Der Wolf und das Meer

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Jarolep

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Nur ein Märchen
Der Wolf saß schon lange auf dem Feld. Die Erde war warm und feucht, ein süßlicher Geruch des neuen Lebens stieg von ihr empor und verwirrte ihn. Der Frühling lag in der Luft.Der Wolf spürte seltsame Unruhe und schaute sich um. Die Bäume waren noch kahl und die Felder noch nicht bestellt. Nichts versperrte den herrlichen Blick auf sein Königreich.
Denn er war ein König, dieser Wolf. Das hatte seine Mutter immer zu ihm gesagt: „Du bist mein kleiner König“. Er wollte sie immer fragen, was das bedeutet, ein König zu sein, und traute sich nicht. Eines Morgens kehrte sie in den Bau nicht mehr zurück. Er wartete noch einen Tag, dann verließ er in der Dämmerung sein Zuhause und ging, dem unsichtbaren Pfad folgend. „Ich bin ein König“, wiederholte er, richtete seine Augen nach oben, wo zwischen den Baumkronen die Scherben des nächtlichen Himmels verstreut waren, und schaute fragend auf die Sterne.
„Du bist ein König“, sprachen die Sterne zu ihm mit der Stimme seiner Mutter, „Und das ist dein Königreich“. Der Wolf heulte kurz auf, aber es kam keine Antwort mehr auf seinen Ruf.
Der Winter sträubte sich ein letztes Mal gegen das Feuer der Sonne, verlor seinen Schnee und verkroch sich mürrisch hinter die Berge. Der Wolf beschloss sein Reich zu erkunden. Langsam trat er aus der schützenden Dunkelheit des Waldes und lief auf das offene Feld.
„Ich grüße dich, mein Königreich“, sagte er und roch den Wind. Irgendwo in der Nähe versteckte sich ein Hase. Der Wolf hob die Lefzen und schmeckte die Angst des kleinen Tieres. Die nächste Böe brachte das Rascheln zu seinen Ohren. Er blickte zur Seite und sah ein Reh, das ihn mit seinen großen braunen Augen aus dem Gebüsch beobachtete. Im nächsten Moment warf sich das Reh zurück in den rettenden Wald. Der Wolf sprang auf, setzte sich aber wieder. Etwas war in diesem Wind. Etwas, was er nicht kannte und was ihn anzog. Das war der Grund seiner Unruhe.
Langsam zog der Wolf die Luft in sich hinein. Er zerlegte sie in tausende Gerüche seiner Welt und fand endlich einen, der fremd war. Er erkannte Salz darin. Nicht aber das sandige tote Salz von den Steinen trug der Wind zu ihm herbei. Nass, herb, betäubend war dieser Duft, er drang in das Herz des Wolfes und ließ ihn nicht mehr los.
Der Wolf stand auf. Seine Beine zitterten. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich schwach und unsicher. Der Wind streichelte sanft sein Fell. Zögernd machte der Wolf den ersten Schritt in die Richtung, woher der Geruch kam. Er beugte den Kopf nach vorne und stemmte mit seinen gewaltigen Pfoten in die Erde, als wollte er sich wehren. Doch der Ruf des Windes war stark und der König beugte sich seiner Macht. In gewaltigen Sprüngen überquerte er das Feld und verschwand in dem Wald.
Der Wolf rannte den ganzen Tag und nur am Abend, als seine Augen nichts mehr erkennen konnten, warf er sich hechelnd auf den Boden. Er drehte sich auf die Seite und leckte den Raureif, um seine Durst zu stillen. Nach kurzer Zeit schlief er erschöpft ein.
Mitten in der Nacht schreckte ein leises Geräusch ihn aus dem Schlaf. Der Wolf schnellte auf: eine Eule saß neben ihm, den Kopf leicht geneigt, und betrachtete ihn schweigend.
Der Wolf bleckte missmutig die Zähne. Die Eule flog ein paar Schritte weiter und ließ sich auf einen Ast nieder. Sie bauschte ihre Feder und starrte ihn mit ihren runden Augen an.
„Was willst du?“ brach der Wolf das Schweigen.
Die Eule schüttelte sich, umschrieb mit ihrem Kopf einen Kreis und richtete ihren Blick wieder auf ihn.
„Du bist doch ein Wolf?“, fragte sie.
„Ich bin der König“, sagte der Wolf.
„Der König?“ die Eule gluckste. „Wo sind deine Untertanen?“
„Meine wer?“ Er setzte sich wieder, seine Hinterbeine rutschten hervor und so saß er wie ein Welpe auf dem nackten Hintern.
Die Eule räusperte sich und drehte ihren Kopf wieder im Kreis.
„Was machst du hier, Wolf?“ wechselte sie das Thema.
Vorsichtig schnupperte der Wolf in die Luft, der fremde rufende Duft war noch da.
„Ich suche Salz, das nach Wasser riecht“, fing er an. Dann erzählte er ihr alles so gut, wie er nur konnte. Die Eule wiegte sich auf ihrem Ast und hörte aufmerksam zu. Ein paar Mal blinzelten ihre leuchtenden Augen und sie stieß merkwürdige Laute hervor.
Als er fertig war, breitete die Eule ihre Flügel aus und flog lautlos zu ihm.
„Uhu“, meinte sie und blickte sich unter die Füße.
„Was ist das?“ der Wolf schaute ihr suchend in die Augen.
Und wieder gluckste die Eule. „Das ist das Meer!“, schrie sie kurz und flog davon. Er hörte sie in der Dunkelheit noch ein Mal „König!“ rufen, dann war alles still.
Am nächsten Tag rannte der Wolf weiter. Seine Reise führte ihn an vielen Städten und Dörfern vorbei, über sattgrüne Weiden und durch alte Wälder.
Eines Morgens entdeckte der Wolf große weiße Vögel am Himmel. Sie kreisten schreiend über den Kiefernwald, in dem er die Nacht verbracht hatte, neigten sich zur Seite und ließen sich von dem Wind wegtragen. Die ganze Luft schmeckte nun nach Salz. Der Wolf streckte sich und lief den Vögeln nach.
Der Wald lichtete sich, der Boden wurde sandiger und plötzlich stand der Wolf vor einem ganzen Berg aus Sand. Hinter diesem Berg riefen die weißen Vögel.
Mühsam kletterte der Wolf den Berg hinauf. Seine Pfoten hatten keinen Halt, mehrmals rutsche er aus und kullerte zurück.
Gegen den Mittag saß er erschöpft auf dem Berg und starrte auf das, was vor ihm lag. Er hat sich geirrt, sein ganzer Weg war umsonst gewesen, denn er konnte nicht weiter.
Der Wolf schmiss seinen Kopf in den Rücken und heulte. Er heulte all die Tage und Nächte aus, an denen er unterwegs war, er heulte nach seinem Königreich, das er verlassen hatte, getrieben von seinem Traum. Doch das Geschrei der Vögel, das Toben des Windes und das gewaltige Rauschen legten sich auf seine Klage und ließen den Wolf verstummen.
Hinter sich hörte er Schritte. Ein Hund kam auf ihn zu. Aus halb geschlossenen Augen beobachtete der Wolf die kleinen Sandwolken, die unter den Pfoten des Hundes wirbelten. Er mochte diese Tiere nicht, aber etwas weckte sein Interesse. Der Hund hielt an und wedelte mit dem Schwanz. Der Wolf rümpfte die Nase. Und plötzlich wusste er, wer vor ihm stand. Es war eine Dame! Eine hübsche Hundedame!
Der Wolf legte sich auf den Bauch und schlug mit dem Schwanz auf den Boden. Die Hündin verstand und kam näher.
„Ich habe dich gehört“, sagte sie freundlich. „Du siehst aber komisch aus. Wie heißt du denn?“
„Wie ich heiße?“ Der Wolf richtete sich auf. „Ich weiß nicht“, sagte er ehrlich und kratzte sich hinter dem Ohr.
Die Hündin sah ihn eine Weile verwundert an. Dann fragte sie mitleidig: „Bist du ein Straßenhund?“.
„Ich bin kein Hund. Ich bin ein Wolf“, empörte er sich. Der Ausdruck ihrer Augen ließ ihn zurückweichen.
„Ich bin der König“, fügte er leise hinzu.
Ihre Angst legte sich allmählich. „Was machst du hier“, fragte sie und musterte ihn neugierig vom Kopf bis zu den Pfoten.
Der Wolf seufzte: „Ich suchte das Meer. Aber jetzt muss ich wohl umkehren. Ich kann nicht weiter. Wegen dem hier…“
Die Hündin folgte seinem Blick.
„Das ist das Meer“, sagte sie schließlich.
„Übrigens, ich heiße Mathilda“, sie drehte sich um und lief zurück. Der Wolf folgte ihr, bestürzt und sprachlos. Immer wieder stellte er sich vor ihr und suchte ihren Blick. So liefen die zwei dem Ufer der unendlichen rauschenden Wasserwüste entlang, die Meer hieß.

„Mutter, Mutter!“ Mathildas Erstgeborene drückte sich an ihre warme Seite.
„Mutter, etwas Fremdes liegt im Wind“, der Junge zitterte. „Es ist sehr kalt, es riecht nach Wasser, das gefroren ist“.
„Du bist mein kleiner König“, sagte Mathilde und leckte ihm die Schnauze ab.
Zögernd machte der neue König den ersten Schritt in die Richtung, woher der Geruch kam...
 



 
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