Die alte Dame Klärchen
Draußen ist es grau – Lesewetter, Fernsehwetter, Schreibewetter.
Ich klicke mich durch den Ordner „Kieznotizen“.
Die Erinnerung an Sonnentage, an denen man die stärkende Kraft unseres Zentralgestirns ganzkörperlich spüren konnte, lässt mich innerlich auf einem erstaunlich bequemen Klappstuhl Platz nehmen.
Mit dem Rücken zu einer namenlosen Gastronomie schaue ich über den Rand meiner Zeitung und betrachte durch die Anonymität meiner RayBan die Menschen am Köpenicker Schlossplatz.
Sie hasten, sie schlendern, sie stehen um zu schauen oder zu warten, sie sitzen - und jeder hat seine Geschichte.
Ab und an nippe ich an einem leidlichen Kaffee.
Der junge Kellner italienischen Typs strahlt mit der Sonne um die Wette, wie er da vor der hochglanzpolierten Glastür des Cafés steht, so dass die interessierte Damenwelt auch gleich noch seine rückwärtige Partie bewundern kann. Ohne sexuellen Anklang ist dieser selbstbewusste Bursche eine sympathische Erscheinung.
Ich muss über die rechte Schulter schauen, um ihn zu beobachten.
Als wir Blickkontakt haben, schiebe ich meine Brille in die Stirn und nicke mit dem Kinn ganz leicht in seine Richtung. Er wendet mir seine Front zu.
"Kann ich mal 'ne Frage fragen?"
Er kommt bejahend ein, zwei Schritte näher und schiebt das große Portemonnaie, welches er zuvor in den vor dem Schoß gekreuzten Händen gehalten hatte, in die Schürzentasche. Geradlinig wie der Scheitel, der sein nackenlanges gewelltes Haar teilt, blickt er mir ins Gesicht.
"Die alte Dame da drüben" beginne ich mit konspirativ gesenkter Stimme und zeige mit der Nasenspitze Richtung vier Tische weiter, "die auf dem wunderschönen alten Korbstuhl sitzt – dem einzigen seiner Art hier draußen - die hat da eben einen neuen Kaffee oder Tee bekommen, ohne dass sie vorher bestellt hat. Das beides zusammen lässt irgendwie darauf schließen, dass sie so 'ne Art Stammkunde ist.....ist mir so aufgefallen" setze ich meine Neugier begründend hinzu. Natürlich war das keine direkte Frage und der Kellner hätte an dieser Stelle mit einem "Soll's noch was sein?" die Sache thematisch abbrechen können. Aber er nickt.
"Stimmt" sagt er "sie ist oft hier."
"Wissen Sie, was sie dort macht? Ich meine, sie schaut immer so hektisch in die Runde, zeigt ab und an mit ihrem Stift auf vorbeilaufende Leute oder folgt mit Blicken den haltenden Straßenbahnen, als ob sie jemanden sucht oder auf jemanden wartet und manchmal freut sie sich, als ob sie eine alte Bekannte entdeckt hat. Und jedes Mal, wenn so eine erkennende Freude über ihr Gesicht gehuscht ist, notiert sie sich irgendwas. Sieht von hier aus wie 'ne Tabelle aus." Fragend und um Auskunft heischend schaue ich ihn an.
Er reibt sich das untere Ende seines römischen Profils und nestelt einen Kugelschreiber aus dem Schürzenlatz. Klick-klick und noch mal klick-klick schnipst er mit der Halteklammer des Kulis.
"Ich vermute da nix Schlimmes, eher so 'ne Art Marotte." hake ich nach, weil er so gar nichts sagt und frage nochmals "Aber was?"
Der Bursche zieht sich – es ist grad nicht viel zu tun – einen Stuhl vom leeren Nebentisch heran, lupft seine schienbeinlange schwarze und frischgebügelte Schürze ein wenig an, schwingt das linke Bein über die Sitzfläche und sitzt mir nun rittlings fast genau gegenüber. Die Schürze hängt züchtig zwischen den beiden Streben der Lehne herab und er klopft sich leicht mit dem Kuli an die Unterlippe.
"Das" sagt er mit normaler Lautstärke und weist mit dem Kuli über die rechte Schulter "ist Klärchen." Den Namen hatte er mit deutlich leiserer Stimme ausgesprochen, in so einer Art intimen Plauderton.
"Eigentlich heißt sie Klara, aber alle nennen sie hier Klärchen. Und ob Sie's glauben oder nicht; sie macht hier das Wetter. Mein Vater hat mir das mal erklärt. Der macht drin den Tresen und hat früher auch draußen bedient. Der hat mir mal gesagt, wenn Klärchen früh um zehn schon hier sitzt und ihre Listen führt, dann ist sie spätestens um vierzehn Uhr wieder verschwunden und der Nachmittag zieht sich zwei Stunden später zu und mit'm Umsatz draußen ist's für den Tag Neese."
Dieses Neese zum Schluss läßt mich seine sprachliche Sozialisation im Berliner Raum erkennen, denn bis zu diesem Augenblick war ich mir darüber überhaupt noch nicht schlüssig. Er sprach bis auf ein paar typische umgangssprachliche Verkürzungen ein astreines Hochdeutsch.
"Andererseits – um noch ein zweites Beispiel zu nennen – wenn sie gegen dreizehn Uhr kommt, und bis sechzehn Uhr bleibt, wird es ein sonniger Abend und der Laden brummt. Er, also mein Vater, hatte das mal von einem Stammkunden aufgeschnappt, der zwar jeden Abend irgendwo sein Bierchen trinken geht, aber immer, wenn er auf dem Weg von der Arbeit nach Hause am frühen Nachmittag Klärchen hier sitzen sieht, diesen Abend bei uns verbringt. Einer, der wahrscheinlich ständig Leute beobachtet. Als ich dann angefangen habe, im Laden mitzuhelfen, war ich mir manchmal nicht sicher wegen Tischdecken auflegen und Schirme montieren und so – da hat mein Vater immer gesagt, warte doch erst mal ab, ob Klärchen kommt und vor allem wann. Und dann hat er mir das erklärt."
Er bricht ab.
Zwei junge Frauen haben am Tisch neben der alten Dame Platz genommen. Eine der Beiden trägt ein Mörderdekolletee vor sich her. Als der Kellner eine Auswahl der Kaffeespezialitäten herunter betet, öffnet sie weit die Auslage beim Ausziehen ihrer Übergangsjacke und er verliert ein wenig Haltung und klappt leicht nach vorn.
Dann verschwindet er im Inneren.
Des Cafés.
Erst jetzt fällt mir auf, dass mein Kaffee in den letzten Zügen liegt. Ich beschließe, mir noch einen Zweiten zu gönnen und warte auf das Erscheinen des Kellners. Außerdem weiß ich ja immer noch nicht, was Klärchen da nun notiert.
Die Tür pendelt auf und geschmeidig windet sich der Kellner mit zwei großvolumigen Café-Crème-Tassen, einer normalen Tasse mit Untertasse und einem Pott, wie ich ihn vor mir habe, durch die recht eng stehenden Tische. Er serviert mit einem kleinen und vermutlich witzigen Spruch schwungvoll die großen Tassen, tauscht bei Klärchen das Gedeck aus, beugt sich kurz über ihre Liste und wechselt auch dort ein paar Worte. Man sieht, dass sich die Beiden kennen. Wieder an meinem Tisch, stellt er mir den Pott auf den Untersetzer und nimmt in gewohnter Weise Platz
"Ich hab dann angefangen – weil mir das so komisch vorkam – Notizen zu machen" fährt er nahtlos fort und kratzt sich an der Augenbraue. "Also nicht wie'n Tagebuch, mehr so mit Symbolen wie beim Wetterbericht. Vormittag, mittags, nachmittags und am Abend hab ich reingemalt, wie das Wetter aussieht und wie ich denke, wie es wird. Und parallel dazu hab ich Klärchens Besuche mit Ankunft- und Abmarschzeit notiert. Ich dachte immer, ich kenn mich aus, aber bei mir kam ne Quote von fifty-fifty raus und sie liegt übers Jahr bei gleichbleibend fünfundneunzig Prozent richtigen Tipps. Das weiß sie natürlich nicht, dass ich das so intensiv beobachte." Er schaut plötzlich über die Schulter zu den beiden jungen Frauen, ich schaue auch hin und sehe grad noch, wie die Dekolletierte sich in unnachahmlicher Weise den ersten Schaum ihres Kaffees von der Oberlippe leckt. Dann sieht sie zu uns herüber und lächelt. Natürlich zu ihm.
Er dreht sich zurück. "Perfekt!" sagt er ganz leise so ins Blaue hinein.
Es ist mittlerweile halbdrei am Nachmittag, Klärchen sitzt und schaut und schreibt und ich hab keinen Schimmer, was sie da schreibt. Deswegen lasse ich die Frage, was Klärchen denn an Tagen, die von vornherein grau sind, macht, einfach weg und sage:
"Ist ja verrückt! Und was schreibt sie da nun auf?"
"Gleich" sagt er und nimmt von einem Rentnerpärchen dankend eine Bestellung über zwei Mollen an.
Wieder ist er für ein paar Minuten verschwunden, wieder fällt mir dann erst auf, dass der Kaffeepott leer ist und wieder bringt er mir unaufgefordert einen Neuen mit heraus. Als er mir – nun zum dritten Mal - gegenüber sitzt, sage ich:
"Und? Was schreibt sie nun?"
Wie aus einer anderen Welt geholt starrt er mich für einen winzigen Augenblick verständnislos an.
"Ach so" begleitet er mit einem leichten Klaps gegen die eigene Stirn die Aufnahme des Gesprächsfadens "ihre Listen....sie sammelt Schauspieler. Und natürlich Schauspielerinnen. Da sind manchmal Namen bei, die hab ich noch nie gehört oder gesehen. Eben, wo ich kurz nach ihr geschaut hab, hat sie mir ihre heutige Ausbeute gezeigt. Mit der Straßenbahn ist gegen dreizehn Uhr ein junger Armin Mueller-Stahl angekommen, in einem Auto saß Ava Gardner – zumindest im Profil, da macht Klärchen nämlich Unterschiede – und ein Paul Hufschmied oder so ist vorhin mit dem Fahrrad über den Platz geschoben. Die Listen vom laufenden Monat hat sie immer in ihrer Tasche, falls mal was zu vergleichen ist und zu hause heftet sie die Listen Jahrgangsweise ab. Sie hat ne richtig schöne Handschrift und man sieht nie was Durchgestrichenes bei ihr. Aber um noch mal auf das Wetter zurück zu kommen – wollen sie mal meine Notizen sehen? Ich hab sogar schon mal überlegt, das Ganze diagrammmäßig zu erfassen."
Ich danke mit Blick zur Normaluhr auf dem Platz.
"Nee, ick muss los. Aber danke für die Informationen. Man lernt doch immer noch watt dazu. Watt muss ick zahlen"
Er eilt rein, kommt sofort mit einem Bon zurück.
"Sechsdreißig."
"Mach Sieben."
"Schönen Dank."
"Ick danke."
"Schönen Tach noch."
"Ebenso."
Dann bin ich weg.
Heute, wo es draußen grau, nass und kalt ist, ärgere ich mich.
Ich hätte doch fragen sollen, was Klärchen an solchen Tagen macht.
Draußen ist es grau – Lesewetter, Fernsehwetter, Schreibewetter.
Ich klicke mich durch den Ordner „Kieznotizen“.
Die Erinnerung an Sonnentage, an denen man die stärkende Kraft unseres Zentralgestirns ganzkörperlich spüren konnte, lässt mich innerlich auf einem erstaunlich bequemen Klappstuhl Platz nehmen.
Mit dem Rücken zu einer namenlosen Gastronomie schaue ich über den Rand meiner Zeitung und betrachte durch die Anonymität meiner RayBan die Menschen am Köpenicker Schlossplatz.
Sie hasten, sie schlendern, sie stehen um zu schauen oder zu warten, sie sitzen - und jeder hat seine Geschichte.
Ab und an nippe ich an einem leidlichen Kaffee.
Der junge Kellner italienischen Typs strahlt mit der Sonne um die Wette, wie er da vor der hochglanzpolierten Glastür des Cafés steht, so dass die interessierte Damenwelt auch gleich noch seine rückwärtige Partie bewundern kann. Ohne sexuellen Anklang ist dieser selbstbewusste Bursche eine sympathische Erscheinung.
Ich muss über die rechte Schulter schauen, um ihn zu beobachten.
Als wir Blickkontakt haben, schiebe ich meine Brille in die Stirn und nicke mit dem Kinn ganz leicht in seine Richtung. Er wendet mir seine Front zu.
"Kann ich mal 'ne Frage fragen?"
Er kommt bejahend ein, zwei Schritte näher und schiebt das große Portemonnaie, welches er zuvor in den vor dem Schoß gekreuzten Händen gehalten hatte, in die Schürzentasche. Geradlinig wie der Scheitel, der sein nackenlanges gewelltes Haar teilt, blickt er mir ins Gesicht.
"Die alte Dame da drüben" beginne ich mit konspirativ gesenkter Stimme und zeige mit der Nasenspitze Richtung vier Tische weiter, "die auf dem wunderschönen alten Korbstuhl sitzt – dem einzigen seiner Art hier draußen - die hat da eben einen neuen Kaffee oder Tee bekommen, ohne dass sie vorher bestellt hat. Das beides zusammen lässt irgendwie darauf schließen, dass sie so 'ne Art Stammkunde ist.....ist mir so aufgefallen" setze ich meine Neugier begründend hinzu. Natürlich war das keine direkte Frage und der Kellner hätte an dieser Stelle mit einem "Soll's noch was sein?" die Sache thematisch abbrechen können. Aber er nickt.
"Stimmt" sagt er "sie ist oft hier."
"Wissen Sie, was sie dort macht? Ich meine, sie schaut immer so hektisch in die Runde, zeigt ab und an mit ihrem Stift auf vorbeilaufende Leute oder folgt mit Blicken den haltenden Straßenbahnen, als ob sie jemanden sucht oder auf jemanden wartet und manchmal freut sie sich, als ob sie eine alte Bekannte entdeckt hat. Und jedes Mal, wenn so eine erkennende Freude über ihr Gesicht gehuscht ist, notiert sie sich irgendwas. Sieht von hier aus wie 'ne Tabelle aus." Fragend und um Auskunft heischend schaue ich ihn an.
Er reibt sich das untere Ende seines römischen Profils und nestelt einen Kugelschreiber aus dem Schürzenlatz. Klick-klick und noch mal klick-klick schnipst er mit der Halteklammer des Kulis.
"Ich vermute da nix Schlimmes, eher so 'ne Art Marotte." hake ich nach, weil er so gar nichts sagt und frage nochmals "Aber was?"
Der Bursche zieht sich – es ist grad nicht viel zu tun – einen Stuhl vom leeren Nebentisch heran, lupft seine schienbeinlange schwarze und frischgebügelte Schürze ein wenig an, schwingt das linke Bein über die Sitzfläche und sitzt mir nun rittlings fast genau gegenüber. Die Schürze hängt züchtig zwischen den beiden Streben der Lehne herab und er klopft sich leicht mit dem Kuli an die Unterlippe.
"Das" sagt er mit normaler Lautstärke und weist mit dem Kuli über die rechte Schulter "ist Klärchen." Den Namen hatte er mit deutlich leiserer Stimme ausgesprochen, in so einer Art intimen Plauderton.
"Eigentlich heißt sie Klara, aber alle nennen sie hier Klärchen. Und ob Sie's glauben oder nicht; sie macht hier das Wetter. Mein Vater hat mir das mal erklärt. Der macht drin den Tresen und hat früher auch draußen bedient. Der hat mir mal gesagt, wenn Klärchen früh um zehn schon hier sitzt und ihre Listen führt, dann ist sie spätestens um vierzehn Uhr wieder verschwunden und der Nachmittag zieht sich zwei Stunden später zu und mit'm Umsatz draußen ist's für den Tag Neese."
Dieses Neese zum Schluss läßt mich seine sprachliche Sozialisation im Berliner Raum erkennen, denn bis zu diesem Augenblick war ich mir darüber überhaupt noch nicht schlüssig. Er sprach bis auf ein paar typische umgangssprachliche Verkürzungen ein astreines Hochdeutsch.
"Andererseits – um noch ein zweites Beispiel zu nennen – wenn sie gegen dreizehn Uhr kommt, und bis sechzehn Uhr bleibt, wird es ein sonniger Abend und der Laden brummt. Er, also mein Vater, hatte das mal von einem Stammkunden aufgeschnappt, der zwar jeden Abend irgendwo sein Bierchen trinken geht, aber immer, wenn er auf dem Weg von der Arbeit nach Hause am frühen Nachmittag Klärchen hier sitzen sieht, diesen Abend bei uns verbringt. Einer, der wahrscheinlich ständig Leute beobachtet. Als ich dann angefangen habe, im Laden mitzuhelfen, war ich mir manchmal nicht sicher wegen Tischdecken auflegen und Schirme montieren und so – da hat mein Vater immer gesagt, warte doch erst mal ab, ob Klärchen kommt und vor allem wann. Und dann hat er mir das erklärt."
Er bricht ab.
Zwei junge Frauen haben am Tisch neben der alten Dame Platz genommen. Eine der Beiden trägt ein Mörderdekolletee vor sich her. Als der Kellner eine Auswahl der Kaffeespezialitäten herunter betet, öffnet sie weit die Auslage beim Ausziehen ihrer Übergangsjacke und er verliert ein wenig Haltung und klappt leicht nach vorn.
Dann verschwindet er im Inneren.
Des Cafés.
Erst jetzt fällt mir auf, dass mein Kaffee in den letzten Zügen liegt. Ich beschließe, mir noch einen Zweiten zu gönnen und warte auf das Erscheinen des Kellners. Außerdem weiß ich ja immer noch nicht, was Klärchen da nun notiert.
Die Tür pendelt auf und geschmeidig windet sich der Kellner mit zwei großvolumigen Café-Crème-Tassen, einer normalen Tasse mit Untertasse und einem Pott, wie ich ihn vor mir habe, durch die recht eng stehenden Tische. Er serviert mit einem kleinen und vermutlich witzigen Spruch schwungvoll die großen Tassen, tauscht bei Klärchen das Gedeck aus, beugt sich kurz über ihre Liste und wechselt auch dort ein paar Worte. Man sieht, dass sich die Beiden kennen. Wieder an meinem Tisch, stellt er mir den Pott auf den Untersetzer und nimmt in gewohnter Weise Platz
"Ich hab dann angefangen – weil mir das so komisch vorkam – Notizen zu machen" fährt er nahtlos fort und kratzt sich an der Augenbraue. "Also nicht wie'n Tagebuch, mehr so mit Symbolen wie beim Wetterbericht. Vormittag, mittags, nachmittags und am Abend hab ich reingemalt, wie das Wetter aussieht und wie ich denke, wie es wird. Und parallel dazu hab ich Klärchens Besuche mit Ankunft- und Abmarschzeit notiert. Ich dachte immer, ich kenn mich aus, aber bei mir kam ne Quote von fifty-fifty raus und sie liegt übers Jahr bei gleichbleibend fünfundneunzig Prozent richtigen Tipps. Das weiß sie natürlich nicht, dass ich das so intensiv beobachte." Er schaut plötzlich über die Schulter zu den beiden jungen Frauen, ich schaue auch hin und sehe grad noch, wie die Dekolletierte sich in unnachahmlicher Weise den ersten Schaum ihres Kaffees von der Oberlippe leckt. Dann sieht sie zu uns herüber und lächelt. Natürlich zu ihm.
Er dreht sich zurück. "Perfekt!" sagt er ganz leise so ins Blaue hinein.
Es ist mittlerweile halbdrei am Nachmittag, Klärchen sitzt und schaut und schreibt und ich hab keinen Schimmer, was sie da schreibt. Deswegen lasse ich die Frage, was Klärchen denn an Tagen, die von vornherein grau sind, macht, einfach weg und sage:
"Ist ja verrückt! Und was schreibt sie da nun auf?"
"Gleich" sagt er und nimmt von einem Rentnerpärchen dankend eine Bestellung über zwei Mollen an.
Wieder ist er für ein paar Minuten verschwunden, wieder fällt mir dann erst auf, dass der Kaffeepott leer ist und wieder bringt er mir unaufgefordert einen Neuen mit heraus. Als er mir – nun zum dritten Mal - gegenüber sitzt, sage ich:
"Und? Was schreibt sie nun?"
Wie aus einer anderen Welt geholt starrt er mich für einen winzigen Augenblick verständnislos an.
"Ach so" begleitet er mit einem leichten Klaps gegen die eigene Stirn die Aufnahme des Gesprächsfadens "ihre Listen....sie sammelt Schauspieler. Und natürlich Schauspielerinnen. Da sind manchmal Namen bei, die hab ich noch nie gehört oder gesehen. Eben, wo ich kurz nach ihr geschaut hab, hat sie mir ihre heutige Ausbeute gezeigt. Mit der Straßenbahn ist gegen dreizehn Uhr ein junger Armin Mueller-Stahl angekommen, in einem Auto saß Ava Gardner – zumindest im Profil, da macht Klärchen nämlich Unterschiede – und ein Paul Hufschmied oder so ist vorhin mit dem Fahrrad über den Platz geschoben. Die Listen vom laufenden Monat hat sie immer in ihrer Tasche, falls mal was zu vergleichen ist und zu hause heftet sie die Listen Jahrgangsweise ab. Sie hat ne richtig schöne Handschrift und man sieht nie was Durchgestrichenes bei ihr. Aber um noch mal auf das Wetter zurück zu kommen – wollen sie mal meine Notizen sehen? Ich hab sogar schon mal überlegt, das Ganze diagrammmäßig zu erfassen."
Ich danke mit Blick zur Normaluhr auf dem Platz.
"Nee, ick muss los. Aber danke für die Informationen. Man lernt doch immer noch watt dazu. Watt muss ick zahlen"
Er eilt rein, kommt sofort mit einem Bon zurück.
"Sechsdreißig."
"Mach Sieben."
"Schönen Dank."
"Ick danke."
"Schönen Tach noch."
"Ebenso."
Dann bin ich weg.
Heute, wo es draußen grau, nass und kalt ist, ärgere ich mich.
Ich hätte doch fragen sollen, was Klärchen an solchen Tagen macht.