Der Versuch

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ibini

Mitglied
Irgend etwas war heute anders als sonst. Schon im Bett lag ich verkehrt herum, die Decke unter mir, und statt auf dem Rücken auf dem Bauch. Und nicht mit den Füßen voran kletterte ich aus den Federn, sondern der Kopf machte den Anfang. Eigenartig, daß ich alles als selbstverständlich und nicht als störend empfand. So ging ich auf dem Kopf ins Bad, drehte den Wasserhahn zu, um mich zu waschen – mit dem Handtuch. Um das Werk meiner Reinigungsaktion zu begutachten, schaute ich neben den Spiegel, und mit dem Rücken des Kamms fuhr ich mir über die Füße. Das Kaffeewasser holte ich aus dem Kühlschrank, der warm wie eine Mikrowelle war. Das Brot legte ich auf die Butter, und meine Frühstücksbanane mit der Schale als Kern klebte ich außen an die Aktentasche. Meine Wohnungstür schloß ich zu, um sie aufzuschließen, und hinter mir stieß ich sie auf, um sie wieder zuzumachen. Im Treppenhaus führte mein Weg nach oben. Der Hund meiner Nachbarin, der mich immer ankläffte, lächelte mir zu und wünschte einen guten Morgen. Ganz gegen meine Gewohnheit zog ich einen Hut von meinen Füßen und fletschte knurrend die Zähne. Auch auf der Straße spielte sich vieles „verkehrt“ ab. Was sonst hell, war dunkel, was oben war unten, Weiches hart, was bis dato vorwärts fuhr, bewegte sich zurück. Und niemand schien etwas ungewöhnlich zu finden.

Der alte Mann mit dem dichten schneeweißen Bart, den seltsam blitzenden stahlblauen Augen und der sorgendurchfurchten Stirne saß von all dem unberührt auf einer Bank inmitten des Verkehrsgewühls. Er – ein wenig heruntergekommen – sah müde aus, und doch war er hellwach. Nichts entging seinen rastlos hin und her wandernden Blicken. Und das von Zeit zu Zeit über sein Gesicht huschende Lächeln zeugte von Zufriedenheit. Nicht von Zufriedenheit mit sich. Aber jetzt, durch diesen Versuch, war ihm endgültig klar geworden, woran es lag. Woran es lag, daß sich die Welt so entwickelt hatte, wie er es gar nicht gewollt hatte. Denn es war nicht zu übersehen: Die Menschen waren im Moment viel zufriedener, freundlicher und genügsamer als bisher, sie lachten mehr – waren einfach „Mensch“.

Und er erinnerte sich, daß er, als er die Welt erschuf, einmal todmüde auf sein Bett gefallen war. Lediglich für wenige Augenblicke. Aufgeschreckt, war er dann mit dem falschen Fuß von seiner Lagerstatt gesprungen. Das hatte sich, von ihm lange Zeit unbemerkt, auf die Menschen ausgewirkt. „Jaja“, murmelte er vor sich hin, „der linke Fuß! Da werde ich mir wohl etwas einfallen lassen müssen.“ Langsam stand er auf, schaute sich noch einmal nachdenklich um und verschwand im Nichts. Ein immer leiser werdendes Grollen des plötzlich aufgezogenen Gewitters begleitete ihn. Als es nicht mehr zu hören war, verlief auf der Erde alles wieder in gewohnter Weise. Die Menschen waren unzufrieden, mißgestimmt und ungenügsam wie eh und je. Auf der Bank, auf der der Mann mit den seltsam blitzenden stahlblauen Augen gesessen hatte, gurrten neben einem Mistelzweig zwei Tauben.
 

jon

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Teammitglied
…ich versteh die Pointe nicht so recht: Wer hat welchen VERSUCH gemacht? Welchen ominösen Einfluss hat(te) das Nickerchen und das "mit dem linken Fuß aufstehen" Gottes auf die Welt denn nun genau? Aus welchem finsteren Grund ist "umgekehrt" nicht einfach nur umgekehrt sondern besser? Und wenn es besser ist: Wieso lässt es Gott nicht so? Und was hat das alles mit dem Ich-Erzähler des Anfanges zu tun?

Der Text an sich – rein handwerklich – ist akzeptabler Durchschnitt. Details, die mir besonders auffielen:
„…der warm wie eine Mikrowelle war…“ – die Microwelle wird „nicht“ warm – das ist ja eben der Witz an Mikrowellengeräten.
Einige der „Verdrehungen“ funktionieren nicht: „Meine Wohnungstür schloß ich zu, um sie aufzuschließen, und hinter mir stieß ich sie auf, um sie wieder zuzumachen.“ – Das hakt für mein Verständnis ganz gewaltig. „Was sonst hell, war dunkel, was oben war unten, Weiches hart,...“ ist entäuschend unsinnlich gemessen an den sehr präzisen (wenn auch der Vorstellungskraft oft spottenden) Herum-Drehungen.
 

ibini

Mitglied
Hallo jon,

Dank Dir für Deine kritische Einschätzung. Offenbar hatte ich selbst (etwas zu phantastische) Vorstellungen im Kopf, die ich vielleicht nicht wie gehofft rüberbringen konnte.

Kernpunkt ist das ungewollte Nickerchen „Gottes“ (während der Schöpfung), von dem er, aufgeschreckt erwacht, mit dem linken Fuß aufgestanden ist. Jemand, der mit dem linken Fuß aufgestanden ist, gilt nun als mißmutig, schlecht gelaunt und dergleichen (was von links kommt, bringt Unglück, so der Volksglaube). Gott sah dieses ihm gar nicht gefallende Verhalten der Menschen unserer Tage; er ahnte auch, worauf es zurückzuführen ist. Die letzte Bestätigung sollte eben der ominöse (Herumdreh-) Versuch bringen. Und das tat dieser Test: Wäre er, Gott, damals nicht mit dem linken, sondern mit dem rechten Fuß aufgestanden, wäre die Welt, wären die Menschen heute anders, besser! (Daß sich die Folgen des Aufstehens Gottes mit dem linken Fuß vom Schöpfer auf die Menschen übertragen hatten, steht ja in der Geschichte.) Aber selbst Gott ist es nicht möglich, die Welt von heute auf morgen so weitgehend zu ändern; vielleicht will er es auch nicht.

Die Erzählung des Anfangs ist gewissermaßen eine Art Verpackung. Das Auslaufen der (gewollt überzogenen) Detailschilderungen ins Pauschale ist bewußt geschehen, um den Übergang zum Kernpunkt nicht zu verschwommen darzustellen, ihn nicht untergehen zu lassen. Mit der Wohnungstür habe ich keine Probleme. Und was die Mikrowelle angeht, so hast Du natürlich recht. Ansonsten: Es ist die etwas ironisch gefärbte Betrachtung eines Märchens. Und gerade bei Märchen sollte man so manches im Hinblick auf Logik nicht auf die Goldwaage legen.

Mit Gruß
ibini
 



 
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