Der Weihnachtsschlüssel

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ThomasW

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Ich heiße Jorina, und Du heißt wahrscheinlich nicht so, weil Jorina ein ungewöhnlicher Name ist. Meine Oma hat gesagt, ein Karnickel kann man so nennen, aber nicht sein Kind. Bestimmt habe ich deshalb die großen Hasenzähne, die man sieht, wenn ich lache. Aber mit den Zähnen, das ist nicht so schlimm sagt Mami, der Rest drum herum wächst noch, und später passt es dann. Ich lache gerne, selbst noch, wenn ich meine Weihnachtsgeschenke falsch zusammen kleisterte und die Lehrerin mir helfen muss. Dieses Jahr habe ich Papi einen Kalender gebastelt. Und ein Gipsherz bemalt, für Mami.
Ich und Peter bekommen zu Weihnachten Spielsachen. Mami gibt uns Spielzeugkataloge, daraus schreibe ich so viel auf meine Wunschliste, bis Mami sagt: „Oh, das ist aber eine LANGE Liste, das kann Dir das Christkind nicht alles bringen!“. Wegen der Liste weiß ich eigentlich schon vorher, was ich am Heiligabend kriege. Aber das Christkind vergisst oft Sachen oder bringt sie doppelt.
Dieses Jahr begann Heiligabend so wie immer. Mami schloss das Wohnzimmer ab, damit das Christkind ungestört ist, und wir gingen alle in die Kirche. Die Pfarrerin kann sich nicht durchsetzen, hatte Papi gesagt. Es war auch sehr laut, weil sich alle Kinder langweilten, selbst beim Krippenspiel. Singen macht mir Spaß, aber nur, wenn ich die Lieder kenne. Als aber die Pfarrerin die Arme gehoben und gesegnet hat, da wurde es ganz still. Die Erwachsenen haben alle nach vorne geschaut, und ich glaube doch, dass sie der Chef in ihrer Kirche ist.
Draußen habe ich mit Peter Nachlaufen zwischen den Beinen der Leute gespielt, dann sind wir nach Hause gefahren. Peter wurde total zappelig. Ich konnte auch kaum noch abwarten, dass Mami endlich die Wohnzimmertür aufschloss.
„Hast Du den Schlüssel weggenommen?“
Papi grummelte etwas von Ordnung halten.
„Der Schlüssel ist futsch!“
Mamis Stimme klang, als ob sie mit dem Schlüssel schimpfte. Vielleicht hatte er sich darum versteckt? Auch an den vielen Orten, wo Mami sonst etwas wegtut, in Schubladen, unter dem Flurteppich, auf dem Garderobenschrank, waren Staub und Flusen, aber kein Schlüssel.
Papi schüttelte den Kopf, holte seinen Schraubenzieher und die Zange aus dem Keller und fummelte an der Tür herum. In der Küche klapperte Mami und schaute in jede Kaffeetasse. Nachdem Papi die Klinke abgeschraubt hatte, hielt er sie lange in der Hand. Überlegte er, warum die Tür jetzt erst recht nicht aufging? Mami stöhnte, dass sie keinen Mann kennt, der noch nicht mal ein Türschloss ausbauen kann. Papi wurde wütend. Er regte sich noch mehr auf, als Mami Onkel Karl anrief, der immer meinen Kassettenrecorder repariert, wenn ich Bandsalat gemacht habe. Aber der hatte nur die Mailbox an.
„Hast Du die Nummer vom Schlüsselnotdienst?“
„Das Telefonbuch liegt doch im Wohnzimmer.“
Ich mag es gar nicht, wenn Mami und Papi sich streiten. Und jetzt stritten sie sogar am Heiligabend. Kein Tannenbaum, keine Krippe, keine Geschenke, das würde eine traurige Weihnacht geben. Keine Geschenke? Ich flüsterte Peter ins Ohr. Wir schlichen in unser Kinderzimmer. Unsere gebastelten Geschenke hatten wir in buntes Krepppapier gewickelt und im Kleiderschrank versteckt. Ganz geheim. Einmal hatte ich aber Mami ihr Päckchen gezeigt, um sie neugierig zu machen. Wir hüpften die Treppe hinunter. Mami und Papi saßen schweigend auf dem Fliesenboden vor der Wohnzimmertür.
„Frohe Weihnachten!“. Ich gab Papi einen Riesenkuss, und Peter warf Mami fast um, er ist immer so wild. Beide bekamen ihre Geschenke, und beim Auspacken schauten sie sich in die Augen und fingen an, laut zu lachen. Sie haben sich auch sehr über ihre Geschenke gefreut. Die großen Geschenke wurden bestimmt neidisch, die lagen ja hinter der Wohnzimmertür und keiner kümmerte sich um sie. Mami sagte dann noch Oma ab, weil der Esstisch im Wohnzimmer steht und die Küche zu eng ist. Sie klang richtig froh, mal nicht kochen zu müssen. Papi setzte einen Früchtepunsch auf, und dann haben wir stundenlang ‚Mau-Mau‘ gespielt. Zwischendurch mussten Mami und Papi immer wieder lachen, wenn sie sich anschauten, und den Schlüssel wollten sie gar nicht mehr suchen, selbst wenn sie ihn gefunden hätten.
 



 
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