Der Trompetenspieler (von G.Jennerwein)
Die Nacht war längst hereingebrochen. Der Mondschein, der durch die Fenster des Hauses fiel, erhellte gespenstisch den prachtvoll geschmückten Weihnachtsbaum im großen Saal. Im Kamin war das Feuer bis auf die Glut niedergebrannt und alle Menschen, die in dem Haus wohnten, schliefen schön längst. Doch halt, irgendjemand schlief nicht - dort drüben am Baum. Ein weißes Tuch aus Samt umhüllte den Stamm des Tannenbaums und ein wenig oberhalb am ersten Zweig hing ein kleiner, hölzerner Trompetenspieler, eine Weihnachtsbaumfigur. Barfuß war er und gerade aufgewacht. Er hielt seine Trompete an den Mund und war in ein Jutegewand gekleidet. Seine Augen sahen ehrfürchtig nach oben, zu dem silbernen Weihnachtsstern, an dem ein wunderschönes Papiermädchen mit Engelsflügeln hing. Befestigt war es an einer hauchdünnen Schnur und bewegte sich im Luftzug leicht hin und her.
Nie zuvor hatte er ein so liebreizendes Mädchen gesehen und er errötete, als sich ihre Blicke trafen. Das Mädchen lächelte und der Trompetenspieler war verzaubert von dieser Anmut und fühlte sein kleines Trompeterherz heftig schlagen. Aber das Mädchen wandte ihren Blick bald wieder ab und sah verträumt zum Mond, der durch das große Fenster schien. So nahm er all seinen Mut zusammen und begann auf der Trompete zu spielen. Erst waren es nur einzelne, zaghafte Töne, aber nach einem Weilchen spielte er die schönsten Melodien, die er kannte. Das Mädchen fühlte sich von der Wehmut seiner Musik angetan und sah neugierig zu ihm hinunter. Der Trompetenspieler war aufgeregt und bemühte sich zu spielen, wie nie zuvor in seinem Leben. So blies er die ganze Nacht in seine Trompete, wurde nicht müde, bis in die frühen Morgenstunden, und war glücklich, wenn das Papiermädchen hie und da ein Lächeln zu ihm hinunter warf.
Und so vergingen die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr. In den Nächten erklang im großen Saal die sehnsuchtsvolle Musik des Trompetenspielers. Der hölzerne Musikant freute sich auf die Zeit in der Schachtel mit dem Weihnachtsschmuck, in der er bis zum nächsten Heiligen Abend mit dem Papiermädchen beinahe ein ganzes Jahr verbringen würde. Er nahm sich fest vor, das Papiermädchen in der Schachtel anzusprechen und vielleicht gestattete es ihm sogar, es an den Händen zu halten.
Eines Morgens kam die Dienerschaft und räumte den Weihnachtsbaum ab. Der Weihnachtsschmuck wurde in die Schachteln gelegt und vorerst am Fensterbrett abgestellt. Mit Entsetzen stellte der Trompetenspieler fest, dass man vergessen hatte, das Papiermädchen vom Baum abzunehmen. Er schaute über den Schachtelrand und schrie, aber die Menschen konnten ihn nicht hören. Er sah durch das Fenster, wie der Tannenbaum mit dem Mädchen in den Garten gebracht wurde. Bald begann es draußen zu schneien und er sah stundenlang hinaus, bis das Mädchen am Baum langsam unter dem Schnee verschwand und die Schachtel, in der er obenauf lag, mit einem Deckel verschlossen wurde und auf ihren Stammplatz auf den Dachboden kam.
Das Jahr war finster und einsam für den Trompetenspieler in der Schachtel. Er war traurig und sehnte den Tag herbei, an dem er wieder mit all dem anderen Schmuck hervorgeholt werden würde. Endlich war es soweit, und als er an dem frisch gefällten Weihnachtsbaum hing, blickte er nach oben auf den Weihnachtsstern. Vergeblich suchte er das Papiermädchen seines Herzens. Er schaute zum Fenster hinaus in den Garten; es lag kein Schnee mehr da und der Baum vom letzten Jahr mit dem Papiermädchen war verschwunden.
Als die Menschen schliefen, sah der Trompetenspieler zum aufgehenden Mond vor dem Fenster hinauf. Endlich fielen die ersten Flocken und sie wirbelten so sehr in der Luft herum, dass er glaubte, das Papiermädchen im Mondschein lächeln zu sehen. Und wieder, wie schon vor einem Jahr, begann er leise auf seiner Trompete zu spielen, während Tränen über seine Wangen liefen. Freudentränen!