Der Vogel

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madonna

Mitglied
Der Vogel

Er lag auf dem Rücken im Schnee, nahe am Zaun, die Füße zu sich herangezogen.
Ein Mädchen mit schwarzen Zöpfen stand davor und starrte auf ihn hinab.
Sie drückte mit einem Stöckchen auf seinen Leib.
Der Körper war noch nicht steif.
Die Ratlosigkeit in den Augen des Kindes spiegelte die meine.
Neben dem Leichnam waren Vogelbeeren in den Schnee eingesunken.
Rostfarbene Spritzer auf weißem Grund.

- Er ist tot- sagte ich.
Das Mädchen nickte und stieß mit dem Stock noch mal sacht zu.
- Der Arme. -
- Was sollen wir machen? -
Sie zuckte mit den Schultern ohne den Blick von dem toten Vogel zu lösen.
- Sollen wir ihn begraben? –
Sie schaute mich an und bewegte zustimmend ihren Kopf auf und ab.
In ihren Augen schimmerte ein Hauch von Begeisterung.
- Na dann - sagte ich und ging zurück ins Haus um eine Schaufel zu holen.

Mit der Schaufel gegen den Sockel des Zauns geschoben, rollte der Körper
auf die Schippe.
Das Mädchen atmete laut durch.
Beim Ausatmen stand für einen Moment eine kleine weiße Wolke vor ihrem Mund.
Ich öffnete die Gartenpforte und ging mit meiner Last durch den Schnee
bis hin zur Kastanie.
Der Boden war hart gefroren, an Begraben war gar nicht zu denken.
Ich ließ den toten Vogel vorsichtig in den Schnee gleiten.
Das Mädchen war draußen vor dem Zaun geblieben.
Sie stieg auf den Sockel, umklammerte den oberen Teil des Gitters
und presste den Körper dicht an die Eisenstäbe.
Gespannt verfolgte sie jede meiner Aktionen.

Ich häufelte Schnee über den Leichnam und drückte die weiße
pappige Masse mit der Schaufel zusammen.
Vorsichtig klopfte ich von vier Seiten und formte eine
stattliche kleine Pyramide.
- Gut so? - fragte ich als ich fertig war
Wir sahen uns an und sie lächelte anerkennend.
- Das war’s. - sagte ich.
Sie schien ein Gebet oder etwas ähnlich Feierliches zu erwarten.
Als nichts kam ließ sie den Zaun los und hüpfte davon.

Das war vor vier Tagen.
Heute hat es getaut; die ganze Nacht über hörte ich es tropfen.
Er ist wieder da.
Von der Pyramide ist kaum noch etwas übrig.
 
Q

Quidam

Gast
Hallo Madonna,

es ist eigentlich nicht so recht überraschend, was du da schreibst. Die Botschaft bleibt mir auch ein wenig im Schnee stecken.:) Dass die Pyramide schmilzt ist doch klar, also was willst du eigentlich damit Aussagen?
Gib dem Vogel doch den Namen eines Pharaos, würde zum Schluß gut passen.-)

einige Anmerkungen, die lediglich als Vorschläge zu verstehen sind:

Ein Mädchen mit schwarzen Zöpfen stand davor und starrte auf ihn hinab.
"stand davor" könntest du eventuell streichen, da es klar ist, da das Kind ja zu dem Vogel hinab starrt.
... und bewegte zustimmend ihren Kopf auf und ab.
und nickte.
In ihren Augen schimmerte ein Hauch von Begeisterung.
Verben machen generell eine Geschichte flotter:
Ihre Augen schimmernten einen Hauch begeistert.

Man kann sich die Szene gut vorstellen, allerdings fehlt dem Text doch etwas die Farbe.

*winke*
quid
 
Bevor ich quidam Recht geben konnte, denn beim ersten Lesen fand ich genau seine Argumentation, ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen:

"Er ist wieder da" (hat sich aus der Pyramide befreit/ seine Seele findet keine Ruhe) und wartet auf Dein Gebet, welches das Kind (Symbol!) durch sein Zögern bereits angemahnt hatte.
Schön geschildert "tauen und tropfen" (Wasser als Lebenssymbol)
Das Problem ist jetzt für das arglose Kind erledigt, aber nicht zwischen dem Vogel und Dir. Du "solltest" beten, und "wolltest" ihn begraben (beides chrstl. Symboliken)

Tu es einfach, und dann ist Dein Text auch nicht zu Ende (obwohl Du nichts mehr schreiben mußt, denn der interpretierende Leser "schreibt" den Rest selbst, falls Du ihm am Ende noch einen (symbolischen!)Hinweis/marker gibst)

Meiner Meinung nach enthält der Text Atavismen (eine Seele, die erst dann Ruhe gibt, wenn sie per Ritual besänftigt ist/ etwas Totes kommuniziert mit den Lebenden/ das Kindsymbol/ Wasser-Schnee/ der Vogel war bei den alten Ägyptern (Pyramide)lange das Seelensymbol "Kha", ist immer bei den Figürchen auf der Schulter sitzend dargestellt, später mit ausgebreiteten Schwingen über den Köpfen -> historische Weiterentwicklung zur Sonne hinter dem Kopf und in chrstl. Darstellung als Heiligenschein -> heute noch als Wappen und Staatsembleme)

Aufgebaute Spannungen:
(a)toter Vogel - neben Vogelbeeren (Tod neben lebensspendendem Futter)
(b) der Protagonist/ Erwachsener und das Kind
(c) Schnee/Eis und Wasser
(d) falsch beerdigen -der Tote erscheint wieder
 
weiter: weil ich hier nach Minuten draußen war

(e) Beerdigung an einer Kastanie (alter Kultbaum)

Der Text kommt bei mir janusköpfig an: Fast wie unabsichtlich dahergeschrieben (eine alltägliche Begebenheit), aber andererseits möglicherweise verdammt tiefgründig.
Was davon stimmt, kann nur der Autor selbst wissen.
Bewertung für mich jetzt noch unmöglich...
 

madonna

Mitglied
Lieber Quidam,

danke für Deine Befassung mit dem Textchen.
Zunächst: Ich wollte kein "flotte " Geschichte schreiben, sondern eine stille.
Es gab eine erste Version, die daramatisert war, Sie hätte Dir vermutlich besser gefallen. http://2037.rapidforum.com/topic=100285710310
Geringfügige Unterschiede nur, aber ein anderer Ton.

Was ich damit aussagen wollte? Gestattest Du mir, dass ich das nicht nachreiche?
Entweder ein Text "kommt an", und das kann bei jedem auf eine andere Weise sein,
wie Du an Waldemear Hammels Überlegeungen siehst, oder nicht. Was nicht bedeutet,
dass ich mich gegen Überarbeitung sträube.
Nur erklären sollte man ihn nicht müssen. Er steht für sich.

Soviel kann ich allerdings verraten, dass es sich um eine reales Vorkommnis
handelt. Das muss keineswegs enttäuschen, denn sowas gibt Anlass genug,
darüber nachzudenken, finde ich.

zu Deinen Vorschlägen:

Ich wollte präzise Bilder vermitteln aber nicht überfrachten.

Deshalb werde ich "stand davor" nicht streichen. Das Kind könnte daneben gestanden
oder gehockt haben. Schon ergibt sich ein anderes Bild.

nickte - war sicher das erste, was mir einfiel ist aber auch unoriginell und
ich fininde das Aufuund ab macht möglich dieser Bewegung zu folgen. Damit kommt eine
Spur von Langsamkeit hinein, die nicht extra noch beschrieben werden muss.

<<<In ihren Augen schimmerte ein Hauch von Begeisterung.>>>
gegenüber <<<Ihre Augen schimmernten einen Hauch begeistert.>>>
Kennst du den Begriff des Behauptungsadjektivs? Begeistert ist eines .
'Begeisterung' hat für mich viel mehr Volumenen als das Adjektiv begeistert.


Bitte sei nicht frustriert, dass ich keinen dDeiner Vorschläge annehmen mag.
ichhatt vor den Text sehr sachlich zu schreiben aber dennoch die Befangenheit
vor dem Tod und im Umgang mit dem Tod durchschimmern zu lassen.
Und alles was da mitschwingt. Wie die Dialoge ja fast nonverbal sind.

Farblos?
Je nun, jeder hat andere Farbempfindungen. Ich bin eher für Nuancen zuständig
als für kräftige Farben.

Winke zurück,
madonna
 

madonna

Mitglied
Lieber Waldermar Hammel,

Du bist meinen Überlegungen schon sehr nahe gekommen, nur,
dass es sich hierbei als Ausgangspunkt um eine reale Begebenheit handelt.
Aber auch das Reale ist interpretierbar. Alle unsere Handlungen haben
Bedeutung und gerade dann, wenn es sich um so etwas wie eine Zeremonie handelt.
Ich bin wirklich beeindruckt, was Du alles dahinein gepackst hast.
Aber das erste Problem war ein reales: was tun, wenn der Boden hart ist?
Das zweitete, wie mache ich aus dem Schnee ein Grab, das die Erwartungen
an ein würdiges Begräbnis erfüllt? Der Baum? Dass es ein Kultbaum ist, dessen
war ich mir nicht bewusst, aber suchen wir nicht vielleicht intuitiv
nach etwas Schützendem? Und was liegt für einen Vogel näher als ein Baum?
Hab vielen Dank für Deinen Kommentar, erstens habe ich auch durch Dich
etwas gelernt, so dass die Kommunikation Autor/ Leser auch in umgekehrte
Richtung funktioniert hat. Auch wenn es hier um eine reale Geschichte geht
schwingt doch vieles von dem, was Du hier aufführtest, mit.
Den Vogel, als Symbol für die die Seele habe ich auch schon
einmal vor drei Jahren verwandt, in einer meiner allerersten Geschichten,
einem Märchen. Der Titel: Seele :)
http://www.leselupe.de/textealt.php?showid=1130&textdatei=Kurzgeschichten.data

Lieben Gruß
madonna
 
A

Arno1808

Gast
Hallo moadonna,

sehr schön!

Der Text hat mir ausgesprochen gut gefallen. Er strahlt eine wohltuende Ruhe aus und Besinnlichkeit.

Einzig ein Satz hat mich im Lesefluss stocken lassen, weil etwas in mir sich gegen das Bild sperrt:
Ich öffnete die Gartenpforte und ging mit meiner Last durch den Schnee
Ich sehe die Erzählerin gebückt ob der schweren Last durch den Schnee gehen. Aber eine Schaufel mit einem Vogel darauf wiegt doch fast nichts?

Das ist aber auch schon alles.

Eine gelungene Geschichte!

Gruß

Arno
 

madonna

Mitglied
<<<<Er ist wieder da>>>

ich denke, wer die Geschichte bis dahin gelesen hat, der weiß ohne aufwendige Erklärungen, wer wieder da ist. Der grammatische Bezug auf vorhergehende Sätze ist sekundär.
Die Geschichte beginnt mit "er" und sie endet mit "er" und über allem steht "Der Vogel".

freunlich grüßend
madonna
 

chrishilden

Mitglied
Na ja, darüber kann man auch sehr lange streiten.
Aber lebt der Vogel wieder? Oder kehrt er nur in seine/ihre/deine Gedanken zurück?
 



 
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