifelnden Blicken kam ich mir vor wie eine Hexe, die gerade entlarvt und dann zum Scheiterhaufen geführt wurde.
Das Papier fing heftiger zu brennen an und ich spürte schon die Hitze an meinen Fingern. Reflexartig ließ ich es fallen und beobachtete, wie die Flammen nur mehr einen Haufen schwarzer Asche zurück ließen, der langsam vom Wind erfasst und mitgerissen wurde.
Während ich noch der Asche nachblicke, erklang leiser Applaus. Zunächst waren es nur zwei Hände, die aufeinander geschlagen wurden, dann gesellten sich immer mehr hinzu und fielen in das rhythmische Klatschen ein. „Bravo, Antonio!“ Ein junger Blondschopf warf begeistert seine Baseballmütze in die Luft, Hände schlugen mir auf die Schulter. Langsam ließ das beklemmende Gefühl in meiner Brust nach und verwandelte sich in Stolz. Stolz und Freude darüber, dass ich diesen Leuten doch noch etwas Besonderes hatte bieten können.
Ich wandte mich um und nickte dankbar. „Antonio-san, das war wirklich sehr gute Zaubertrick!“ Herr Iwasaki war an mich herangetreten und versuchte mit seinem kurzen Arm meine Schulter zu erreichen. Er schaffte es nicht und klopfte mir stattdessen auf den Rücken. „Warum Sie nicht haben gesagt, dass dies Zauberberg und Sie Zauberer sein?“, fragte er vorwurfvoll. „Ich das nicht gewusst, sonst ich nicht…“
Ja, sonst hättest du wahrscheinlich nicht so abfällig über unseren schönen Vulkan gesprochen. Schon klar. Dieser Japaner schien ein Fähnchen im Wind zu sein, das sich immer in die gerade passende Richtung drehte… Eine Eigenschaft, die ich eigentlich nicht mochte. Aber in diesem Augenblick war es mir egal. „Ist schon gut“, meinte ich und klopfte auch ihm auf den Rücken. „Wir Italiener prahlen halt nicht gerne herum, verstehen Sie?“ Ich war mir fast sicher, dass er mich nicht verstand – zumindest nicht den kleinen Seitenhieb, den ich ihm gerade verpasst hatte. Er nickte und verbeugte sich wieder einige Male vor mir.
Ein Blick auf die Uhr, zeigte mir, dass es Zeit für den Abstieg war. Ich sammelte meine Gruppe wieder ein und wollte gerade letzte Instruktionen geben, als Herr Iwasaki das Wort ergriff. Er war puterrot im Gesicht und sichtlich aufgeregt. „Meine Herren und Frauen, bitte kommen Sie her. Wir machen Gruppenbild zum Andenken!“ …
„Gesagt, getan. Die Gruppe stellte sich auf und nahm mich in ihre Mitte.
Und das, mein kleiner Luca, war die Geschichte zu diesem Bild.“ Mein Urenkel rutscht von meinem Schoss, die großen Kulleraugen immer noch auf das Bild gerichtet. „Dann bist du ja ein richtiger Zauberer, Opa?“, fragt er. „Nein, Luca. Dein Opa ist kein Zauberer.“ Seine Mutter, meine Tochter Michelle, lächelt mich an, während sie ihren Sohn hoch hebt. „Und du, meine kleiner Zwerg, gehst jetzt ins Bett!“
Nachdem Luca mir noch einen ziemlich feuchten Gute-Nacht-Kuss gegeben hat, lassen die beiden mich alleine. In Erinnerung schwelgend nehme ich das Gruppenbild, das damals auf dem Vesuv entstanden ist, und betrachte es. Entgegen meiner Hoffnungen, dass ich mit Herrn Iwasaki und seiner Frau niemals wieder etwas zutun haben würde, hatte ich ein Jahr nach unserer Begegnung Post aus Japan bekommen. Dieses Bild und ein sehr netter Brief waren in dem Paket gewesen.
Mit zittrigen Händen fahre ich über die Schrift, die die Rückseite des Bildes ziert. „Der Tejináshi des Vesuv“, steht dort geschrieben.
Ich bin wirklich kein Zauberer, aber ich habe es seitdem immer wieder geschafft, die Leute mit dem simplen Papiertrick in Erstaunen zu versetzen. Und genau wie an diesem Nachmittag, sind auch nach dem damals geglückten Experiment immer wieder die drei Worte gefallen: „Non e morto“. Er ist nicht tot. Das zeigt mir, dass die Leute verstanden haben. Sie haben die wahre Schönheit des Vesuv erkannt. Und darauf bin ich besonders stolz.
Ende