Die Mäuseprinzessin

Kilian

Mitglied
Hallo,

ich bin neu in der Runde der Leselupe Mitglieder und möchte das erste Kapitel eines Märchens vorstellen, an dem ich arbeite. Besten Dank an jeden, der sich die Zeit nimmt, den Text zu lesen und mich seine ehrliche Meinung dazu wissen lässt.



Die Mäuseprinzessin
Ein Märchenroman


1.

Hoch oben im Turm, der höher war als die anderen sechs Türme des Schlosses, lebte Helonit. Es war kein Turm mit Zinnen, sondern er glich eher einem Minarett und das war auffällig, denn alle Türme des Schlosses von Vargas hatten Zinnen. Nur dieser eine nicht. Er stach mit seinem orientalischen Aussehen aus der Märchenschlosskulisse des gesamten Traktes hervor und schien jedem, der sich ihm näherte, schon von Weitem zu künden, dass dort, in diesem Turm, ein Großmeister seines Faches am Werke war.

Der Turm war ein Teil der Schlossmauer nach Osten hin, dem Sonnenaufgang zu, und bildete eine Grenze hin zur Ebene, die sich rund um Vargas erstreckte. Wahrscheinlich hatten die Erbauer diesen Ort gewählt, weil sie diese Ebene für die Mitte der Welt hielten, die ringsum nur aus Bergen, Wäldern und Tälern zu bestehen schien. Es war eine graswogende Ebene, auf die die Schlossbewohner ihre Tiere zum Weiden hinaustrieben.
Das Schloss war weniger ein einzelnes Bauwerk, als vielmehr eine kleine Stadt, in der jedoch jedes Gebäude mit dem anderen mehr oder weniger verbunden war.

Wollte man den Minarettturm erklimmen, so musste man eine schier endlos Zahl an unterschiedlich großen Stufen, hinaufsteigen, die sich spindelartig nach oben wanden. Der gesamte Turm barg nur einen Raum, ganz oben in der Spitze. Sonst bestand er nur aus Stufen und der schneeweißen Marmormauer, die ihm die Form gab.

Hier also lebte und arbeitete Helonit, der Sterndeuter von Vargas, dem Herzen des Märchenreiches. Hier wurden die Geschicke der Märchen gelenkt.
Wie schon Generationen von Sterndeutern vor ihm, hatte sich auch Helonit dem geheimen Wissen zwischen Himmel und Erde verschrieben. Seine Seele hing an den Sternen und sein Leben war ein Werk, das er bald zu vollenden hoffte. Den so heiß herbeigesehnten Augenblick der Vollendung aber, den konnte der Sterndeuter trotz all seines Wissens nicht aus den Konstellationen der Himmelskörper vorhersagen und so wartete er seit Jahren auf ein Zeichen.

Helonit war alt, er war viel älter als der König von Vargas und dieser wiederum war seit Jahren schon ein Greis. Der Sterndeuter war bereits reich an Jahren gewesen, als der König noch ein Knabe war und das lag daran, dass das Geschlecht der Sterndeuter sehr, sehr langlebig war. Helonit zählte 271 Jahre! Das war ein gutes Alter für einen Sterndeuter. Kaum einer wurde älter als 290. Er hatte immer in diesem Turm gelebt und so kann man erahnen, dass es sich bei dem Schloss von Vargas um ein altes und ehrwürdiges Bauwerk handelte, denn vor Helonit hatten dort schon eine Reihe anderer Sterndeuter Jahrhunderte verbracht.

Nur wenige Geschöpfe waren so alt, dass sie sich an den Bau des Schlosses erinnern konnten. Eines dieser Geschöpfe war die weiße Eule. Gegen sie war selbst Helonit jugendlich. Erst ein einziges Mal hatte er sie gesehen und das war lange her, wohl an die 120 Jahre, als der König gerade geboren wurde.
Damals war sie zu ihm gekommen, doch so sehr sich der Sterndeuter auch mühte, er konnte sich nicht erinnern, was die weiße Eule ihm an jenem Tag gesagt hatte. Er hatte den Besuch der Eule einige Jahrzehnte lang vergessen, doch je mehr sich in ihm das Gefühl regte, der Zeitpunkt für die Vollendung seines Lebenswerkes sei nah, um so mehr spürte er auch, dass genau dafür die Eule wichtige Hinweise und Anweisungen gegeben hatte.

Helonit schämte sich ein wenig, dass er von seiner Erinnerung im Stich gelassen wurde. Nach Art der Sterndeuter hatte er die Himmelskörper befragt, um vielleicht von ihnen die lang vergessenen Worte der Eule erneut zu erfahren. Aber die Sterne hatten geschwiegen und die Eule war nie wiedergekehrt.
Helonit war verzweifelt. Es war eine ruhige, aber unheilvolle Verzweiflung, in der sich eine ganze Palette düsterer Gefühle breit machte. Im Moment machte sich außerdem auch noch Müdigkeit in ihm breit.

Er hatte, wie schon all die Jahre davor die ganze Nacht damit verbracht, den Himmel zu betrachten und die unterschiedlichsten Zeichen am glitzernden Firmament zu suchen. Doch er hatte nichts von Bedeutung entdeckt. Jetzt fühlte sich alt und er wünschte, ein neuer Sterndeuter würde bald an seine Stelle treten. Er wollte nicht mehr weitermachen, doch er musste sein Lebenswerk vollbringen. Das verlangte das Gesetz von Vargas.
Zu gerne hätte Helonit gewusst, ob sein Werk mit dem Wechsel ins neue Zeitalter fertig sei, doch auch dafür hatte ihm der Himmel keinen Hinweis geschenkt. Aber das neue Zeitalter stand bevor, das wenigstens wusste er! Das hatten die Sterne ihm gesagt!
„Die Zeit wird sich wandeln“, murmelte er leise vor sich hin. Ganz still dachte er noch, dass das auch gut sei, denn ehrlich gesagt war es ruhig geworden um Vargas und seine Bewohner.

Helonits Kammer war unordentlich, ganz so, wie es sich für die Kammer eines vielbeschäftigten Sterndeuters gehörte, dessen Sinn für Ordnung nicht auf das Irdische gerichtet war. Sein Turmzimmer war angefüllt mit unterschiedlichstem Gerät, das er für seine Arbeit brauchte. Vieles davon war längst veraltet, seine Vorgänger hatten es schon benutzt, doch Helonit war ein wenig sentimental, wenn es darum ging, sich von alter Gerätschaft zu trennen.

Das, was einem beim Betreten von Helonits Kammer sofort in die Augen stach, war sein „Stück“ - die Sichtbarmachung seines Lebenswerkes und eigentlich handelte es sich nicht um ein einzelnes Stück, sondern um eine geheimnisvolle An- und Ineinanderfügung unterschiedlicher Stücke. Es war also nicht Irgendetwas! Es war das Symbol seines Lebens - nicht so groß, dass es das ganze Turmzimmer ausfüllte, aber doch von beachtlichen Ausmaßen.
Das Gerüst von Helonits Stück bildete eine Art Tischaufbau bei der die Tischplatte nicht ebenmäßig war. Sie war gebirgig wie die Berge im Westen von Vargas. Bekleidet hatte der Sterndeuter diese Tischkonstruktion mit einem nachtblauen Samt, so schön und so tief in der Farbe, dass selbst die edelsten Prinzessinnen des Märchenreiches keinen Stoff besaßen, der diesem hier gleichkam. Dieses Nachtblau schmückten unterschiedlichste Zeichen und Symbole, die Helonit im Laufe seines langen Sterndeuterlebens am Firmament erkannt und für wichtig befunden hatte. Er hatte diese Symbole aus Gold und Silber, Kupfer und Eisen von den Schlossschmieden hämmern lassen, ein jedes genau nach seiner Anweisung. Zwischen all diesen Symbolen lagen Kristalle unterschiedlichster Farbe und Formats. Da gab es Bergkristalle in verschiedenen Größen, als Kugeln und Brocken. Amethyste, die aussahen wie kleine, stachelige Höhlen, Jaspisse und Pyrithe, Jade, Tigeraugen und und und. Dazwischen immer wieder die schönsten Steine, die die Erde nach Helonits Dafürhalten hervorgebracht hatte: tiefblaue Lapislazuli mit schimmernden Milchstrassen durchzogen.

Die Sterndeuter hatten seit jeher einen Vertrag mit den Zwergen, die tief unter den Bergen die Erze und Gesteine bargen. So brachten sie auch Helonit jedes Jahr am Sommersonnwendtag den schönsten Stein, den sie gefunden hatten, wie es Tradition bei den Märchenleuten von Vargas war. Als Gegenleistung erhielten die Zwerge den Segen des Sterndeuters und sie waren zufrieden damit.

Jahr für Jahr hatte Helonit sich gefragt, ob mit der Lieferung des nächsten Steines sein Stück und damit auch sein Lebenswerk vollendet sei. Doch noch immer fehlte das Entscheidende und der Sterndeuter wusste nicht, was das Fehlende eigentlich war. Dabei hatte die Eule es ihm gesagt, vor langen Jahren und er hatte es vergessen. Helonit fühlte sich schuldig und hilflos, doch das wusste niemand in ganz Vargas.

In den frühen Morgenstunden, nach einer langen, arbeitsreichen Nacht, liebte der Alte es, vor seinem Stück zu sitzen und die ersten Strahlen der östlichen Morgensonne in den Kristallen und metallenen Ornamenten widergespiegelt zu sehen. In diesen Momenten wirkte ihm sein Stück oft neu und fremd und er erkannte manchmal, an besonderen Tagen, eine geheimnisvolle Ordnung, die zwischen den Ornamenten und Kristallen herrschte. So auch an diesem Morgen, an dem er müde war und verzweifelt und an dem unsere Geschichte nun beginnt.

Ein hektisches Klopfen ließ Helonit auffahren. Es hatte lange, ja sehr lange Zeit nicht mehr geklopft. Normalerweise wagte niemand den Sterndeuter in seiner Welt hoch über dem Schloss von Vargas zu stören. Außerdem war das Leben in Vargas schon seit Jahren ereignislos verlaufen. Nichts also hätte eine Störung gerechtfertigt und Helonit hatte sich daran gewöhnt, ganz für sich zu sein.

Aber da! Nochmal! Es klopfte energischer. Es musste etwas Unerhörtes passiert sein.

„Herein“ rief er und spürte, wie ihm das Herz bis zum Hals schlug. Dabei bemerkte er eben noch, dass er eigentlich ärgerlich war, gestört zu werden, wo ihm doch gerade ein neuer Zusammenhang zwischen einem Lapislazuli und einem goldenen Notenschlüssel aufgefallen war, den er nie bemerkt hatte.
Aber er war so aus seiner Betrachtung gerissen durch das ungewohnte Klopfen, dass er seinen Ärger sofort vergaß.

Vor der Tür stand einer der Diener des Königs, ganz außer Atem von den vielen Stufen noch.
Seine dicklichen Pausbacken waren rot angelaufen und sein himmelblauer Frack, der ihn als einen ranghohen Schlossbediensteten auswies, drohte über dem gewaltigen Bauch zu bersten. Er atmete so schnell, dass die weißgepuderten Locken an seinen Schläfen auf und ab wackelten, bis auf die, die schweißnass an seiner Stirne kleben blieben.

„Ehrwürdiger Sterndeuter“, brachte der Bote japsend hervor.
„Seine Majestät, der König wünscht Euch zu sprechen. Eilt Euch, die Sache kann nicht warten. Ich werde Euch zu ihm geleiten!“

Das war in der Tat unerhört. Wie lange war Helonit schon nicht mehr zum König gerufen worden und dann noch dazu so früh am Morgen? Seine Brauen schoben sich in die Höhe und furchten seine runzlige Stirn unter dem spitzen Sterndeuterhut noch mehr. Er erhob sich und seine Müdigkeit war mit einem Mal verflogen. Ohne Worte drehte sich der Diener um und lief los, dem Sterndeuter voran, die Stufen hinab, quer über den Schlosshof auf den Haupttrakt und den großen Audienzsaal von Vargas zu.
Beinahe hätte Helonit sich in den Falten seines langen, blauen Sterndeuterkittels verfangen, wäre er nicht geistesgegenwärtig gerade noch in der Lage gewesen, seinen langen Rock zusammenzuraffen, so sehr eilte auch er sich nun!

Die Sonne stieg allmählich höher über Vargas empor und langsam begannen seine Bewohner zu erwachen. Im Haupttrakt, wo der König residierte, herrschte allerdings bereits geschäftiges Treiben und das war nicht immer so! Seit langem war das einst so prächtige Vargas ein verschlafenes Nest und seine Bewohner hatten sich an einen beschaulichen, faulen und ruhigen Lebensstil gewöhnt. Heute aber war alles anders. Der König hatte Anweisung gegeben, aufzuräumen und die königlichen Diener rannten bereits seit Stunden hektisch hin und her, um das Nötigste zu unternehmen, dem König und dem Schloss ein einigermaßen würdevolles Aussehen zu verleihen. Beide waren doch ein wenig eingestaubt in den letzten ereignislosen Jahrzehnten.

Der König selbst machte eine verdrießliche Miene. Es war ihm an diesem Morgen zum ersten Mal wirklich aufgefallen, wie sehr doch sein geliebtes Vargas heruntergekommen war.

„Wir sind faul geworden, der Kesch hat recht!“ murmelte er in seinen langen, weißen Bart hinein, während sein Kämmerer ihm half, die ewig nicht mehr getragene rote Samtrobe mit dem Hermelinbesatz anzulegen. Sie hing ein wenig schlaff um seine einstmals so breiten Schultern. Der König war alt und mager. Hoffentlich passte die Krone noch, jetzt, wo unter seinem früher so prächtigen Haupthaar die Kopfhaut deutlich durchschimmerte. Auch sie saß wackelig auf des Königs Haupt.

„Aber immerhin, ich sehe noch aus, wie ein König!“ dachte er mit trotzigem Stolz als er sein Spiegelbild betrachtete.

„Ja, der Kesch hat recht. Wir haben uns gehen lassen!“
Dem König war es peinlich gewesen, als in der Morgendämmerung der Kesch vor ihm stand. Er war nicht einmal sicher, ob er wach war, oder träumte, denn das smaragdgrüne Funkeln, das den Kesch umgab, hatte der König noch nie gesehen und es war schön und unwirklich wie in einem Traum. Der Kesch war das erste Mal zu ihm gekommen. Er kam nur in Zeiten der Not und der König fragte sich, woher er wusste, dass das der Kesch war. Aber er war es ohne Zweifel, obwohl er sich nicht vorstellte und so schämte der König sich sehr, dass eine so hochgestellte Persönlichkeit den König von Vargas ganz verknittert und verschlafen sah. Der Kesch war neben der weißen Eule die weiseste und älteste Figur im Märchenreich!

Dem Kesch schien es einerlei, ob der König noch verschlafen war oder nicht. Er hatte den alten Herrscher nur angeschaut mit seinen vielfarbigen und wunderbaren Augen und hatte dann gesagt:

„Ihr müsst etwas unternehmen, sonst wird Vargas vergessen werden! Besprich Dich mit Deinem Sterndeuter, ihr werdet eine Lösung finden! Es ist Zeit!“ Seine Stimme klang dabei, als käme sie gleichzeitig von nah und fern und als käme sie auch direkt aus des Königs Kopf.

„Ja, aber“, wollte der König entgegnen, doch der Kesch hielt nur einen Zeigefinger vor den Mund und hieß ihn mit dieser Geste schweigen!

„Bring Dein Schloss in Ordnung und hole das Versäumte nach! Ihr seid Märchenleute, also erlebt Märchen! Ich werde bei Euch sein!“ Mit diesen Worten verschwand der Kesch und nur ein Glitzern in der Luft sagte dem König, dass er diese Begegnung nicht geträumt hatte.

Er war sofort aufgestanden, zum ersten Mal in seinem Leben, ohne dass ihm dabei sein Kämmerer half. Dann hatte er seine Männer geweckt und Anweisungen gegeben.
Wo er nun auch hinsah waren Bedienstete auf sein Geheiß hin beschäftigt, die schlimmsten Spinnweben zu beseitigen und überall flockte Staub wie Schnee umher, als wäre Frau Holle persönlich an der Arbeit.

„Genug, genug!“ herrschte der König einen jungen Diener an, der gerade anfangen wollte, die roten Samtvorhänge zu schütteln, welche die mehrere Meter hohen Fenster des Audienzsaales schmückten.

„Wenn das jetzt auch noch staubt, werden der Sterndeuter und ich ersticken! Hört auf, es muss auch so gehen!“

Sofort begann sich die Dienerschaft erleichtert zurückzuziehen. Die Leute waren das arbeiten nicht mehr gewöhnt. Nur die Palastwache nahm missmutig Aufstellung, wie es sich geziemte, wenn der König einen Besucher empfing. Freilich gab es ein kleines Hin und Her zwischen den einzelnen Soldaten, denn sie waren sich nicht mehr sicher, in welcher Reihenfolge sie entlang des roten Teppichs, der zum Thron führte, postieren sollten. Doch schließlich standen sie in Reih und Glied und den ersten schmerzte bereits nach wenigen Minuten der Rücken, weil er es nicht mehr gewohnt war, lange Zeit unbeweglich an einem Fleck zu stehen.

Halbwegs zufrieden musterte der König seine Mannen und verteilte hie und da einen tadelnden Blick, wenn einer der Stehenden die Schultern hängen ließ. Dann erklomm er das Podest, auf dem der herrlich geschnitzte Thronsessel stand.
Mit einem lauten Schall erklang kurz darauf die Stimme des Herolds: „Eurer königliche Hoheit, darf ich vermelden! - Helonit der Sterndeuter!“


Außerhalb des Schlosses war nicht unbemerkt geblieben, dass eine Audienz stattfand. Wie ein Lauffeuer hatte sich die Nachricht verbreitete und dafür hatten wohl nicht zu letzt die geschwätzigen Dienstmägde gesorgt, die noch nie etwas für sich behalten konnten. So dauerte es nicht lange, bis alle Schlossbewohner informiert waren, dass Helonit der Sterndeuter beim König saß. Natürlich gab es Einzelne, die versuchten, zu lauschen, aber die Fenster und auch die große Eingangstür des Audienzsaales waren geschlossen und so drang kein Wort nach draußen. Die Aufregung wuchs. Aus allen Häusern und Werkstätten und Garküchen liefen die Leute zusammen und viele hatten schnell noch Brieftauben ausgesandt, um die in den umliegenden Dörfern und kleinen Schlössern lebenden Verwandten und Freunde zu informieren.

So kam es, dass in der Mitte des Vormittages eine gewaltige Menge unterschiedlichster Personen im Schloss von Vargas zusammengekommen war, während der König und der Sterndeuter Stunde für Stunde tagten und die armen Palastwachen unbeweglich dabeistehen mussten.
Wie auf einem Festplatz tummelte sich das Volk und die Damen hatten ihre besten Kleider angezogen und auch die Herren hatten sich fein herausgeputzt.
In der Luft standen Staubwolken, denn die Kutschen und Ochsenkarren, mit denen die weiter entfernt Lebenden eintrafen, wirbelten die selten benützten alten Wege auf.

Ein Anblick war das! Es wimmelte nur so von bekannten und halbprominenten Märchenfiguren. Am auffälligsten war wohl der gestiefelte Kater. Es war natürlich nicht derjenige, über den der erste Märchenerzähler berichtet hatte, aber es war ein unmittelbarer Nachkomme desselben, der, wie es in Vargas Brauch war, in die Fußstapfen, oder sollte man besser sagen, in die Stiefel seines Ahnen gestiegen war. Stolz schritt er einher und ganz im Sinne seines Ahnherren war er angetan mit einem breitkrempigen Hut mit Feder, einem blauen Rock aus dessen Schössen der buschige, getigerte Schwanz hervorlugte und natürlich mit den roten Lederstiefeln, die auf Hochglanz poliert waren. Sichtlich genoss er die Aufmerksamkeit von Schneeweißchen und Rosenrot, die ihn anstierten und kokett mit den Augen blinzelten.

Der Nachkomme von dem, der einst ausgezogen war, das Fürchten zu lernen, schlich ein wenig ängstlich einher. Er fürchtete sich vor der Menge.

Aufsehen erregte auch Schneewittchen. Sie war mit allen sieben Zwergen angereist und gemeinsam mit dem gutaussehenden, stattlichen Prinzen, der sie von dem Apfelbissen befreit hatte, wirkten sie wie eine große und glückliche Familie.

Zwischen den Prominenten gab es eine Menge an Gänsemägden und Schweinehirten, Küchenjungen und Müllersfrauen. Ja, alle waren da, all die Figuren, die das Land der Märchen hervorgebracht hatte. Auch Dornröschen in einer rosenbesetzten Kutsche fuhr einher und Aschenbrödel kam mit nur einem Schuh. Sie alle waren neugierig.
Die meisten von ihnen hatten noch nie selbst etwas erlebt. Sie zehrten nur von den Geschichten ihrer Vorfahren, die sie auf ewig zu verkörpern suchten. So hatten sie gelebt in all den Jahren und die Ereignislosigkeit der Vergangenheit ließ sie nun zusammenkommen.
Bahnte sich Unheil an, oder ein neues Märchen? Irgendetwas musste geschehen sein, wenn der König dem Sterndeuter eine Audienz gab. Das geschah nur sehr, sehr selten und hatte in der Vergangenheit immer Veränderungen mit sich gebracht.
 

Gilmon

Mitglied
Hallo Kilian,

willkommen in der Leselupe. Ein schöner und stimmungsvoller Text über ein verstaubtes Märchenreich, der sich flüssig lesen läßt. Besonders der Abschnitt am Anfang über den Sterndeuter hat mir sehr gut gefallen. Die einzelnen Absätze erleichtern dazu das Lesen des Textes. Ein gelungener Einstand in der Leselupe.

Grüße, Gilmon
 



 
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