Der weiße Milan (Tränenp. 9)

rotkehlchen

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9.Der weiße Milan

Lippstadt in Westfalen, stad tor lippe.
1185 von Graf Bernhard als erste Planstadt im südlichen Münsterland gegründet. Fast siebzigtausend Einwohner, DB-Haltepunkt der Bahnlinie Hanover-Dortmund, Zentrum für Forensische Psychiatrie des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, Hauptsitz der Hella KGaA Hueck & Co, kurz Hella genannt (LED-Leuchten, Automotive, Special Applications, Aftermarket), Kurbad, Austragungsort der Gütersloher Tennisopen, Urheimat des Westfälischen Pumpernickel...
Sehenswürdigkeiten: Marienkirche (romanisch) am Marktplatz, barockes Rathaus, Nicolai-Kirche mit Römerturm, alte Stiftsruine, Hotel 'Goldener Hahn' (ältestes Fachwerkhaus der Stadt), 'Steinernes Brot' im Stadtteil Cappeln.
Wegen der vielen Wasserläufe im Stadtgebiet manchmal scherzhaft 'Kleinvenedig Ostwestfalens' genannt.
Lippstadt ist die einzige Stadt Westfalens, in der die Straßenlampen an Seilen mittig über den Fahrbahnen hängen.
Kurz: Lippstadt ist kein Kleinod, aber auch keine große Einöd´. Man muss die Stadt nicht lieben, aber man kann in ihr leben...

Kriminalkommissar Diercksen ging über den Marktplatz mit der Marienkirche, die daliegt wie eine brütende Henne, am Rathaus mit der geschwungenen und breit ausladenden Treppe vorbei und bog in die Helle Halle ein. Trotz des frühen Tages herrschte Dämmerung in der Gasse; die vom Alter gebeugten Fachwerkhäuser standen so dicht, dass sie sich fast mit den Giebeln berühren.
Vor einem dieser Häuser blieb er stehen. Auf einer Messingtafel neben der Tür las er: Lippstädter Pumpernickelmuseum, Öffnungszeiten dann und dann, nachmittags außer Donnerstags geschlossen.
Diercksen hatte noch Heilands dröhnendes Gelächter in den Ohren. „Pumpernickel?Das ist kein Brot, sondern der platte Bruder der Currywurst, allerdings ohne Catchup! Wird mehr gekocht als gebacken und in Maschinen, die aus der Fleischindustrie stammen, und mit denen man auch Würste machen kann, in Form gebracht! Nur hält es sich länger!“
Diercksen stellte fest, dass er keinen Bock hatte, sein Wissen in puncto Pumpernickel zu erweitern. Er setzte seinen fort und erreichte bald das Neubaugebiet, in dem die Privatklinik des Dr. Haardnack liegt.

Dr. med. Hartmut von Haardnack, der medizinische Leiter und Inhaber der Privatklinik Haardnack – vom Putzpersonal hinter vorgehaltener Hand 'Seine Hochwohlgeboren' genannt – saß am Schreibtisch und starrte auf seinen PC. Ab und zu murmelte er halblaut vor sich hin. Er sah sich die Personaldaten einiger seiner Mitarbeiter an. Wieder schüttelte er ungläubig den Kopf. Auf seinem Gesicht lag ein merkwürdig hilfloser Ausdruck, als wisse er nicht, ob das, was er gerade tat, überhaupt Sinn mache.
„Ein kleiner Hausmeister lässt die Sache auffliegen“, murmelte er verbittert. „Dümmer geht´s nimmer! 'Ich soll nachschauen, ob die Dichtungen der neuen Fenster alle schließen. Wo geht´s den hier zum Keller?' Der Mann konnte zwei und zwei zusammenzählen, und schon fliegt der ganze Schwindel krachend auf! Und irgendein Idiot hat´s dann dem Finanzamt durchgestochen.“ Er rieb sich das Kinn. „Das kann doch nur dieser... wie heißt er noch gleich... dieser Sperling gewesen sein, dieser Schleimscheißer! Wie der einen schon ansieht! Brrrr... Vom ärztlichen Personal war´s bestimmt keiner. Nein, nein, für die lege ich meine Hand ins Feuer. Interessiert doch eh keinen, solange die Honorare regelmäßig fließen, hahaha! Na dös is a schöner Schmarrn!“ Obgleich Dr. Hartmut von Haardnack schon seit über fünfzehn Jahren in dieser ostwestfälisch-lippischen Stadt lebte, hatte er sich seinen oberbayerischen Dialekt noch nicht vollständig abgewöhnen können.
Der Doktor war ein hochgewachsener Mann mit schneeweißen Haaren und geröteter Gesichtshaut. Er hatte die Gewohnheit, die spitze und leicht nach oben gebogene Nase unvermutet vorzustrecken wie ein Jagdhund, der einen Fuchs wittert. Unter den dichten weißen Brauen blitzte intelligente, flinke Augen, die einen Patienten oder einen Vertreter der Pharmaindustrie in ihren Bann schlagen konnten.
Das Auffälligste an ihm war jedoch das Rot seiner Augen – oder vielmehr der rote Augenhintergrund. Dr. von Haardnack war nämlich Albino. Daher die weißen Haare, die ihn vom Weiten wie einen Greis erschienen ließen, obwohl er erst im zarten Alter von sechsundvierzig arbeitsreichen Jahren war. Wenn man ihm allerdings gegenübertrat, war man überrascht von der jugendlichen Frische, die sein Gesicht ausstrahlte.
Gegenwärtig, im milchigen Schein des PC-Schirms, sah er geradezu gespenstisch bleich aus.
„Oder sollte es doch dieser von Bovenden gewesen sein?“, murmelte er. „Kann ich mir eigentlich nur sehr schwer vorstellen. Oder sagen wir mal: Überhaupt nicht. Woher sollte er das gewusst haben? Noch nicht einmal ich hab´s gewusst und erst aus dem 'Wochenspiegel' erfahren... Fünfhunderttausend Teuro... Schöner Schaden! Das gibt Ärger... Nein, von Bovenden war´s nicht. Der hatte doch auch gar keine Veranlassung! Herrscht in seiner Abteilung wie ein kleiner König, und die Honorare sprudeln holla die Geigen! Warum sollte er sich ins eigene Knie schießen und den guten Ruf der Klinik ruinieren?“ Er grinste. „Ob das stimmt, was da gemunkelt wird? Soll angeblich morgens vor Dienstbeginn seine Assistenzärzte in einer Reihe antreten lassen und so eine Art Morgenappell abhalten! Kurios! Aber passen tät´s!“
Eine Seitentür ging auf und eine Dame stürzte aufgeregt herein. „Ist er schon da?“, rief sie überlaut.
Der Doktor lächelte nachsichtig. „Siehst du außer mir hier jemanden? Setz´ dich erst einmal hin und halt´ die Beine still!“
Sie war eine Frau Mitte vierzig, mit müdem Gesicht und dem ungesunden Teint der überlasteten Zigarettenraucherin. Obwohl sie als Betriebsratsvorsitzende nicht schlecht verdiente, war sie ständig in Geldnöten, denn sie musste als Alleinerziehende einen schwer verhaltensgestörten Sohn uns eine ewig nörgelnde Mutter versorgen. Doch von Haardnack war sich nicht sicher, ob diese beiden Mühlsteine der Grund waren, warum sich ihr Mann von ihr getrennt hatte, oder ob es doch eher die gewaltige Überentwicklung ihrer Hüften war, die im Gegensatz zu ihrem schmächtigen Oberkörper und dem schmalen Gesicht geradezu erschreckend unförmig wirkten.
„Er müsste doch schon längst hier sein“, beharrte sie eigenwillig. Sie schnäuzte sich, und von Haardnack sah, dass ihre Hand zitterte.
„Sag mal, Erdmute“, versuchte er abzulenken, „gibt´s was Neues von Theuer-kauff?“ So hieß sinnigerweise der Leiter der Wirtschaftsabteilung.
„Nichts, was du nicht auch schon wüsstest. Ob er jemals wiederkommt ist ungewiss. Ich für meinen Teil wäre auch dagegen. Wir werden ihn wohl opfern müssen. Ich könnte mir vorstellen, dass er als Prügelknabe keine schlechte Figur abgibt!“
„Erdmute! Sei nicht so zynisch, ich bitte dich! Wenn hier einer Prügel verdient hat, dann bin ich es doch! Schließlich bin ich hier der Mauscheloberst!“
„Unsinn! Du streitest alles ab uns hast von nichts gewusst. So machen´s doch alle! Je bedeutender der Posten, desto größer die Unwissenheit, hahaha! Siehe diesen Winterkorn! Läuft durch die Firma und macht die Angestellten beim kleinsten Fehler zur Sau, und dann will er nichts gewusst haben! An dem nimm dir mal ein Beispiel! Für Führungsposten sollte man überhaupt nur noch Schulversager nehmen, denen glaubt man´s wenigstens, hahaha!. Entschuldige, ist nicht ernst gemeint. Du hast doch wirklich von nichts gewusst, oder? Na siehst du, dann musst du noch nicht einmal lügen! Ist schon fast komfortabel... Und außerdem, wofür hast du denn deine Arschkriecher?“
„Meine liebe Erdmute“, sagte Dr. von Haardnack und blickte sie mit seinen roten Augen und seinem bleichen Gesicht wie ein weißer Milan an, „der Mann ist von der Kriminalpolizei und nicht von der Steuerfahndung. Wahrscheinlich weiß er noch gar nichts von diesem... von dieser Unregelmäßigkeit. Am Telefon sagte er Frau Meyer, er wolle nur ein paar Informationen über von Bovenden einholen. Also wo ist da der Grund zur Aufregung? Du sagst einfach die Wahrheit, und nichts als die Wahrheit! Wahrheit ist schließlich nichts anderes als das, was die Menschen gerne glauben wollen, und irgendwann lernt man sogar mit der Lüge zu leben als wär´s die Wahrheit.“
„Was du manchmal redest... Mir ist nicht ganz wohl bei der Sache. Du weißt, im Lügen bin ich nicht sehr geschickt.“ Sie kniff die Lippen zusammen, wodurch ihr Gesicht einen geradezu lächerlich verschlagenen Ausdruck bekam.
Das Haustelefon summte, und der Klinikchef nahm ab. „Gut, Frau Meyer, hab´ ich schon befürchtet. Danke.“ Er legte den Hörer auf und sagte: „Nichts. Von Bovenden ist wie vom Erdboden verschluckt.“

Ranjet Diercksen lief, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die gewundene Treppe zum ersten Obergeschoss des Verwaltungsanbaus hoch. Auf die Idee, den Fahrstuhl zu nehmen, wäre er nie gekommen. Er hasste es, über das beruflich notwendige Maß hinaus stillzusitzen oder stillzustehen. Außerdem fand er, dass es in Krankenhausfahrstühlen besonders schlecht roch.
Gegenwärtig quälte ihn eine seltsame Unrast, die er durch körperliche Anstrengung beseitigen wollte. Er fragte eine Reinigungskraft nach dem Sekretariat der Klinikleitung und stürmte den blank gebohnerten Flur entlang. Mit der ihm eigenen Verve stieß er die Tür auf, die Tür knallte an die Wand, schnellte zurück und fiel krachend ins Schloss.
Die Sekretärin, Frau Meyer, ein dralles Persönchen mit molligen Wangen und streng nach vorne frisierten schwarzen Haaren, blickte verstört von dem Formular auf, das sie gerade ausfüllte. Sie wusste nicht recht, sollte sie sich erheben oder doch lieber sitzen bleiben. Glücklicherweise war der Empfangstresen brusthoch, sodass sie sich für´s erste in Sicherheit fühlte.
Diercksen entschuldigte sich für den ungestümen Eintritt und nannte Dienstgrad und Namen. Frau Meyer erhob sich erstaunlich flink und kam mit ihrem Watschelgang um die Theke herum. „Der Herr Doktor wartet schon auf Sie“, säuselte sie und blickte an Diercksen vorbei.

Dr. von Haardnack und Frau Ott erhoben sich, als der Kommissar durch die Tür trat. Haardnack hielt den Kopf erhoben und sah seinem Besucher offen ins Gesicht. Frau Ott, mit vorgeneigt-gerunzelter Stirn, die dunklen Augen unter den schwarz nachgezogenen Brauen skeptisch zusammengezogen, verharrte leicht gebeugt.
Diercksen stellte sich vor, und man setzte sich. „Es tut mir Leid, Sie stören zu müssen“, platzte er ziemlich kurzatmig los, „aber in der Angelegenheit von Bovenden besteht noch erheblicher Aufklärungsbedarf. Zunächst muss ich Sie fragen, ob Sie über den Verbleib des Vermissten informiert sind.“
Über Haardnacks Gesicht glitt ein ironisches Lächeln, das sofort wieder verschwand. Den haben wir gleich, dachte er. „Herr Kommissar“, sagte er mit leiser Stimme, „wenn wir wüssten, wo sich Dr. von Bovenden gegenwärtig aufhält, wäre er nicht mehr vermisst!“
Diercksen nahm sich vor, demnächst weniger forsch vorzugehen und seine Worte sorgfältig abzuwägen, bevor er loslegte.
„Wir haben nicht die geringste Ahnung!“, fuhr der Doktor fort, „so etwas ist in diesem Hause auch noch nie vorgekommen. Wir haben es sozusagen mit einem Präzedenzfall zu tun. Nun gut, auch ein Arzt wird gelegentlich krank und bleibt zuhause – aber nie ohne erforderliche Krankmeldung! Und ich kann Ihnen versichern: Am Montag sind die Kollegen wieder zur Stelle, denn gerade am Wochenanfang verzeichnen wir leider eine drastische Zunahme von Herz- und Kreislauferkrankungen sowie Freizeitverletzungen. Und alle müssen dringend behandelt werden, auch wenn es sich nur um harmlose Schürfwunden handelt! Warum also Herr von Bovenden gerade am Montag nicht zum Dienst erschien und seither nicht wieder aufgetaucht ist, bleibt ein völliges Rätsel. Wir sind alle wie vor den Kopf gestoßen.“
„Vierzehn Tage sind eine lange Zeit“, sagte Diercksen vorsichtig, „wenn jemand als vermisst gemeldet wurde. Die meisten Vermissten tauchen nach drei, vier Tagen von selbst wieder auf, wenn sie vom Herumvagabundieren die Nase voll haben oder wenn sie die Freundin aus der Wohnung wirft. Ab und zu laufen junge Mädchen ihren Eltern davon und älteren Herren in die Arme. Dann dauert´s manchmal etwas länger, bis sie wieder zurück sind. Zuweilen bleiben sie auch ganz weg. Geschieht in Deutschland ein paar hundert Mal im Jahr. Leider, leider. Aber Herr von Bovenden war kein junges Mädchen, und zweitens –“
„Sie halten also ein Gewaltverbrechen für nicht ausgeschlossen“, unterbrach ihn Frau Ott. Ihre Stimme zitterte gegen ihren Willen.
Sofort hakte Diercksen nach. „Sehen Sie denn eine Richtung, aus der ihm etwas zugestoßen sein könnte?“, fragte er ziemlich unbestimmt.
„Sie meinen, er könnte einer Palastintrige zum Opfer gefallen sein?“, meinte Dr. von Haardnack rau. „Das ist doch Blödsinn! Wer sollte ihn denn dann umgebracht haben! Aus diesem Hause bestimmt niemand! Wir schlachten doch nicht unser bestes Pferd!“
„Es könnte natürlich auch ein Unglücksfall gewesen sein“, wiegelte Diercksen ab, „aber es ist bisher kein Unglück mit Todesfolge gemeldet worden. Und: Solange wir seine Leiche nicht gefunden haben, gehen wir davon aus, dass er noch lebt.“
„Ich auch“, flüsterte Frau Ott und seufzte.
Eine kurze Stille trat ein, dann sagte der Doktor, als habe ihn jemand danach gefragt: „Herr von Bovenden hat maßgeblich zum Ruhm dieser Klinik beigetragen. Seine Abteilung ist weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt, wie man so sagt. Und das ist jetzt kein fishing for compliments, es stimmt. Die Patienten kommen von weit her, sogar aus Süddeutschland! Dr. von Bovenden lebt und stir... geht ganz in seiner Arbeit auf und kümmert sich einen Dreck um interne Streitigkeiten.“
„Herr Kommissar“, sagte die Personalratsvorsitzende und bewegte ein wenig den Kopf. Sie blickte Diercksen mit ihren wunderbaren, verträumten, leuchtenden Augen an. Nicht umsonst hatte sie als junges Mädchen vorgehabt, Schauspielerin zu werden. Außer ihren betörenden Augen besaß sie ein blendendes Gedächtnis. Den berühmten Faust-Monolog konnte sie schon mit vierzehn auswendig hersagen. Dann war das Projekt jedoch an gewissen körperlichen Entwicklungen gescheitert.
„Herr Kommissar“, sagte sie, „Sie verschwenden hier nur Ihre Zeit! Die Lösung zur Angelegenheit von Bovenden, wie Sie vorhin so trefflich formulierten, liegt außerhalb dieses Hauses! Bei uns sind Sie völlig auf dem Holzweg!“
Diercksen sah unglücklich aus. Was er befürchtet hatte, trat ein: Er kam nicht recht vom Fleck. Es läuft alles ein bisschen zu glatt, sagte er sich. Natürlich verheimlichen sie mir etwas. Du musst beherzter vorgehen! Er wandte sein grobknochiges, dunkles Gesicht erst Frau Ott und dann Dr. Haardnack zu. „Trotzdem frage ich Sie“, sagte er, „und ich bitte um eine ehrliche Antwort: Hat es hier im Hause irgendwelche finanziellen Unregelmäßigkeiten gegeben, in die Dr. von Bovenden verwickelt sein könnte!“
„Lächerlich!“
Das Gesicht des Klinikbesitzers wetterleuchtete in gezügeltem Zorn. „Absolut lächerliche, hirnrissige Idee! Sollte es solche... Unregelmäßigkeiten tatsächlich gegeben haben, dann würden wir Ärzte das als Letzte erfahren, wahrscheinlich aus der Bilderzeitung. Und Verwicklungen? Ausgeschlossen! Die Finanzabteilung ist ein völlig autonomer Betrieb, da sickert nichts durch! Und wie ich schon sagte: Dr. von Bovenden ist am Wohl seiner Patienten gelegen, nicht an irgendwelchen Machenschaften irgendwelcher Art. Schon gar nicht an persönlicher Vorteilsnahme. Das können Sie mir ruhig glauben.“
Der Arzt drückte mit seinem langen weißen Zeigefinger auf einen Knopf seiner Sprechanlage und nahm der Hörer ab. „Frau Meyer“, sagte er, „verbinden Sie mich doch bitte einmal mit Herrn Theuerkauff von der Finanzabteilung – wie? Das wusste ich nicht! Und wann kommt er wieder zurück? Aha!“ Er legte den Hörer auf auf und blickte den Kommissar an. „Der Chef der Finanzabteilung ist in Urlaub und kommt erst in acht Tagen wieder zurück.“
Der führt mich doch an der Nase herum, dachte Diercksen. Anscheinend halten sie mich für ein Greenhorn. Unwillig sagte er: „Sie haben meine Frage nicht beantwortet! War Dr. von Bovenden an irgendwelchen illegalen Machenschaften beteiligt, die ihm hätten gefährlich werden können?“
„Nein!“
Dr. von Haardnack blickte Frau Ott an und nickte leicht.
Die Personalratsvorsitzende rieb sich die tiefen Falten auf ihrer Stirn. „Da gibt es allerdings eine Kleinigkeit, die Sie wissen sollten, Herr Kommissar“, sagte sie kleinlaut. „Kurz über lang kriegen Sie es ja doch heraus, und dann denken Sie weiß Gott was!“ Sie holte tief Luft. „Vor einem halben Jahr etwa bekam Dr. von Bovenden Schwierigkeiten bei einer Honorarforderung – nein, nein, kein Abrechnungsbetrug, wo denken Sie hin! Der Fall liegt etwas komplizierter. Manchmal gestalten sich die Dinge verteufelt umständlich.“
„Kommen Sie bitte zur Sache! Worum ging es?“
Frau Ott hüstelte verlegen. „Dr. von Bovenden ließ einen Patienten von einem seiner Vertreter operieren, während er auf einer Vortragsreise abwesend war. Die Krankenkasse des Patienten weigerte sich, einen Teil seiner Honorarforderung zu begleichen. Als Begründung führte sie an, der Chefarzt habe zwei Vertreter operieren lassen, aber nur einen benennen dürfen, und hätte außerdem im Hause anwesend sein müssen. Die Kasse berief sich dabei auf ein Urteil des Oberverwaltungdgerichtes Braunschweig, das ihr in einem ähnlichen Fall Recht gegeben hatte. Es kam zu einem Rechtsstreit, in dem der Patient obsiegte. Dessen Rechtsanwalt fand nämlich heraus, dass sich der Spruch des OVG Braunschweig auf einen Honorararzt bezog, und nicht auf einen fest angestellten Oberarzt, wie in unserem Fall. Trotzdem sorgte der Fall für Aufregung und Dr. von Bovendens blütenreine Weste bekam einen unschönen Flecken.“
„Aber was um alles in der Welt hat das denn mit seinem Verschwinden zu tun?“, fragte Diercksen ziemlich ungehalten.
„Zunächst einmal gar nichts.“ Dr. von Haardnack lehnte sich zurück.
Der Arzt sprach so unfreundlich, dass Diercksen schon ein scharfes Wort auf den Lippen hatte.
„Ja aber warum wird denn in einem solchen Fall überhaupt von zwei Ärzten operiert?“, fragte er stattdessen reichlich töricht. „Können die Leute nicht warten, bis der Chef wieder zurück ist?“
Haardnack lachte trocken und nicht ohne Häme. Seine Nase schnellte vor, als wolle er Diercksen aufspießen. „Junger Mann!“, rief er, „Sie waren anscheinend noch nie richtig krank! Stellen Sie sich doch nur einen einzigen kleinen Moment folgende Situation vor: Da kauert so ein Häufchen Elend vor Ihnen, der Mann oder die Frau krümmt sich vor Schmerzen, weil die Schmerzmittel nicht mehr wirken, und Sie sagen, Herr oder Frau Soundso, tut uns furchtbar Leid, aber Dr. von Bovenden kommt erst in acht Tagen zurück, vorher können wir Sie nicht operieren, wir bekommen sonst gewaltige Abrechnungsschwierigkeiten.“ Er hieb mit der Faust auf den Tisch. „Wir sind schließlich Ärzte und keine Finanzjongleure!“
Der Arzt drückte mit seinem langen weißen Zeigefinger auf einen Knopf seiner Sprechanlage und nahm der Hörer ab. „Frau Meyer“, sagte er, „fragen Sie doch bitte einmal in der Personalabteilung nach, ob sich bei Dr. von Bovenden Neuigkeiten ergeben haben.“ Dann richtete er sich auf und blickte den Kommissar finster an.
Der Kommissar fühlte sich scheußlich. Wieso gelingt es mir nicht, die richtigen Fragen zu stellen, grübelte er. Sie führen mich gründlich an der Nase herum, fast schon entwürdigend gründlich... Es klingt wie auswendig gelernt! Komödie, sie spielen Komödie! Sie werfen mir einen Knochen vor und behalten den Braten.
„Sie wollten eben wissen“, sprach die Personalratsvorsitzende Ott jetzt, „was der Vorwurf des Abrechnungsbetrugs mit dem Verschwinden Dr. von Bovendens zu tun haben könnte. Leider war es nicht der erste Fall.“ Sie blickte den Klinikleiter hilfesuchend an. Nein, das Lügen lag ihr tatsächlich nicht.
Der Klinikchef richtete sich etwas auf. „Sie müssen das so sehen, Herr Kommissar. Die Kassen rechnen bekanntlich nach GOÄ-Katalog ab. Wenn eine Kasse halbwegs in den schwarzen Zahlen bleiben will, muss sie darauf bestehen, dass auch nach Katalog operiert wird. Herr Dr. von Bovenden allerdings hält sich manchmal nicht an diesen... hm... an diesen Grundsatz. Er ist der Meinung, wenn er sich immer nach der GOÄ-Gebührenordnung“ – der Doktor sagte: Gee-Oo-Äh, und es klang wie ein großes Gähnen – „richten würde, hätte er manche Patienten nach kurzer Zeit wieder auf dem Tisch. Und das wäre dann teurer als ein zusätzlicher Handgriff. Ich gestehe: Sehr nachvollziehbar! Jedoch bei den meisten Kostenträgern, insbesondere bei den Beihilfestellen, trifft er mit solchen Ansichten auf wenig Gegenliebe.“ Haardnack blickte sein Gegenüber an wie einen alten Bekannten. „Von Betrug also keine Spur.“
„Im vorliegenden Falle“, ergriff Frau Ott wieder das Wort, „handelte es sich um eine komplizierte Operation an der Wirbelsäule. Herr Dr. von Bovenden hielt es für richtig, den Eingriff dorsal und ventral durchzuführen – und nicht nur dorsal, wie es die Regel ist – und auch noch die beiden Beckenflügel zu versteifen. Der Kostenträger jedoch...“
Diercksen gewann den Eindruck, die beiden spielten sich über seinen Kopf hinweg lustig die Bälle zu. Ungeduldig unterbrach er: „Und was hat das alles mit seinem Verschwinden zu tun?“
„Herr Dr. von Bovenden ist ein sehr sensibler Mann“, sagte Dr. von Haardnack, „der Vorwurf des Abrechnungsbetrugs, insbesondere das Misstrauen, das damit verbunden ist, hat ihm in letzter Zeit sehr zugesetzt.“
„Sie meinen, er hat sich auf den Jakobsweg begeben?“
„Nein. Aber es ist möglich, dass er nur ein Paar Tage ausspannen will. Ein Operateur, der nicht mit sich und der Welt im Reinen ist, macht Fehler. Dann besser so, als mit dem Kopf durch die Wand.“
„Ohne sich abzumelden?“
„Das wird noch zu überprüfen sein. Möglicherweise ist der Anruf eingegangen, aber aus Versehen wieder gelöscht worden. Wir haben natürlich sofort in seiner Wohnung angerufen, aber da meldet sich niemand.“
Gemäß der Überlegung, dass ein geordneter Rückzug mehr bringen kann als ein überhasteter Angriff, bereitete Diercksen seinen Abgang vor. „Na schön“, sagte er, „dann will ich Sie nicht weiter aufhalten. Aber vielleicht könnten Sie mir doch noch etwas zum persönlichen Hintergrund von Herrn von Bovenden sagen, etwas, das nicht auf seiner Website steht. Auch Nebensächlichkeiten führen manchmal zum Ziel!“
Doch noch während er diese Worte aussprach, wusste er, dass diese Fragerei unsinnig war.
Die Dame Ott sah ihn von der Seite an und lächelte geringschätzig. Haardnack lachte laut und zeigte eine Reihe blütenweißer Zähne, die zu ebenmäßig waren, um echt zu sein. Dieses unnatürliche Gleichmaß war für Diercksen ein Zeichen – er hätte nicht sagen können wieso und warum – dass der Mann nicht mit offenen Karten spielte und hinter diesem gewaltigen Gebiss wichtige Informationen zurückhielt.
Der Doktor sagte: „Mein lieber Herr Diercksen, auch wenn wir es wollten, wir dürfen nicht. Da wir annehmen können, dass von Bovenden noch lebt, sind seine persönlichen Daten tabu. Sie kreuzen hier lediglich mit einem vagen Verdacht auf und haben keinerlei Beweise für ein Gewaltverbrechen. Also bemühen Sie sich nicht weiter. Wenn Sie konkrete Beweise hätten, sähe die Sache anders aus. Aber so –“ Er legte sich etwas theatralisch in seinem Stuhl zurück und blickte Diercksen schelmisch an. „Ich dürfte Ihnen noch nicht einmal verraten, welche Farbe der Kanarienvogel der Freundin der Lebensgefährtin des Dr. von Bovenden hat, gesetzt, er hätte eine.“ Er lachte jovial und stand auf, sichtlich zufrieden mit dem gelungenen Gesprächsschluss.
Doch da war er an den Falschen geraten. Auch Kommissar Diercksen war nicht auf den Mund gefallen. Er blickte auf den Ehering am Finger des Arztes und erwiderte: „Herr Doktor, wen lieben Sie mehr, Ihre Frau oder den Genitiv?“
Diercksen war schon fast draußen, da fiel ihm endlich die richtige Frage ein. „Ach, eine Frage noch, wenn Sie erlauben“, sagte er, „wie heißt eigentlich diese Patientin mit der komplizierten Rückenoperation?“
„Herr Kommissar“, sagte nun der Klinikchef sehr bestimmt, „kommen Sie wieder, wenn Sie von Bovendens Leiche gefunden haben. Dann sag´ ich´s Ihnen.“
Noch eine ganze Weile, nachdem Diercksen den Raum verlassen hatte, sah er die Zahnreihe vor sich, blendend weiß und verstörend massiv. Und vor allem: Falsch, so falsch wie der ganze Mann. Das war der Grund, warum er nicht sofort nach diesem Gespräch in seine Dienststelle zurückkehrte, sondern sich im Krankenhaus noch weiter umsah.

*
Es muss zur Ehre des Kommissars gesagt werden, dass er jetzt ganze Arbeit leistete. Gemäß seinem Grundsatz: Beharrlichkeit ist die Mutter des Erfolgs, fuhr er nämlich mit dem Fahrstuhl ins Kellergeschoss und schaute sich dort um. Rechts und links eines endlosen und hell erleuchteten Flurs gewahrte er eine Unzahl grau angestrichener zweiflügeliger Türen. Er drückte eine Klinke: Verschlossen. Auf einem Schild neben der Tür stand: Kompressor. Aus einiger Entfernung, vielleicht zehn oder zwölf Türen weiter, hörte er ein seltsames Stöhnen und Keuchen. Bestürzt eilte er dorthin, dabei dachte er: Sollten sie hier unten etwa die hoffnungslosen Fälle...
Die Tür zu dem Raum war nur angelehnt. Diercksen schob sie mit dem Fuß auf. Unter einem Waschbecken hockte ein Mann im blauen Overall und versuchte keuchend und stöhnend, ein Abflussrohr in eine Gummidichtung zu zwängen. Diercksen räusperte sich, und der Mann drehte ihm das Gesicht zu.
„Wer sind Sie, und was wollen Sie hier?“, fragte er unfreundlich.
„Ich schau´ mich nur mal zwanglos um“, sagte Diercksen.
„Sind Sie vom Finanzamt?“, fragte der Mann.
„Ja.“
„Dann hätte ich was für Sie!“
 



 
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