Die Hexenprüfung,
ab 8 Jahren
Zusammenkunft
In einem Land, weit hinter den sieben Meeren, lag der Berg Knatterbuckel. Hier hausten die Donnerhexen. Einmal im Jahr trafen sie sich auf dem großen Festplatz, weil die jüngsten Hexen ihr Hexentier und einen fliegenden Besen bekommen sollten. Aber zuerst mussten sie eine Prüfung bestehen. In diesem Jahr waren das die beiden jüngsten Hexen Bellarotz und Zapadeia. Als der dicke Nebel sich wie ein schützender Vorhang über den Berg gesenkt hatte, trat die Oberhexe Walburgis in die Mitte des Festplatzes. An ihrem schwarzen Hexenhut hatte sie weiße Federn, die sich bei jedem Schritt leicht bewegten und leise raschelten. Mit ihrer knochigen Hand hob sie den Hexenbesen. Sie stieß mit dem Stiel dreimal auf den Boden und rief: „Hexenmeisterin, komm her!“
Mit langen Schritten eilte die Hexenmeisterin herbei und die Oberhexe sagte: „Heute ist es soweit, ich werde Bellarotz und Zapadeia befragen. Hast du sie gut angeleitet? Können sie schimpfen, fauchen, brüllen? Etwas wegzaubern, was herzaubern? Haben sie einen neuen Zauberspruch erfunden?
„Ja, ja, ja“, grummelte die Hexenmeisterin. „Zapadeia ist vor allem eine sehr fleißige Kräuterhexe. Auch sie will ihre Prüfung bestehen.“
„Ach“, klagte die Oberhexe, „sie sieht nicht wie eine Hexe aus! Sie hat keine Warzennase, keinen krummen Finger, keinen schiefen Zahn und nicht einmal schwarze, sondern rote Haare! Ganz zu schweigen von ihrem blassen Gesicht, auf dem ein paar Sommersprossen sitzen.“
Die Hexenmeisterin erwiderte: „Wenn sie erst einmal ein Hexentier hat und auf dem Besen reiten kann, wird sie bald wie wir aussehen.“
Nun fragte die Oberhexe: „Und Bellarotz? Was ist sie für eine?“
„Sie wird dir nur Freude bereiten“, antwortete die Hexenmeisterin. „Obwohl sie noch keinen Zauberbesen und auch kein Hexentier hat, wirbelt sie stets durch die Gegend, und sie sieht dir ähnlich.“
Die Oberhexe klatschte in die Hände und rief: „Kommt alle her!“
Fünf Donnerhexen kamen singend auf den Festplatz. Ihre Kleider waren schwarz, und sie trugen ein Kopftuch, außer Zapadeia. Sie hatte einen runden Hut aufgesetzt und ein wiesengrünes Kleid angezogen.
Die Oberhexe hob die Hand und alle schwiegen. Sie räusperte sich und sagte: „Ich bin die Oberhexe Walburgis und eure Hexenmeisterin Kadira kennt ihr ja. Sie hat euch viel beigebracht. Heute legen Bellarotz und Zapadeia die Hexenprüfung ab.
Ich hoffe, sie haben fleißig gelernt, denn erst wenn sie die Prüfung bestanden haben, bekommen sie ihren fliegenden Hexenbesen und ein Tier, das sie begleitet. Nun stellt euch alle erst einmal vor.“
Die erste Hexe trat vor. Sie hielt einen Kater auf dem Arm und sagte: „Ich bin die Hexe Wirbelwind, mit meinen Kater reite ich über hundert Berge.“
„Na, na, übertreibe nicht, in unserem Land gibt es nur den Knatterbuckel und weit dahinter noch den Deifisberg der Feuerhexen“, sagte Walburgis.
Wirbelwind zog den Kopf ein und ging zu den anderen zurück. Bei der nächsten Hexe saß ein großer Vogel auf der Schulter. Sie rief:
„Ich heiße Hexe Flederwisch, mein Zaubertier ist die Eule. Wenn wir durch die Nacht reiten, heulen wir laut und jeder kann uns hören.“
Danach kam Hexe Änni, sie war die kleinste und trug ihr Hexentier, eine Maus, in ihrer Jackentasche. Sie verbeugte sich vor den beiden großen Hexen, murmelte ihren Namen und verzog sich wieder.
Jetzt trat Bellarotz vor die Oberhexe und grölte:
„Ich freue mich auf meinen fliegenden Besen und will einen Raben als Hexentier haben.“
Die Oberhexe Walburgis scheuchte sie mit der Hand zurück und fauchte: „Ich bestimme hier und bestimme auch dein Hexentier. Zapadeia, komm du jetzt zu mir.“
Als Zapadeia vor der Oberhexe stand, sagte sie nur: „ Oberhexe Walburgis, ich grüße dich.“
„Ja, ja“, sagte die Oberhexe. „Setzt euch jetzt auf den Platz, niemand quatscht mehr, die Prüfung beginnt. Bellarotz, tritt vor.“
Bellarotz sprang mit einem Schrei auf und stellt sich kreischend vor die Oberhexe.
Diese sprach: „Genug geschrien, jetzt sag mir deinen neuen Zauberspruch! Zaubere etwas her!“
Bellarotz breitete ihre Arme aus und drehte sich im Kreis. Laut rief sie:
Lirum, larum Wasserfall, komm herbei mein schneller Knall!“
Dabei schnippte sie mit den Fingern. Es donnerte laut und die Hexen hielten sich die Ohren zu.
„Wunderbar, sehr gut“, sagte die Oberhexe, „den Spruch nehmen wir in unser Buch auf! Der passt zu uns Donnerhexen. Und nun bist du an der Reihe, Zapadeia!“
Zapadeia erhobt sich, streckt die Arme in die Höhe und begann:
„Lirum, larum Leiermann, Musik fange zu klingen an!“
Als eine leise Flötenmelodie erklang, unterbrach die Oberhexe sofort:
„Nein, das passt nicht, das gefällt mir nicht. Setzt dich.“
Bellarotz, komm her. Jetzt musst du etwas verzaubern.“
Bellarotz schlug einen Purzelbaum und als sie vor der Oberhexe landete sagte sie: „Null Probleme!
Lirum, larum Hexenbein, die kleinste Hexe wird ein Stein.“
Änni, die kleinste Hexe, lag nun als grauer Stein auf den Boden. Aber Zapadeia sprang sofort auf. Sie hob anklagend die Hand und rief: „Bellarotz, wie kannst du nur so herzlos sein und deine Hexenschwester in einen Stein verwandeln? Hexen hexen Hexen nicht!“
Zapadeia berührte den Stein und rief:
„Lirum, larum kleiner Stein, Änni sollst du wieder sein.“
Änni umarmte Zapadeia. „Danke“, flüsterte sie und setze sich wieder zu den anderen.
Die Oberhexe klatschte in die Hände. „ Aufpassen! Mit Bellarotz bin ich sehr zufrieden, sie hat die Prüfung bestanden. Bellarotz, du bekommst einen schwarzen Raben als Zaubertier und einen Hexenbesen.“
Die Oberhexe breitet die Arme aus, legte den Kopf in den Nacken und mit geschlossenen Augen rief sie:
„Hokus, Pokus Pfiffikus, Hexenbesen, Schlangenfluss,
simselabim und simselabei, schwarzer Rabe flieg herbei“
Ein Donner rollte über den Berg und schon flatterte der schwarze Rabe herbei. Bellarotz jubelte und der Rabe setzte sich auf ihre Schulter. Dann bekam sie den neuen Besen, schwang ihn ein paar Mal in die Luft und setzte sich zu den anderen Hexen.
Die Oberhexe sagte: „ Zapadeia, du hast die Prüfung nur zur Hälfte geschafft. Doch wenn du einen guten Zauberspruch kennst, bekommst du den fliegenden Hexenbesen. Du bist nun groß! Ab heute wirst du deine Haare unter einem Kopftuch verstecken und keine runden Hüte mehr tragen. Ab heute wird dich eine Krähe begleiten, wenn du deine Kräuter einsammelst!“
Zapadeia sprang auf: „Nein“, rief sie, „ich will keinen Vogel, ein Hund soll mich begleiten!“
Die Oberhexe spreizte ihre knöchrigen Finger auseinander und stieß den Arm nach vorn.
„Auf keinen Fall! Ein Hund passt nicht zu uns! Er wird unsere Katzen jagen und auch die Raben nicht in Ruhe lassen. Außerdem bellt er und damit könnte er unseren Hexenberg verraten. Die Krähe gehört nun zu dir!“
Zapadeia schüttelte den Kopf: „Ich will einen Hund!“
Die Oberhexe rief: „Nein und nochmals nein. Jetzt zeige mir deinen Kräutersack.“
Zapadeia packt den Kräutersack aus, die Oberhexe Walburgis staunte über die vielen verschiedenen Kräuter, die Zapadeia ordentlich gebündelt aufbewahrte.
„Weil du so fleißig bist, darfst du wählen: Katze oder Krähe!“
Aber Zapadeia blieb dabei, sie wollte einen Hund. Die Oberhexe gab Zapadeia eine Stunde Zeit. Sie befahl ihr, einen Spaziergang zu machen, über die Tiere nach zu denken und sich danach für eines zu entscheiden: Katze oder Krähe.
Zapadeia verließ den Festplatz. Walburgis schüttelte den Kopf und die Federn an ihrem Hut rauschten. „Wenn sie bei ihrem Wunsch bleibt, verkaufen wir sie für eine Zauberwurzel an die Feuerhexen.“
*
Zapadeia wusste sehr wohl, dass ihr Besen erst fliegen konnte, wenn sie ein Tier und einen neuen Zauberspruch hatte. Nein, eine Katze wollte sie nicht, die würde vielleicht die Maus von Änni fressen. Eine Krähe? Nein, fast alle in ihrer Gruppe hatten einen Vogel. Sie marschierte los, benutzte den Besen als Wanderstab und dachte an die Tiere. Immer weiter entfernte sie sich vom Versammlungsplatz. Als sie nach einer Weile zurück schaute, sah sie die Hexen nicht mehr. Hatte sie sich verirrt?
Plötzlich hörte sie ein leises Zischen und Hexe Änni landete neben ihr.
Ihre grünen Haare schimmerten wie Seide im hellen Mondlicht.
„Steig auf“, flüsterte Änni. „ Aber rasch, einen Hund bekommst du weit hinter dem Knatterbuckel, im Land von König Rian.“
Zapadeia schwang sich hinter Änni auf den Besen und die Reise begann.
Der Besen war stark, er zischte los. Als sie den Berg hinunter geflogen waren, landete Änni vor einem Wald. Sie umarmte Zapadeia und sagte: „Von hier aus geht es gerade aus weiter. Ich muss zurück, bevor die Oberhexe Walburgis mich vermisst!“
Am liebsten wäre Zapadeia mit Änni zurück geflogen, aber sie dachte an den Hund, den sie bei den Donnerhexen nicht bekam und marschierte weiter.
Inzwischen saßen die Hexen wieder an ihrem Platz und warteten auf Zapadeia. Als sie nach einer Stunde noch nicht zurück war, rief
Walburgis: „ Sie ist getürmt, hat uns verlassen. Wir suchen sie in allen Richtungen!“
Die Oberhexe streckte ihre Arme aus, spreizte wieder ihre Finger und rief:
„Hexenwesen, auf die Besen, holt sie ein, das muss sein!“
Die Hexen setzten sich auf ihre Besen und sausten los.
*
Zapadeia blickte auf ihren Weg und hastete weiter. Plötzlich hörte sie einen Besen zischen und schon sauste Hexe Flederwisch auf sie zu. Zapadeia hatte gerade noch Zeit, sich hinter einem dichten Busch zu verstecken.
Mucksmäuschen still kauerte sie auf dem Boden und wagte kaum zu atmen.
Gerade, als die Hexe Flederwisch hinter Zapadeias Versteck schauen wollte, raschelte es im Gebüsch, ein Wildschwein kam heraus und überquerte den Weg. Die Hexe Flederwisch blinzelte erstaunt und murmelte: „Das ist ja wie verhext, ich dachte, jetzt fange ich Zapadeia, und nun ist da nur ein Wildschwein!“
Das Wildschwein verschwand laut grunzend auf der anderen Seite im Wald. Die Hexe schüttelte den Kopf und rief leise: „Lebe wohl Zapadeia, ich hätte nie gedacht, dass du dich in ein Wildschwein verzauberst!“
Hexe Flederwisch setzte sich auf ihren Besen und flog auf den Katterbuckel zurück. Sie berichtete den Hexen, dass Zapadeia nun als Wildschwein im Wald umher lief. „Nun“, sagte die Oberhexe, lange wird sie es als Wildschwein nicht im Wald aushalten, wenn wir sie nicht erwischen, fängt sie der Jäger im Herbst.“
Hätte sich die Hexe Flederwisch besser umgesehen, wäre ihr bestimmt der Besen aufgefallen, der ein klein wenig hinter dem Busch hervor schaute. Zapadeia wartete kurz, bis sie Flederwischs Besen nicht mehr hörte, dann lachte sie auf. „Danke, liebes Wildschwein, du hast mich gerettet“, flüsterte sie in den Wald und wanderte weiter.
*
Im Land von König Rian
Am frühen Morgen gelangte Zapadeia zu einem kleinen Schloss. Sie seufzte leise. Was mochte König Rian wohl für ein Mensch sein? Zögernd klopfte sie an die Schlosstür.
König Rian saß auf dem königlichen Bett und putzte seine Krone. Er murmelte: „Alles muss ich selber machen. Ich bekomme einfach keine Diener. Dafür muss ich mich über keinen ärgern und kann machen, was ich will. Ich bin zufrieden, ja, sehr zufrieden. Aber allein, sehr allein.“
Als er das Klopfen hörte, sprang er vom Bett, riss das Fenster auf und schrie: „Warte einen Moment, ich komme sofort!“ Er setzte seine Krone auf, hängte sich den Bademantel um und schlüpfte in seine Pantoffeln. Der König eilte zum Schlosstor und öffnete es.
Zapadeia verbeugte sich und betrachtete zunächst die königlichen Hauschuhe. Sie waren aus glänzend rotem Stoff und auf der Schuhspitze sah sie eine kleine Krone.
Zapadeia fuhr erschrocken hoch, als der König sagte: „Du bist gekommen, um mir zu dienen. Ich bin König Rian und wohne in diesem großen Land.“
„Ich bin Zapadeia und suche ein Haus für mich. In deinem Land will ich Kräuter sammeln, und wenn du Schmerzen hast, koche ich dir einen Tee!“
Der König antwortete: „Das ist sehr nett von dir, aber sag mir erst einmal, woher du kommst!“
„Ich komme vom Knatterbuckel, vom Berg der Donnerhexen“, sagte Zapadeia und schrie erschrocken auf. König Rian hatte das Tor vor ihrer Nase zugeschmettert. Er lehnte sich mit dem Rücken dagegen.
„Eine Hexe am Morgen bringt Kummer und Sorgen“, murmelte er.
Zapadeia klopfte noch einmal an das Tor und rief: „Bitte, König Rian, mach auf. Ich brauche deine Hilfe!“ Der König schaute durchs Schlüsselloch. Zapadeia saß auf dem Boden, sie hatte ihre Arme um die Beine geschlungen und weinte leise. Der König fand, dass sie nicht gefährlich aussah und öffnete das Tor wieder.
„Nun verrate mir mal, wie du hergekommen bist“, sagte er.
„Ich bin die ganze Nacht gewandert.“
„Nicht auf dem Besen geritten?“
„Nein, ich besitze keinen fliegenden Besen, denn ich habe die Prüfung nicht bestanden.“
„Kannst du auch Kaffee kochen?“
Zapadeia wischte sich die Tränen aus dem Gesicht: „Ja, das kann ich!“ Dann lachte sie schallend.
Nun schmetterte König Rian die Tür zum zweiten Mal zu. „Was gibt es da zu lachen“, rief er.
Zapadeia legte den Kopf an die Schlosstür: „König Rian, ich freue mich sehr, denn ich bin keine Hexe mehr. Ich habe eben geweint und gelacht. Hexen weinen nicht und lachen nie.“
Der König öffnete die Türe weit, Zapadeia huschte ins Schloss und König Rian führte sie direkt in die Schlossküche. Sogleich machte sich Zapadeia an die Arbeit und nach kurzer Zeit saßen sie am Tisch und tranken Kaffee.
Dabei erzählte sie dem König von der Prüfung, von ihrer Flucht und von dem Hund, den sie sich wünschte.
Später führte König Rian Zapadeia in den Garten und deutete mit der Hand auf ein Gartenhaus.
Der König gab Zapadeia einen Schlüssel. „Der ist für das kleine Haus, hier kannst du wohnen. Und gegen einen Hund habe ich auch nichts.
Wirst du ab und zu mit mir frühstücken?“
„Sehr gerne, König Rian. Doch wo bekomme ich einen Hund?“
König Rian zeigte auf die große Wiese vor dem Schloss und sagte:
„Im Sommer zieht hier ein Schäfer mit seiner Herde vorbei und der hat auch Hunde. Den kannst du fragen.“
Zapadeia hängte sich bei König Rian ein und gemeinsam schlenderten sie durch den Garten zu dem kleinen Holzhaus. Der König verabschiedete sich und während er ins Schloss zurückkehrte, betrat Zapadeia ihr neues Zuhause. Sie entdeckte an der einen Seite ein Bett. Laut gähnend legte sie sich darauf, drehte sich zur Seite und schlief sofort ein.
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M. Rieger
ab 8 Jahren
Zusammenkunft
In einem Land, weit hinter den sieben Meeren, lag der Berg Knatterbuckel. Hier hausten die Donnerhexen. Einmal im Jahr trafen sie sich auf dem großen Festplatz, weil die jüngsten Hexen ihr Hexentier und einen fliegenden Besen bekommen sollten. Aber zuerst mussten sie eine Prüfung bestehen. In diesem Jahr waren das die beiden jüngsten Hexen Bellarotz und Zapadeia. Als der dicke Nebel sich wie ein schützender Vorhang über den Berg gesenkt hatte, trat die Oberhexe Walburgis in die Mitte des Festplatzes. An ihrem schwarzen Hexenhut hatte sie weiße Federn, die sich bei jedem Schritt leicht bewegten und leise raschelten. Mit ihrer knochigen Hand hob sie den Hexenbesen. Sie stieß mit dem Stiel dreimal auf den Boden und rief: „Hexenmeisterin, komm her!“
Mit langen Schritten eilte die Hexenmeisterin herbei und die Oberhexe sagte: „Heute ist es soweit, ich werde Bellarotz und Zapadeia befragen. Hast du sie gut angeleitet? Können sie schimpfen, fauchen, brüllen? Etwas wegzaubern, was herzaubern? Haben sie einen neuen Zauberspruch erfunden?
„Ja, ja, ja“, grummelte die Hexenmeisterin. „Zapadeia ist vor allem eine sehr fleißige Kräuterhexe. Auch sie will ihre Prüfung bestehen.“
„Ach“, klagte die Oberhexe, „sie sieht nicht wie eine Hexe aus! Sie hat keine Warzennase, keinen krummen Finger, keinen schiefen Zahn und nicht einmal schwarze, sondern rote Haare! Ganz zu schweigen von ihrem blassen Gesicht, auf dem ein paar Sommersprossen sitzen.“
Die Hexenmeisterin erwiderte: „Wenn sie erst einmal ein Hexentier hat und auf dem Besen reiten kann, wird sie bald wie wir aussehen.“
Nun fragte die Oberhexe: „Und Bellarotz? Was ist sie für eine?“
„Sie wird dir nur Freude bereiten“, antwortete die Hexenmeisterin. „Obwohl sie noch keinen Zauberbesen und auch kein Hexentier hat, wirbelt sie stets durch die Gegend, und sie sieht dir ähnlich.“
Die Oberhexe klatschte in die Hände und rief: „Kommt alle her!“
Fünf Donnerhexen kamen singend auf den Festplatz. Ihre Kleider waren schwarz, und sie trugen ein Kopftuch, außer Zapadeia. Sie hatte einen runden Hut aufgesetzt und ein wiesengrünes Kleid angezogen.
Die Oberhexe hob die Hand und alle schwiegen. Sie räusperte sich und sagte: „Ich bin die Oberhexe Walburgis und eure Hexenmeisterin Kadira kennt ihr ja. Sie hat euch viel beigebracht. Heute legen Bellarotz und Zapadeia die Hexenprüfung ab.
Ich hoffe, sie haben fleißig gelernt, denn erst wenn sie die Prüfung bestanden haben, bekommen sie ihren fliegenden Hexenbesen und ein Tier, das sie begleitet. Nun stellt euch alle erst einmal vor.“
Die erste Hexe trat vor. Sie hielt einen Kater auf dem Arm und sagte: „Ich bin die Hexe Wirbelwind, mit meinen Kater reite ich über hundert Berge.“
„Na, na, übertreibe nicht, in unserem Land gibt es nur den Knatterbuckel und weit dahinter noch den Deifisberg der Feuerhexen“, sagte Walburgis.
Wirbelwind zog den Kopf ein und ging zu den anderen zurück. Bei der nächsten Hexe saß ein großer Vogel auf der Schulter. Sie rief:
„Ich heiße Hexe Flederwisch, mein Zaubertier ist die Eule. Wenn wir durch die Nacht reiten, heulen wir laut und jeder kann uns hören.“
Danach kam Hexe Änni, sie war die kleinste und trug ihr Hexentier, eine Maus, in ihrer Jackentasche. Sie verbeugte sich vor den beiden großen Hexen, murmelte ihren Namen und verzog sich wieder.
Jetzt trat Bellarotz vor die Oberhexe und grölte:
„Ich freue mich auf meinen fliegenden Besen und will einen Raben als Hexentier haben.“
Die Oberhexe Walburgis scheuchte sie mit der Hand zurück und fauchte: „Ich bestimme hier und bestimme auch dein Hexentier. Zapadeia, komm du jetzt zu mir.“
Als Zapadeia vor der Oberhexe stand, sagte sie nur: „ Oberhexe Walburgis, ich grüße dich.“
„Ja, ja“, sagte die Oberhexe. „Setzt euch jetzt auf den Platz, niemand quatscht mehr, die Prüfung beginnt. Bellarotz, tritt vor.“
Bellarotz sprang mit einem Schrei auf und stellt sich kreischend vor die Oberhexe.
Diese sprach: „Genug geschrien, jetzt sag mir deinen neuen Zauberspruch! Zaubere etwas her!“
Bellarotz breitete ihre Arme aus und drehte sich im Kreis. Laut rief sie:
Lirum, larum Wasserfall, komm herbei mein schneller Knall!“
Dabei schnippte sie mit den Fingern. Es donnerte laut und die Hexen hielten sich die Ohren zu.
„Wunderbar, sehr gut“, sagte die Oberhexe, „den Spruch nehmen wir in unser Buch auf! Der passt zu uns Donnerhexen. Und nun bist du an der Reihe, Zapadeia!“
Zapadeia erhobt sich, streckt die Arme in die Höhe und begann:
„Lirum, larum Leiermann, Musik fange zu klingen an!“
Als eine leise Flötenmelodie erklang, unterbrach die Oberhexe sofort:
„Nein, das passt nicht, das gefällt mir nicht. Setzt dich.“
Bellarotz, komm her. Jetzt musst du etwas verzaubern.“
Bellarotz schlug einen Purzelbaum und als sie vor der Oberhexe landete sagte sie: „Null Probleme!
Lirum, larum Hexenbein, die kleinste Hexe wird ein Stein.“
Änni, die kleinste Hexe, lag nun als grauer Stein auf den Boden. Aber Zapadeia sprang sofort auf. Sie hob anklagend die Hand und rief: „Bellarotz, wie kannst du nur so herzlos sein und deine Hexenschwester in einen Stein verwandeln? Hexen hexen Hexen nicht!“
Zapadeia berührte den Stein und rief:
„Lirum, larum kleiner Stein, Änni sollst du wieder sein.“
Änni umarmte Zapadeia. „Danke“, flüsterte sie und setze sich wieder zu den anderen.
Die Oberhexe klatschte in die Hände. „ Aufpassen! Mit Bellarotz bin ich sehr zufrieden, sie hat die Prüfung bestanden. Bellarotz, du bekommst einen schwarzen Raben als Zaubertier und einen Hexenbesen.“
Die Oberhexe breitet die Arme aus, legte den Kopf in den Nacken und mit geschlossenen Augen rief sie:
„Hokus, Pokus Pfiffikus, Hexenbesen, Schlangenfluss,
simselabim und simselabei, schwarzer Rabe flieg herbei“
Ein Donner rollte über den Berg und schon flatterte der schwarze Rabe herbei. Bellarotz jubelte und der Rabe setzte sich auf ihre Schulter. Dann bekam sie den neuen Besen, schwang ihn ein paar Mal in die Luft und setzte sich zu den anderen Hexen.
Die Oberhexe sagte: „ Zapadeia, du hast die Prüfung nur zur Hälfte geschafft. Doch wenn du einen guten Zauberspruch kennst, bekommst du den fliegenden Hexenbesen. Du bist nun groß! Ab heute wirst du deine Haare unter einem Kopftuch verstecken und keine runden Hüte mehr tragen. Ab heute wird dich eine Krähe begleiten, wenn du deine Kräuter einsammelst!“
Zapadeia sprang auf: „Nein“, rief sie, „ich will keinen Vogel, ein Hund soll mich begleiten!“
Die Oberhexe spreizte ihre knöchrigen Finger auseinander und stieß den Arm nach vorn.
„Auf keinen Fall! Ein Hund passt nicht zu uns! Er wird unsere Katzen jagen und auch die Raben nicht in Ruhe lassen. Außerdem bellt er und damit könnte er unseren Hexenberg verraten. Die Krähe gehört nun zu dir!“
Zapadeia schüttelte den Kopf: „Ich will einen Hund!“
Die Oberhexe rief: „Nein und nochmals nein. Jetzt zeige mir deinen Kräutersack.“
Zapadeia packt den Kräutersack aus, die Oberhexe Walburgis staunte über die vielen verschiedenen Kräuter, die Zapadeia ordentlich gebündelt aufbewahrte.
„Weil du so fleißig bist, darfst du wählen: Katze oder Krähe!“
Aber Zapadeia blieb dabei, sie wollte einen Hund. Die Oberhexe gab Zapadeia eine Stunde Zeit. Sie befahl ihr, einen Spaziergang zu machen, über die Tiere nach zu denken und sich danach für eines zu entscheiden: Katze oder Krähe.
Zapadeia verließ den Festplatz. Walburgis schüttelte den Kopf und die Federn an ihrem Hut rauschten. „Wenn sie bei ihrem Wunsch bleibt, verkaufen wir sie für eine Zauberwurzel an die Feuerhexen.“
*
Zapadeia wusste sehr wohl, dass ihr Besen erst fliegen konnte, wenn sie ein Tier und einen neuen Zauberspruch hatte. Nein, eine Katze wollte sie nicht, die würde vielleicht die Maus von Änni fressen. Eine Krähe? Nein, fast alle in ihrer Gruppe hatten einen Vogel. Sie marschierte los, benutzte den Besen als Wanderstab und dachte an die Tiere. Immer weiter entfernte sie sich vom Versammlungsplatz. Als sie nach einer Weile zurück schaute, sah sie die Hexen nicht mehr. Hatte sie sich verirrt?
Plötzlich hörte sie ein leises Zischen und Hexe Änni landete neben ihr.
Ihre grünen Haare schimmerten wie Seide im hellen Mondlicht.
„Steig auf“, flüsterte Änni. „ Aber rasch, einen Hund bekommst du weit hinter dem Knatterbuckel, im Land von König Rian.“
Zapadeia schwang sich hinter Änni auf den Besen und die Reise begann.
Der Besen war stark, er zischte los. Als sie den Berg hinunter geflogen waren, landete Änni vor einem Wald. Sie umarmte Zapadeia und sagte: „Von hier aus geht es gerade aus weiter. Ich muss zurück, bevor die Oberhexe Walburgis mich vermisst!“
Am liebsten wäre Zapadeia mit Änni zurück geflogen, aber sie dachte an den Hund, den sie bei den Donnerhexen nicht bekam und marschierte weiter.
Inzwischen saßen die Hexen wieder an ihrem Platz und warteten auf Zapadeia. Als sie nach einer Stunde noch nicht zurück war, rief
Walburgis: „ Sie ist getürmt, hat uns verlassen. Wir suchen sie in allen Richtungen!“
Die Oberhexe streckte ihre Arme aus, spreizte wieder ihre Finger und rief:
„Hexenwesen, auf die Besen, holt sie ein, das muss sein!“
Die Hexen setzten sich auf ihre Besen und sausten los.
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Zapadeia blickte auf ihren Weg und hastete weiter. Plötzlich hörte sie einen Besen zischen und schon sauste Hexe Flederwisch auf sie zu. Zapadeia hatte gerade noch Zeit, sich hinter einem dichten Busch zu verstecken.
Mucksmäuschen still kauerte sie auf dem Boden und wagte kaum zu atmen.
Gerade, als die Hexe Flederwisch hinter Zapadeias Versteck schauen wollte, raschelte es im Gebüsch, ein Wildschwein kam heraus und überquerte den Weg. Die Hexe Flederwisch blinzelte erstaunt und murmelte: „Das ist ja wie verhext, ich dachte, jetzt fange ich Zapadeia, und nun ist da nur ein Wildschwein!“
Das Wildschwein verschwand laut grunzend auf der anderen Seite im Wald. Die Hexe schüttelte den Kopf und rief leise: „Lebe wohl Zapadeia, ich hätte nie gedacht, dass du dich in ein Wildschwein verzauberst!“
Hexe Flederwisch setzte sich auf ihren Besen und flog auf den Katterbuckel zurück. Sie berichtete den Hexen, dass Zapadeia nun als Wildschwein im Wald umher lief. „Nun“, sagte die Oberhexe, lange wird sie es als Wildschwein nicht im Wald aushalten, wenn wir sie nicht erwischen, fängt sie der Jäger im Herbst.“
Hätte sich die Hexe Flederwisch besser umgesehen, wäre ihr bestimmt der Besen aufgefallen, der ein klein wenig hinter dem Busch hervor schaute. Zapadeia wartete kurz, bis sie Flederwischs Besen nicht mehr hörte, dann lachte sie auf. „Danke, liebes Wildschwein, du hast mich gerettet“, flüsterte sie in den Wald und wanderte weiter.
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Im Land von König Rian
Am frühen Morgen gelangte Zapadeia zu einem kleinen Schloss. Sie seufzte leise. Was mochte König Rian wohl für ein Mensch sein? Zögernd klopfte sie an die Schlosstür.
König Rian saß auf dem königlichen Bett und putzte seine Krone. Er murmelte: „Alles muss ich selber machen. Ich bekomme einfach keine Diener. Dafür muss ich mich über keinen ärgern und kann machen, was ich will. Ich bin zufrieden, ja, sehr zufrieden. Aber allein, sehr allein.“
Als er das Klopfen hörte, sprang er vom Bett, riss das Fenster auf und schrie: „Warte einen Moment, ich komme sofort!“ Er setzte seine Krone auf, hängte sich den Bademantel um und schlüpfte in seine Pantoffeln. Der König eilte zum Schlosstor und öffnete es.
Zapadeia verbeugte sich und betrachtete zunächst die königlichen Hauschuhe. Sie waren aus glänzend rotem Stoff und auf der Schuhspitze sah sie eine kleine Krone.
Zapadeia fuhr erschrocken hoch, als der König sagte: „Du bist gekommen, um mir zu dienen. Ich bin König Rian und wohne in diesem großen Land.“
„Ich bin Zapadeia und suche ein Haus für mich. In deinem Land will ich Kräuter sammeln, und wenn du Schmerzen hast, koche ich dir einen Tee!“
Der König antwortete: „Das ist sehr nett von dir, aber sag mir erst einmal, woher du kommst!“
„Ich komme vom Knatterbuckel, vom Berg der Donnerhexen“, sagte Zapadeia und schrie erschrocken auf. König Rian hatte das Tor vor ihrer Nase zugeschmettert. Er lehnte sich mit dem Rücken dagegen.
„Eine Hexe am Morgen bringt Kummer und Sorgen“, murmelte er.
Zapadeia klopfte noch einmal an das Tor und rief: „Bitte, König Rian, mach auf. Ich brauche deine Hilfe!“ Der König schaute durchs Schlüsselloch. Zapadeia saß auf dem Boden, sie hatte ihre Arme um die Beine geschlungen und weinte leise. Der König fand, dass sie nicht gefährlich aussah und öffnete das Tor wieder.
„Nun verrate mir mal, wie du hergekommen bist“, sagte er.
„Ich bin die ganze Nacht gewandert.“
„Nicht auf dem Besen geritten?“
„Nein, ich besitze keinen fliegenden Besen, denn ich habe die Prüfung nicht bestanden.“
„Kannst du auch Kaffee kochen?“
Zapadeia wischte sich die Tränen aus dem Gesicht: „Ja, das kann ich!“ Dann lachte sie schallend.
Nun schmetterte König Rian die Tür zum zweiten Mal zu. „Was gibt es da zu lachen“, rief er.
Zapadeia legte den Kopf an die Schlosstür: „König Rian, ich freue mich sehr, denn ich bin keine Hexe mehr. Ich habe eben geweint und gelacht. Hexen weinen nicht und lachen nie.“
Der König öffnete die Türe weit, Zapadeia huschte ins Schloss und König Rian führte sie direkt in die Schlossküche. Sogleich machte sich Zapadeia an die Arbeit und nach kurzer Zeit saßen sie am Tisch und tranken Kaffee.
Dabei erzählte sie dem König von der Prüfung, von ihrer Flucht und von dem Hund, den sie sich wünschte.
Später führte König Rian Zapadeia in den Garten und deutete mit der Hand auf ein Gartenhaus.
Der König gab Zapadeia einen Schlüssel. „Der ist für das kleine Haus, hier kannst du wohnen. Und gegen einen Hund habe ich auch nichts.
Wirst du ab und zu mit mir frühstücken?“
„Sehr gerne, König Rian. Doch wo bekomme ich einen Hund?“
König Rian zeigte auf die große Wiese vor dem Schloss und sagte:
„Im Sommer zieht hier ein Schäfer mit seiner Herde vorbei und der hat auch Hunde. Den kannst du fragen.“
Zapadeia hängte sich bei König Rian ein und gemeinsam schlenderten sie durch den Garten zu dem kleinen Holzhaus. Der König verabschiedete sich und während er ins Schloss zurückkehrte, betrat Zapadeia ihr neues Zuhause. Sie entdeckte an der einen Seite ein Bett. Laut gähnend legte sie sich darauf, drehte sich zur Seite und schlief sofort ein.
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M. Rieger