Die Augen der Malerin
"Ich will alleine laufen!"
Der Satz prallt an die Ohren der Frau im dunklen Mantel. Fast stockt ihr Schritt einen Moment, aber der Mann an ihrer Seite läuft unbeirrt weiter, beachtet das zornige Kind hinter ihnen nicht. Die Frau jedoch dreht sich um. Ihr Name ist Britta, und Britta hätte selbst gern ein Kind gehabt. Stattdessen haben sie einen Hund, mit dem sie jetzt an diesem sonnigen Herbstnachmittag durch den Wald laufen.
"Nein!"
Wieder die Stimme des Kindes, Britta dreht leicht den Kopf und sieht hinter sich eine Familie mit einem kleinen Mädchen, das trotzig mit dem Fuß auf den Boden stampft. Die Mutter zieht ihre Hand fort, die eben noch fest mit der des Mädchens verbunden war. Damit es nicht wegläuft, oder hinfällt und sich weh tut. Das Kind wird trotzdem hinfallen, denkt Britta, weil es hinfallen will. Alle Kinder wollen allein laufen und nicht von den besorgten Händen der Erwachsenen an den Abenteuern der Kindheit gehindert werden. Sie senkt den Blick auf ihre eigene Hand, die fest unter den Arm ihres Mannes geklemmt ist. Geklemmt, nicht festgehalten in seiner warmen, großen Hand, die sie früher so gern gestreichelt hat. Früher hat er ihre Hand immer in die seine genommen, hat sie festgehalten, sie gewärmt.
Ich will auch alleine laufen! - die Worte fallen wie ein großer, schwerer Tropfen in ihre Gedanken. Wäre sie nicht schon groß, wäre sie auch einfach stehen geblieben, hätte mit dem kleinen Fuß kräftig auf den Boden gestampft, um den Worten Nachdruck zu verleihen. So aber tut sie es nicht. Die Worte in ihrem Kopf kann sie dennoch nicht ungeschehen machen. Wie lange ist es her, dass sie etwas alleine getan hat? Dass sie einfach losgelaufen ist, mitten hinein ins Leben? Britta zieht ihren Arm aus dem ihres Mannes Paul, wartet vorsichtig ab, ob er etwas sagt. Aber nichts geschieht. Paul ist mit seinen Gedanken bei der Arbeit, wie immer. Sie bleibt stehen - ob ihm das auffällt? Paul geht ein paar Schritte ohne sie, scheint nicht zu bemerken, dass der Abstand zwischen ihnen größer wird. Auf einmal wird es zum Spiel, sie läuft ein bisschen schneller, um ihn einzuholen. Als sie wieder auf gleicher Höhe sind, dreht Britta den Kopf, um in Pauls Gesicht zu sehen. Das ist nicht der Paul, der einmal mit der Leiter an ihr Fenster geklettert kam. Damals, als sie noch studierte und bei einer sehr auf die guten Sitten bedachten alten Dame ein Zimmer gemietet hatte. Im ersten Stock war ihr Zimmer gewesen, das mit den roten Geranien davor. Und eines Abends war Paul auf die Leiter gestiegen, hatte an ihre Scheibe geklopft und war zu ihr hereingeklettert. Nur so, weil es verboten war, und weil er sie unbedingt sehen wollte. Die Augen, in die sie jetzt an diesem Herbsttag im Wald sieht, sind anders. Sie wissen nichts mehr von Leitern an Fenstern, von Spaziergängen im Regen, von sommerlichen Ausflügen auf seiner Vespa.
"Die Rothauers kommen morgen abend, hast Du alles vorbereitet, wie es besprochen war?"
Pauls Stimme holt Britta in die Gegenwart zurück.
"Ich hab' das Fleisch nicht bekommen ..."
Das stimmt nicht, der Braten liegt bereits im Kühlschrank, fertig mariniert. Derselbe Gedanke, der sie mit dem Fuß aufstampfen lassen wollte, will jetzt Paul aus der Reserve locken.
"Ist es denn zuviel verlangt, dass Du Dich um das Essen kümmerst, und es auch richtig machst? Es kommt weiß Gott nicht oft vor, dass ich etwas von Dir verlange ..."
Pauls Stimme wird leiser, davongetragen von dem Rauschen, das in Brittas Kopf aufbraust. Ja, ich will alleine laufen, denkt sie, endlich mal wieder losgelöst aus allem, endlich mal wieder tief Luft holen, den Atem des Lebens schmecken. Endlich frei sein.
Die Heimfahrt in Pauls schönem, neuen Mercedes ist schweigsam. Er ist verstimmt, weil sie ihn nicht unterstützt, gerade bei so einem wichtigen Essen. Und für Britta spielt dieses Essen auf einmal keine Rolle mehr. Wieviele Essen hat sie in all den gemeinsamen Jahren gegeben, sie hat die Rolle, die ihr zugedacht war, gut gespielt, das weiß sie, aber sie weiß auch, dass es eine Rolle war. Ein Kind im Wald hat es ihr gesagt, das unbedingt alleine laufen wollte, das nicht geführt werden wollte. Britta hat sich führen lassen, zu sehr. Erst hatte Paul sie fort von der Malerei geführt, denn niemand wollte ihre Bilder kaufen, weil soviele malten wie sie. Brotlose Kunst hatte er gesagt, 'mach' doch lieber was anderes'. Sie hatte sich von ihm in die Werbung führen lassen - 'da wirst Du wenigstens für Deine Arbeit gewürdigt'. Mit Geld hatte er damit gemeint. 'Für Kinder haben wir später noch Zeit, lass' uns erst die Welt sehen, ein schönes Haus bauen, uns etwas gönnen.' Er hatte sie durch die Welt geführt, das konnte sie nicht leugnen. Aber sie hatte sie mit seinen Augen gesehen, nicht mehr mit den Augen der Malerin. Oh ja, sie war überall gewesen mit Paul, auf vielen Empfängen, bei pompösen Festspielen - wo man eben so hinging, wenn man zu denen da oben gehören wollte. Als sie ihren Job aufgab, war Paul glücklich, denn jetzt konnte sie zu Hause auf ihn warten, seinen Haushalt führen.
"Paul, wir sind zu weit gegangen. Ich will das nicht mehr."
Er schaut verständnislos, vielleicht glaubt er, sie spricht von dem heutigen Spaziergang.
"Ich bin jetzt 45, und nichts, wovon ich in meiner Jugend geträumt habe, ist Wirklichkeit geworden. Ich habe meine Träume verraten, meine Augen verschlossen."
"Geht es Dir denn nicht gut", fragt Paul, "hast Du nicht alles, was Du brauchst?"
"Du verstehst es nicht, nicht wahr? Ich wollte Dich, einfach nur Dich, aber in all den Jahren unserer Ehe habe ich Dich immer mehr verloren. Es ist fast zu spät, aber ich will es trotzdem noch einmal versuchen."
Als er fragt, was sie meint, sagt Britta nur, dass sie alleine laufen will.
Am nächsten Morgen ist sie fort. Sie fährt mit dem Zug nach Amsterdam, weil es ihr dort immer besonders gut gefallen hat. Und weil sie hofft, dort ihre Augen wiederzufinden. Die Augen der Malerin. Aber die langen Jahre der Dunkelheit haben ihren Blick getrübt, und es ist nicht einfach für sie, dorthin zurückzufinden, wo sie vor langer Zeit einmal gewesen war. Als der Ärger verflogen ist, den sie über ihre schleichende Entmündigung empfunden hat, kommt die Trauer zu ihr, Trauer über die verlorene Liebe, über die vergeudeten Jahre. Dann kommen die Fragen, die Unsicherheit, ob sie das Richtige getan hat, denn sie liebt Paul immer noch. Aber eben den Paul, der mit der Leiter in ihr Zimmer gestiegen kam.
Aber dann kann sie eines Morgens die Fenster zu ihrem Zimmer öffnen, den Kopf herausstrecken und tief die kühle Luft der frühen Stunde einatmen. Es ist ruhig in ihr geworden, der Ärger ist fort, sie hat sich entschieden. Eine Ecke ihres Herzens gehört noch immer Paul, wird für immer ihm gehören. Aber es macht sie nur um so reicher, lieben zu können. Die Malerin braucht starke Gefühle, sonst kann sie ihren Bildern keine Intensität geben. Und weil der Frühling bald kommt, sucht sie sich eine kleine Wohnung, eine Künstlerwohnung dieses Mal. Im Frühling soll man immer etwas Neues anfangen, keine kaputten Töpfe kleben, sondern neue kaufen.
Wenn Britta nun manchmal morgens wach wird und ihr Blick auf die Staffelei in ihrem Wohnzimmer fällt, dann springt ein kleiner Funke in ihrem Herzen, dann glaubt sie an ein neues Leben. Eine zweite Chance für sich und ihren Traum.
Als der Frühling in den Sommer übergeht, die Tage heißer werden, die Nächte länger, da klopft es eines Abends an die Scheibe zu ihrem Schlafzimmer. An der Mauer des kleinen Hauses lehnt eine Leiter, und ein Mann in Anzug und Krawatte schaut vorsichtig in das Zimmer, ob er nicht eine Frau entdeckt, die er früher einmal kannte.
"Ich will alleine laufen!"
Der Satz prallt an die Ohren der Frau im dunklen Mantel. Fast stockt ihr Schritt einen Moment, aber der Mann an ihrer Seite läuft unbeirrt weiter, beachtet das zornige Kind hinter ihnen nicht. Die Frau jedoch dreht sich um. Ihr Name ist Britta, und Britta hätte selbst gern ein Kind gehabt. Stattdessen haben sie einen Hund, mit dem sie jetzt an diesem sonnigen Herbstnachmittag durch den Wald laufen.
"Nein!"
Wieder die Stimme des Kindes, Britta dreht leicht den Kopf und sieht hinter sich eine Familie mit einem kleinen Mädchen, das trotzig mit dem Fuß auf den Boden stampft. Die Mutter zieht ihre Hand fort, die eben noch fest mit der des Mädchens verbunden war. Damit es nicht wegläuft, oder hinfällt und sich weh tut. Das Kind wird trotzdem hinfallen, denkt Britta, weil es hinfallen will. Alle Kinder wollen allein laufen und nicht von den besorgten Händen der Erwachsenen an den Abenteuern der Kindheit gehindert werden. Sie senkt den Blick auf ihre eigene Hand, die fest unter den Arm ihres Mannes geklemmt ist. Geklemmt, nicht festgehalten in seiner warmen, großen Hand, die sie früher so gern gestreichelt hat. Früher hat er ihre Hand immer in die seine genommen, hat sie festgehalten, sie gewärmt.
Ich will auch alleine laufen! - die Worte fallen wie ein großer, schwerer Tropfen in ihre Gedanken. Wäre sie nicht schon groß, wäre sie auch einfach stehen geblieben, hätte mit dem kleinen Fuß kräftig auf den Boden gestampft, um den Worten Nachdruck zu verleihen. So aber tut sie es nicht. Die Worte in ihrem Kopf kann sie dennoch nicht ungeschehen machen. Wie lange ist es her, dass sie etwas alleine getan hat? Dass sie einfach losgelaufen ist, mitten hinein ins Leben? Britta zieht ihren Arm aus dem ihres Mannes Paul, wartet vorsichtig ab, ob er etwas sagt. Aber nichts geschieht. Paul ist mit seinen Gedanken bei der Arbeit, wie immer. Sie bleibt stehen - ob ihm das auffällt? Paul geht ein paar Schritte ohne sie, scheint nicht zu bemerken, dass der Abstand zwischen ihnen größer wird. Auf einmal wird es zum Spiel, sie läuft ein bisschen schneller, um ihn einzuholen. Als sie wieder auf gleicher Höhe sind, dreht Britta den Kopf, um in Pauls Gesicht zu sehen. Das ist nicht der Paul, der einmal mit der Leiter an ihr Fenster geklettert kam. Damals, als sie noch studierte und bei einer sehr auf die guten Sitten bedachten alten Dame ein Zimmer gemietet hatte. Im ersten Stock war ihr Zimmer gewesen, das mit den roten Geranien davor. Und eines Abends war Paul auf die Leiter gestiegen, hatte an ihre Scheibe geklopft und war zu ihr hereingeklettert. Nur so, weil es verboten war, und weil er sie unbedingt sehen wollte. Die Augen, in die sie jetzt an diesem Herbsttag im Wald sieht, sind anders. Sie wissen nichts mehr von Leitern an Fenstern, von Spaziergängen im Regen, von sommerlichen Ausflügen auf seiner Vespa.
"Die Rothauers kommen morgen abend, hast Du alles vorbereitet, wie es besprochen war?"
Pauls Stimme holt Britta in die Gegenwart zurück.
"Ich hab' das Fleisch nicht bekommen ..."
Das stimmt nicht, der Braten liegt bereits im Kühlschrank, fertig mariniert. Derselbe Gedanke, der sie mit dem Fuß aufstampfen lassen wollte, will jetzt Paul aus der Reserve locken.
"Ist es denn zuviel verlangt, dass Du Dich um das Essen kümmerst, und es auch richtig machst? Es kommt weiß Gott nicht oft vor, dass ich etwas von Dir verlange ..."
Pauls Stimme wird leiser, davongetragen von dem Rauschen, das in Brittas Kopf aufbraust. Ja, ich will alleine laufen, denkt sie, endlich mal wieder losgelöst aus allem, endlich mal wieder tief Luft holen, den Atem des Lebens schmecken. Endlich frei sein.
Die Heimfahrt in Pauls schönem, neuen Mercedes ist schweigsam. Er ist verstimmt, weil sie ihn nicht unterstützt, gerade bei so einem wichtigen Essen. Und für Britta spielt dieses Essen auf einmal keine Rolle mehr. Wieviele Essen hat sie in all den gemeinsamen Jahren gegeben, sie hat die Rolle, die ihr zugedacht war, gut gespielt, das weiß sie, aber sie weiß auch, dass es eine Rolle war. Ein Kind im Wald hat es ihr gesagt, das unbedingt alleine laufen wollte, das nicht geführt werden wollte. Britta hat sich führen lassen, zu sehr. Erst hatte Paul sie fort von der Malerei geführt, denn niemand wollte ihre Bilder kaufen, weil soviele malten wie sie. Brotlose Kunst hatte er gesagt, 'mach' doch lieber was anderes'. Sie hatte sich von ihm in die Werbung führen lassen - 'da wirst Du wenigstens für Deine Arbeit gewürdigt'. Mit Geld hatte er damit gemeint. 'Für Kinder haben wir später noch Zeit, lass' uns erst die Welt sehen, ein schönes Haus bauen, uns etwas gönnen.' Er hatte sie durch die Welt geführt, das konnte sie nicht leugnen. Aber sie hatte sie mit seinen Augen gesehen, nicht mehr mit den Augen der Malerin. Oh ja, sie war überall gewesen mit Paul, auf vielen Empfängen, bei pompösen Festspielen - wo man eben so hinging, wenn man zu denen da oben gehören wollte. Als sie ihren Job aufgab, war Paul glücklich, denn jetzt konnte sie zu Hause auf ihn warten, seinen Haushalt führen.
"Paul, wir sind zu weit gegangen. Ich will das nicht mehr."
Er schaut verständnislos, vielleicht glaubt er, sie spricht von dem heutigen Spaziergang.
"Ich bin jetzt 45, und nichts, wovon ich in meiner Jugend geträumt habe, ist Wirklichkeit geworden. Ich habe meine Träume verraten, meine Augen verschlossen."
"Geht es Dir denn nicht gut", fragt Paul, "hast Du nicht alles, was Du brauchst?"
"Du verstehst es nicht, nicht wahr? Ich wollte Dich, einfach nur Dich, aber in all den Jahren unserer Ehe habe ich Dich immer mehr verloren. Es ist fast zu spät, aber ich will es trotzdem noch einmal versuchen."
Als er fragt, was sie meint, sagt Britta nur, dass sie alleine laufen will.
Am nächsten Morgen ist sie fort. Sie fährt mit dem Zug nach Amsterdam, weil es ihr dort immer besonders gut gefallen hat. Und weil sie hofft, dort ihre Augen wiederzufinden. Die Augen der Malerin. Aber die langen Jahre der Dunkelheit haben ihren Blick getrübt, und es ist nicht einfach für sie, dorthin zurückzufinden, wo sie vor langer Zeit einmal gewesen war. Als der Ärger verflogen ist, den sie über ihre schleichende Entmündigung empfunden hat, kommt die Trauer zu ihr, Trauer über die verlorene Liebe, über die vergeudeten Jahre. Dann kommen die Fragen, die Unsicherheit, ob sie das Richtige getan hat, denn sie liebt Paul immer noch. Aber eben den Paul, der mit der Leiter in ihr Zimmer gestiegen kam.
Aber dann kann sie eines Morgens die Fenster zu ihrem Zimmer öffnen, den Kopf herausstrecken und tief die kühle Luft der frühen Stunde einatmen. Es ist ruhig in ihr geworden, der Ärger ist fort, sie hat sich entschieden. Eine Ecke ihres Herzens gehört noch immer Paul, wird für immer ihm gehören. Aber es macht sie nur um so reicher, lieben zu können. Die Malerin braucht starke Gefühle, sonst kann sie ihren Bildern keine Intensität geben. Und weil der Frühling bald kommt, sucht sie sich eine kleine Wohnung, eine Künstlerwohnung dieses Mal. Im Frühling soll man immer etwas Neues anfangen, keine kaputten Töpfe kleben, sondern neue kaufen.
Wenn Britta nun manchmal morgens wach wird und ihr Blick auf die Staffelei in ihrem Wohnzimmer fällt, dann springt ein kleiner Funke in ihrem Herzen, dann glaubt sie an ein neues Leben. Eine zweite Chance für sich und ihren Traum.
Als der Frühling in den Sommer übergeht, die Tage heißer werden, die Nächte länger, da klopft es eines Abends an die Scheibe zu ihrem Schlafzimmer. An der Mauer des kleinen Hauses lehnt eine Leiter, und ein Mann in Anzug und Krawatte schaut vorsichtig in das Zimmer, ob er nicht eine Frau entdeckt, die er früher einmal kannte.