Die Geschichte von Kain, Abel und der Mutter

Anonym

Gast
Bei der Geschichte von Kain und Abel handelt es sich um eine der berühmtesten aus der Bibel, und ihre wesentliche Aussage besteht bekanntlich darin, dass Kain seinen jüngeren Bruder Abel umbringt.
Moderne Interpreten gehen von der Etymologie des Namens Kain, der mit „Schmied“ übersetzt werden kann, und von den in der Bibel angegebenen „Berufen“ der beiden Kontrahenten aus. So wird Kain als Ackermann und Abel als Hirte beschrieben.
Im Verständnis der soziologisch orientierten Bibel-Auslegung symbolisiert Kain den ansässigen Bauern, der bereits relativ hoch technisiert ist (Schmied!), während Abel für die umherziehenden Nomaden steht.
Angeblich liegt mit der biblische Erzählung ein indirekter Bericht vom Kampf nomadisierender Hirtenvölker gegen sesshafte und gut gerüstete Bauern vor. Als Vertreter einer nicht mehr zeitgemäßen Lebensweise zogen die Nomaden dabei naturgemäß den Kürzeren, und weil die alten Hebräer ursprünglich Hirtenvölker waren, identifizierten sie sich mit dem geschlagenen Abel.
Bei dieser Sichtweise bleibt aber der eigentliche Kern der Geschichte, das Familiendrama nämlich, unberücksichtigt.
Wieso war es nötig, die beiden Protagonisten als Brüder zu verschlüsseln und das Ganze auch noch so darzustellen, dass der ältere den jüngeren erschlägt? Denn wenn schon Symbolik, hätte es ja umgekehrt sein müssen: die Jüngeren, Moderneren, technisch Versierten überwinden die entwicklungsgeschichtlich Älteren und deren überlebte Gesellschaftsform.
Bezieht man die Geschichte jedoch auf die Konstellation in einer Familie, löst sich dieser Widerspruch schnell auf. Denn wenn es darum geht, einen Bruder aus dem Weg zu räumen, so möchte regelmäßig der ältere dies mit dem jüngeren tun, umgekehrt passt es nicht zusammen.
Der kindlichen Psyche sind solche Wünsche bei weitem nichts Fremdes, denn nahezu jeder ältere Bruder sieht im jüngeren einen Konkurrenten um die Gunst der Eltern.
Während des Kleinkind-Stadiums und zum Teil später noch, sind die Eltern im Verständnis des Kindes zu nichts anderem da, als seine spontan auftretenden Bedürfnisse zu befriedigen, und zwar sofort. Das Kind fühlt sich allmächtig, weil es die Personen seiner Umwelt jederzeit dazu veranlassen kann, seinen Wünschen zu folgen. Das erfolgreiche Durchlaufen dieser Entwicklungsphase bildet übrigens die Voraussetzung für den Aufbau eines angemessenen Selbstwertgefühls.
Die Ankunft eines Brüderchens jedoch durchbricht die Allmachtsgefühle in brutalster Weise. Plötzlich haben die Eltern auch andere Aufgaben und wenden sich zumindest teilweise vom ersten Kind ab und dem zweiten zu. Eifersucht entsteht, und das Erstgeborene wünscht das kleine Geschwister von ganzem Herzen zum Teufel.
Könnte man die Wünsche und Phantasien eines Kindes in dieser Situation auf eine Leinwand projizieren, die freiwillige Selbstkontrolle müsste wegen Zurschaustellung verrohender und gewaltverherrlichender Verhaltensweisen energisch einschreiten.
Gelingt es den Eltern in dieser Phase nicht, das ältere Geschwister ihrer uneingeschränkten Wertschätzung und Liebe zu versichern, wird es vorgehen wie Kain: es wird zunächst einmal versuchen, Aufmerksamkeit zu erregen.
Kain tut dies in einer Weise, die für ein Kind im Alter von zwei bis drei Jahren typisch ist: er versucht, den mächtigen Erwachsenen etwas zu schenken. Wenn man etwas gibt, kann man auch etwas dafür verlangen, hat er bis dato gelernt.
Was sagt die Bibel?
„Es begab sich nach etlicher Zeit, dass Kain dem Herrn Opfer brachte von den Früchten des Feldes“.
Kain hatte also offensichtlich einige Zeit gewartet, bis er mit der Taktik der Aufmerksamkeitserregung anfing, er hat den Eltern gleichsam noch eine Chance gegeben.
Als Zwischenbemerkung sei hier eingeschoben, dass urtümliche Mythen in ihrem zeitlichen Ablauf nicht so zu verstehen sind, als ob sich die Geschehnisse tatsächlich kurz nacheinander abgespielt hätten. Sie beschreiben zumeist, wie auch hier, eine längerdauernde psychische Entwicklung. In dem Ausdruck „etlich“ ist davon noch etwas erhalten geblieben.
Bleiben wir aber zunächst beim Versuch Kains, ein Geschenk an den Mann zu bringen.
Was nützt ihm sein ehrliches Bemühen? Gar nichts, denn die Zuwendung gilt ausschließlich Abel:
„Und der Herr sah gnädig an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an.“
Bemerkenswerterweise gibt die Bibel keinen Grund für das absonderliche Verhalten des „Herrn“ an. Moderne Interpreten meinen, Abels Opfer, bestehend aus Tieren und Fleisch, sei eben mehr Wert gewesen als das Kains, der „nur“ Früchte des Feldes darbringen konnte. Sie folgen damit unwillkürlich der Identifikationslinie der Verfasser, denn diese vertreten als Nachfahren von Hirtenvölkern selbstverständlich die Auffassung, Schaffleisch sei wertvoller als Getreide.
Und in der Tat war es „mehr wert“, aber in einem anderen Sinn. Alles was Abel tat, war „mehr wert“ als das, was Kain tun konnte. Zumindest erscheint es Kain so. Er hat jedenfalls seine Ressourcen erschöpft und im Sinne des Wortes alles „geopfert“, was er hatte. Das allerdings war, wie sich herausstellen wird, zu wenig.
Im Grunde genommen bedarf es auch keiner weiteren Erläuterung des Vorgangs und der Beweggründe, die dahinterstehen könnten. Die Sache ist klar, und deshalb verzichtet der Erzähler auch darauf.
Zum einen nämlich wird hier ein Stück erzieherischer Realität abgebildet, denn Eltern begründen ihr Handeln gegenüber Kindern gemeinhin nicht. Die haben das so hinzunehmen, wie es kommt.
Dass der „Herr“ in dieser Beziehung nicht mit sich diskutieren lässt, kommt auch noch an anderen Stellen der Bibel zum Ausdruck. Im 2. Buch Mose, Vers 19, gibt er folgenden Satz von sich:
„Wem ich aber gnädig bin, dem bin ich gnädig; und wes ich mich erbarme, des erbarme ich mich.“ Punktum!
Und zum anderen ist dem Erzähler wie dem Zuhörer im Innersten klar, was abläuft: ein wohlbekannter innerfamiliärer Konflikt.
Daraus erklärt sich übrigens auch die „Berühmtheit“ und der Verbreitungsgrad der Geschichte von Kain und Abel, denn solche urtümlichen Sagen beinhalten häufig unbewusste Konflikte und unterschwellig vorhandene, aber verbotene Wünsche aus dem kindlichen Erleben und Empfinden. Daran ändert auch nichts, dass die beiden als mehr oder weniger „erwachsen“ geschildert werden, sich also in einem Alter befinden, in dem solche Wünsche im allgemeinen bereits verarbeitet und verdrängt sind.
Bleiben sie aber - wenn auch nur teilweise - virulent, werden sie in eine „logische“ Erklärung gezwängt, weil sie abgewehrt werden müssen. Genau dies tun die Verfasser, aber auch die wissenschaftlich-rationalen Interpreten dieses Dramas. Sie fallen damit auf ein Stück natürlicher Verschlüsselung herein, denn die Transzendierung ins Erwachsenenalter besagt eben, dass man „unschuldigen“ Kindlein derartige Handlungen und Wünsche nicht zutrauen darf und kann.
Und weil solche Geschichten unterschwellige Virulenz besitzen, wirken sie faszinierend, bleiben lange im Gedächtnis und erweisen sich gegenüber Verfälschungen und „Korrekturen“ als relativ stabil. Bekanntestes Beispiel dafür dürfte die Sage von Ödipus sein, und auch der war „erwachsen“.
Jedenfalls, auch dem Kain ist klar, was läuft, denn:
„Da ergrimmte Kain und senkte finster den Blick.“
Er fühlt sich zurückgesetzt und ist stinkesauer. Eigentlich will er zu weinen und zu schreien anfangen, getraut sich aber nicht.
Doch er bekommt noch eins drauf:
„Da sprach der Herr zu Kain: Warum ergrimmst du so, und warum senkst du den Blick? Ist's nicht also? Wenn du fromm bist, so bist du angenehm...“
Jetzt spielt sich ein Geschehen ab, das geradezu konstituierend für das Erziehungsverhalten vieler Eltern ist. Die kindlichen Gefühle werden als „böse“ denunziert. Wer solche Gefühle hat, ist nicht „fromm“, also nicht brav, und nur ein braves Kind ist „angenehm“.
Anstatt die emotionale Welt des Kindes zu akzeptieren und behutsam darauf einzuwirken, werden ihm seine Gefühle genommen, und es erfolgen Anweisungen zum Wohlverhalten: „Sei ruhig, ein braves Kind ist nicht trotzig! Schau mich an, wenn ich mit dir rede!“ Das Ganze wird mit der latenten Drohung: „Wenn du nicht tust, was ich dir sage, mag ich dich nicht mehr!“ verbunden.
Kein Wunder also, dass dann geschah, was geschehen musste. Kain fasst einen Plan:
„Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: Laß uns aufs Feld gehen...“
Als Kain allein zurückkommt, fragt ihn der „Herr“, wo denn Abel sei. Er tut dies, obwohl alle Beteiligten wissen, dass er bereits Bescheid weiß.
Auch das ist ein beliebtes Spielchen, das Eltern mit ihren Kindern treiben. Sie versuchen, sie aufs Glatteis zu führen und demonstrieren ihre vermeintliche Allmacht und Allwissenheit. Den Kindern bleibt damit kein Bereich ihrer Gedanken mehr, der nur ihnen gehört. Sie fühlen sich ständig von den Eltern durchschaut. Da es aber keinem Kind gelingt, immer und in allen Verhaltensweisen und Gedanken „brav“ zu sein, sind stetige Schuldgefühle und Selbstzweifel die Folge. Außerdem wird das Kind durch derartige Fragen in eine Beziehungsfalle gelockt, aus der es nicht entrinnen kann.
Auf Kain bezogen, stellt sich diese Falle so dar:
Gibt er seine Missetat zu, war er nicht „fromm“, gibt er sie nicht zu, ist er es auch nicht, weil er weiß, dass der „Herr“ es weiß, er mithin lügt. Er kann tun, was er will, es ist immer falsch.
Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als ein Verhalten an den Tag zu legen, das die Erwachsenenwelt als „frech“, „trotzig“ und „verstockt“ bezeichnet. Deswegen antwortet er mit den klassischen Worten: „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“, eine Erwiderung, die auf die eigentliche Frage gar nicht eingeht, gleichzeitig aber einen verzweifelten Gegenangriff darstellt.
Die Rückfrage Kains ist sprachliches Allgemeingut geworden, wenn es darum geht, mangelnde Nächstenliebe oder zu geringe Solidarität mit Menschen in Not zu beklagen. Die damit angeblich verbundene Einstellung den Mitmenschen gegenüber wird gewöhnlich den Hartherzigen und Geizigen, den Egoisten und Rücksichtslosen zugeschrieben, was Kain zum über alle Maßen verwerflichen Bösling macht.
Er aber hat aber etwas ganz anders damit ausdrücken wollen, nämlich:
„Immer muss ich auf den Kleinen aufpassen, um mich kümmert sich keiner, und nie kann ich machen was ich will!“.
Auch hier wird ganz konkret eine typische Erziehungssituation angesprochen, die gewiss nicht selten vorkommt und im älteren Bruder das Gefühl der Minderwertigkeit und Kränkung verursacht.
Der „Herr“ aber begreift immer noch nichts und belegt ihn ob seiner Missetat mit der Strafe der Verstoßung.
Das ist bemerkenswert, denn normalerweise hätte Kain nach der Maxime „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ hingerichtet werden müssen.
Warum war das nicht der Fall?
Ganz einfach, Kain hat seinen Bruder gar nicht getötet, zumindest nicht absichtlich. Wahrscheinlich hat er nicht ordentlich auf ihn aufgepasst, weil er seinen eigenen Interessen nachging, und der Kleine krabbelte irgendwo herum, wo er dies nicht hätte tun sollen. Vielleicht ist ihm dabei etwas zugestoßen.
Außerdem war Kain gar nicht strafmündig, obwohl er als erwachsen geschildert wird. Denn die ganze Geschichte spielt sich unter Kindern ab, beschreibt, was im Kopf eines älteren Geschwisters vorgeht und wie sich die geheimen Wünsche in Wunschvorstellungenen und Handlungsansätzen äußern. Aber für die ist Kain kaum selbst verantwortlich zu machen, sondern der „Herr“.
Weil dieser von seiner Mitschuld und Verantwortung weiß, dies aber nicht zugeben will, wählt er einen bei Erwachsenen in ihrer Machtfülle beliebten Weg: Er spricht sich nicht mit dem Kind aus oder versucht, seine Beweggründe zu verstehen, sondern versagt ihm seine Zuwendung und bestraft es mit Liebesentzug oder Prügeln – er verstößt es.
Als Höhepunkt seiner Strafmaßnahmen versieht der „Herr“ das Kind mit dem „Kainsmal“, um dessen Selbstwertgefühl vollkommen zu zersetzen und es als Alleinschuldigen zu brandmarken.
Vergleichbare pädagogische Maßnahmen waren bis vor nicht allzu langer Zeit an vielen Schulen üblich. Kinder bekamen, zeigten sie keine zufriedenstellenden Leistungen, Eselsohren aufgesetzt, oder wurden - man schlägt ein Kind nicht - an den Pranger, wollte sagen, in die Ecke, gestellt. Damit war ihr „Versagen“ öffentlich gemacht und der letzte Schutzwall, der es ihnen ermöglicht hätte, ein Stück Selbstwertgefühl aufrechtzuerhalten, durchbrochen.
Doch beim „Verstoßenwerden“ spielen noch anderer Gesichtspunkte eine Rolle:
Moderne Interpretationen vertreten die Auffassung, in alter Zeit sei eine Verstoßung noch schlimmer als die Tötung gewesen, da ein Überleben ohne den Schutz der Gemeinschaft unmöglich gewesen, der Delinquent folglich zum langsamen Verschmachten verurteilt gewesen sei. Das mag zwar richtig sein, trifft aber hier in einem ganz anderen Sinn zu:
Das Verstoßen eines Kindes, sei es nun durch Liebesentzug, körperliche Bestrafung oder räumliche Trennung kann im Verständnis des Kindes in der Tat eine schlimmere Strafe als der Tod sein, Viele Kinder leben in beständiger Angst, von den Eltern „verstoßen“ zu werden, wenn sie nicht „brav“ sind, denn das führt gleichsam zum seelischen „Verschmachten“, was der Zerstörung ihres Selbst und damit der Nichtexistenz gleichkäme.
Was „Tod“ ist, können sie noch nicht erfassen.
Außerdem wird die Verstoßung in der Bibel als Folge der Tat beschrieben. Das aber ist die falsche Stelle.
„Logischerweise“ muss das zwar so sein, denn dem rational denkenden Zuhörer erscheint sie damit als wohlbegründete Strafe für die verwerfliche Tat. Verfolgt man nur den oberflächlichen Ablauf der Geschichte, würde etwas anderes keinen Sinn machen.
Es handelt sich dabei jedoch um eine sogenannte Kausalitätsumkehrung, wie sie im Traum und in archaischen Mythen, die ja mit menschlichen Träumen viel zu tun haben, oft vorkommt: die Reihenfolge der sich bedingenden Ereignisse wird umgedreht.
Das entspricht den uneingestanden Wünschen des Träumenden und erleichtert sein Gewissen.
Im Fall von Kain und Abel erleichtert es das Gewissen des Erzählers und seiner Zuhörer, die sich mit dem „Herrn“ identifizieren, bereitwillig den Verbrecher bestrafen und ihre eigene Schuldlosigkeit bestätigt sehen möchten.
In Wirklichkeit war Kain war bereits „verstoßen“, bevor er opferte. Das ergibt sich aus der Verachtung, die er für seine Mühen erntete. Die Tragik seines Handelns liegt in dem Versuch, Maßnahmen gegen das Eintreten eines Zustandes zu ergreifen, der bereits Faktum ist und damit genau das zu erreichen, was er vermeiden möchte.
Oder: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.
Kain wurde nicht verstoßen, weil er Abel tötete, sondern er war bereits verstoßen, und deswegen vernachlässigte er seinen Bruder. Er tötete ihn sozusagen symbolisch, was dann zur endgültigen Verstoßung führte.
Ohne Zweifel hatte Kain kaum eine Chance, anders zu handeln, als er es tat. Er war das Opfer äußerst ungünstiger Bedingungen.
Aber auch Kinder, die unter glücklicheren Umständen aufwachsen, verspüren allein aufgrund der Existenz eines jüngeren Geschwisters nahezu immer den Wunsch, den „Brudermord“ des Kain zu wiederholen.
Das ist natürlich und entspricht ihrem Lebensdrang.
Wie schwierig es allerdings ist, diesen natürlichen Wunsch ins Bewusstsein von Eltern zu rücken und sie auf das damit verbundenen Konfliktpotential vorzubereiten, darauf weist eine Begebenheit hin, die mir eine gute Bekannte, Mutter zweier Töchter im Alter von acht Monaten und vier Jahren, kürzlich erzählte:
Die Ältere saß im Wohnzimmer vor dem Fernseher und sah sich ihre Lieblingssendung an. Die kleine Schwester lag neben ihr im Bettchen und schlief. Angesichts dieser friedvollen Szene nahm die Mutter die Gelegenheit wahr, sich ins Schlafzimmer im ersten Stock des Einfamilienhauses zu begeben und die Betten zu machen. Nach einiger Zeit kam sie wieder herunter und sah, wie die Ältere der Jüngeren ein Kissen aufs Gesicht drückte. Erschrocken nahm sie ihr das Kissen weg, stellte fest, dass sie noch rechtzeitig gekommen war und forderte eine Erklärung. „Naja“, meinte die „Täterin“, „die Sabine hat immer gequengelt und geschrien, und das hat mich beim Fernsehen gestört.“
Der Vorfall gab der Mutter Anlass zu der Bemerkung, wie stark vierjährige Kinder doch schon vom Fernsehen abhängig seien.
Als ich sie auf die Möglichkeit aufmerksam machte, dass vielleicht ein Geschwisterkonflikt, verbunden mit einem Beseitigungswunsch, vorliegen könnte, meinte sie kategorisch, das könne sie sich bei ihrer Tochter nicht vorstellen, wo sie doch ihre Kinder gleichermaßen liebe und besonders die Ältere ein solch ruhiges und braves Mädchen sei.
Ganz abgesehen davon, dass hier zu fragen wäre, wieso die Ältere der Mutter so „ruhig und brav“ erscheint - ist sie vielleicht „fromm“? - kommen in dieser Geschichte wesentliche Kennzeichen verbotener Wünsche zum Ausdruck:
Der Erwachsene hat sie überwunden und kann sich nicht mehr vorstellen, wie er als Kind gedacht hat. Gleichzeitig sind die Wünsche in hohem Maße tabuisiert und nur gegen erheblichen Widerstand bewusst zu machen. Sie gar dem eigenen Kind zuzutrauen, ist schlechterdings unmöglich.
Wenn Beseitigungswünsche gegenüber jüngeren Geschwistern so natürlich und damit auch so häufig sind, also sozusagen mit zur Familie gehören, dann stellt sich allerdings die Frage, wieso eigentlich eine nicht unerhebliche Anzahl von Individuen aus diesem gefährdeten Personenkreises überlebt.
Der Grund dafür liegt nicht, wie häufig angenommen, in der kindlichen Unschuld (das dürfte inzwischen klargeworden sein), sondern in dem Vermögen und Bedürfnis von Kindern, sich mit den Eltern zu identifizieren. Wahrscheinlich ist die Fähigkeit zur Identifikation, das heißt, ein Stück so sein zu wollen (und auch zu müssen) wie die Eltern, das nützlichste Potential für den gesunden Verlauf der psychischen Entwicklung eines Kindes. Identifikation bedeutet Übernahme von konkreten Verhaltensweisen, wie zum Beispiel Kuchenbacken im Sandkasten als Nachahmung mütterlicher Kochkünste, bis hin zur Verinnerlichung von Geisteshaltungen, moralischen Wertsystemen und ganzen Weltbildern.
Kümmern sich Eltern liebevoll um das jüngere Geschwister und vernachlässigen dabei das ältere Kind nicht, so versuchen Kinder gewöhnlich, es den Erwachsenen nachzutun und sich auf diese Weise der Zuwendung seitens der Eltern zu versichern. Deswegen ist es auch von großer Bedeutung, Erstgeborene in die Betreuung und Pflege des später zur Welt gekommenen Kindes einzubeziehen, ohne ihnen jedoch das Gefühl zu vermitteln, die Mithilfe sei gefälligst ihre Pflicht, und wenn das Kind mal keine Lust hat, sei es nicht „brav“. Wozu das führen kann, zeigt eindrucksvoll die biblische Geschichte, um die es hier geht.
Häufig jedoch gelingt es nicht, dem Erstgeborenen vollständige emotionale Sicherheit zu vermitteln. Das ist aber in den meisten Fällen keineswegs „Schuld“ der Eltern oder gar der Mutter, sondern jedes Kind muss die Erfahrung machen, dass die Eltern nicht allein dazu auf der Welt sind, seine Wünsche zu befriedigen. Das liegt in der Natur des Kindseins wie des Elternseins. Außerdem braucht ein Säugling oder ein Kleinkind selbstverständlich intensivere pflegerische Betreuung als ein 5-Jähriger. Nur wenn die Zuwendung in der Tat ungleich verteilt ist, werden viele jüngere Geschwister „im Geiste“ ermordet und sind ein Leben lang Auslöser von Hass- und Eifersuchtsgefühlen.
Obwohl es also falsch wäre, immer gleich von der „Schuld“ der Eltern zu sprechen, trägt dennoch ein Elternteil die Hauptverantwortung für die erfolgreiche Heranbildung eines emotional warmen Verhältnisses des erstgeborenen Kindes zum Brüderchen oder Schwesterchen, und das ist die Mutter. Denn in in der Regel ist sie es, die über die meisten Möglichkeiten der Einflussnahme verfügt. Die Väter sind den größten Teil des Tages außer Haus und treten mit kletinen Kindern weit weniger intensiv in Kontakt als Mütter. In diesem Zusammenhang wird häufig das moderne Verständnis von Familienleben ins Feld geführt, denn mittlerweile nehmen viele Väter die Elternzeit in Anspruch oder arbeiten halbtags. Damit werde eine gleichmäßige Bindungsintensität zumindest angestrebt, wenn nicht gar gewährleistet. Das mag für moderne Industriestaaten westlicher Prägung zutreffen, auf alle Fälle aber nicht für die patriarchalische Gesellschaft der alten Hebräer. Kinderpsychologen streiten sich, ob unter derartigen Bedingungen der Vater bei der psychischen Entwicklung des Kindes ab dem zweiten oder ab dem dritten Lebensjahr beginnt, überhaupt eine wesentliche Rolle zu spielen. Meistens standen Kinder sogar bis zum 12. Lebensjahr unter der Obhut von Frauen. Mädchen galten ab diesem Alter als angehende Mütter und Knaben als angehende (nicht Väter, sondern) Krieger.
Das bedeutet aber, dass die Mutter in solchen gesellschaftlichen Strukturen, weil sie die bestimmende Bezugsperson darstellt, diejenige ist, die ein Kind am ehesten kränken kann – und bestimmt war das auch bei Kain und Abel so.
Um wessen Gunst also konkurriert Kain mit seinem Bruder Abel? Um den „Herrn“, den Vater? Das kann nicht sein, denn den altjüdischen Vätern war es herzlich egal, welche Bedürfnisse ihr Nachwuchs im Kindesalter hatte. Kinderaufzucht war Sache der Frauen. Der Knabe wurde erst interessant, wenn er zwölf Jahre alt war und in die Reihen der Männer aufgenommen wurde. In vielen Gesellschaften existieren entsprechende Initiationsriten, zum Beispiel Konfirmation, oder im arabischen und jüdischen Kulturkreis (Bar Mizwa) die Beschneidungsfeier. Was Mädchen anbelangte, so waren diese sowieso vernachlässigbar.
Also, wer hat Kain gekränkt, wessen Wohlwollen möchte er durch „Bravsein“ und Opferung all dessen, was er hat, erringen? Ohne Zweifel das der Mutter. Dieser obskure „Herr“, der durch sein kotzbrockentypisches Verhalten die ganze Katastrophe ins Rollen bringt, ist eine Kunstfigur. Er wurde der Geschichte übergestülpt, weil sich der Erzähler - und selbstverständlich auch seine Zuhörer - nicht mehr vorstellen konnten, dass der liebende, aber vor allem auch der strafende Gott ursprünglich eine Mutter war!
Falls jetzt der Einwand kommt, eine richtige Mutter tue sowas nicht und würde sich aufgrund weiblicher Intuition, Mutterliebe oder ähnlicher apologetischer Konstruktionen niemals so verhalten, wie der „Herr“, so sei auf die Lebenssituation von Millionen Kindern in aufgeklärten und hochzivilisierten Gesellschaften hingewiesen.
Nicht der „Herr“ und Vater erscheint dem kleinen Kind zunächst allmächtig und in der Lage, Zuwendung zu geben und vor allem, solche zu versagen, sondern die Mutter ist es, von der es anfänglich vollkommen abhängt.
Deswegen ist es auch ganz natürlich, wenn dieses omnipotente Wesen dem Kind zum Gott wird, mögen die Verfasser der Geschichte von Kain und Abel einen „Herrn“ darüberkünsteln oder nicht. Und aus dem gleichen Grund sind Muttergottheiten das Primäre, und erst auf dieser Basis kamen die Vatergötter auf.
Das also ist das Fazit dieser biblischen Erzählung: Sie stellt eine realistische und zeitübergreifende Beschreibung elterlichen Erziehungsverhaltens dar und schildert dessen Folgen. Nur der „Herr“ müsste eigentlich „Herrin“ heißen.
 



 
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