Die Malerin

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Warne Marsh

Mitglied
Wie ich mir die Geschichte Ileanas bestimmt nicht vorstelle:

Wie sie über die Strasse geht; mit einer Kopfbewegung – so eigen. Wie sie sich die Haare aus dem Gesicht streicht, mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung ihrer rechten Hand – den Blick bestimmt und doch fragend zugleich. Ihre Art, Tassen zu halten. Ihr ansteckendes Lachen. Wie sie sich nicht einfach alles gefallen lässt; zu selbstsicher ist sie. Ihr Blick, der einem nie mehr aus dem Herzen geht – einmal getroffen – der im Gespräch forsch fixiert; aber auch träumt. Die Wärme, welche ihr Körper beim Begrüssungskuss ausstrahlt. Die sie umgebende Stimmung. Wie sie mit schelmischen Lächeln einem das Buch zuklappt und grinsend sagt:
- So, nun ist aber Schluss mit Lesen!
Oder dieser Moment der Angst, Wut und Trauer, als eine Tasse geflogen kam. Ihre Stimme und wie sie die Worte damit belebte; all ihre Sätze fliegen lehrte – hinaus aus dem grauen Grossstadtalltag. Die kurzen, wie auch die ausgedehnten Spaziergänge, nenne ich: Ileana.
„Tatsache ist nämlich, dass der Zufall das ist, was uns zufällt. Tatsache ist auch, dass uns der Zufall nicht zufälligerweise zufällt.“ Ileanas Stimme hörte er sogleich in seinem Innern, als er sich dieser Worte erinnerte. Heute aber, da sitzt er alleine in seinem Zimmer. Nur schwach beleuchtet durch eine einzige, auf dem kleinen, runden Tisch stehende Kerze. Ein Geschenk Ileanas. Dass diese Stimme nun für immer verklungen sein soll, ihre Wärme verflogen, ihr Blick erstarrt und ihr Lachen verstummt - das konnte er sich einfach nicht vorstellen.
Schönes Tenor. Im Herzen die Schmerzen einer tiefen Wunde. Warum man sich immer wieder begegnet? Lasst mich doch in Ruhe! Ich mag nicht mehr! Ich bin froh um zwei Wochen Abgeschiedenheit und Ruhe in den Bergen. Alles hat seine Grenzen, auch die Strapazen der Gedanken. Ich höre Jazz und hoffe, zu überleben.
Ivan steht auf. Es ist Mitternacht. Dunkel. Die Kerze abgebrannt. Fein riecht es nach Rauch. Dass bekannte Schwarzweissbild wegen der Strassenlaterne. Unten die tote Strasse; einsam. Graue Fassaden ringsherum, abweisend. Vorsichtig geht er den Weg durch den Flur in die Küche. Dort knipst er das Licht an und bleibt einen Augenblick lang geblendet und verwirrt stehen. Quietschend öffnet sich die Kühlschranktür. Der Weisswein steht noch am selben Ort.
Er füllt sein Glas. Das wievielte? Er weiss es nicht. Nichts will er wissen. Das Licht ist nun wieder ausgeknipst. Er lehnt im Türrahmen; mit gesenktem Haupt. In seiner Rechten das Weinglas; halbleer. Kräftig hustend kehrt er ins Wohnzimmer zurück; lässt sich in den Sessel fallen. Ist müde. Vergeblich wartet er auf das vertraute Klirren des Schlüsselbundes. Ileana kommt nie mehr zurück.
Das also soll sie nicht sein, die Geschichte Ileanas. Warum aber nicht?

Zum letzten Mal wirft er einen Blick nach hinten über seine Schultern, um denselben durch das angelehnte Fenster auf den Zimmerboden gleiten zu lassen. Aufgescheucht flattert eine Taube über ihn hinweg. Ein kurzer Kampf, ein Zittern, ein stummer Schrei, erlösende Sturmwinde.
Zwei Männer steigen aus dem sofort herbeigerufenen Rettungswagen aus und kehren kurz darauf wieder zurück. Einer verschwindet im Wageninnern, um ein weisses Lacken zu holen.



Lana, das schwarze Labradormädchen, öffnet mit ihrer Schnauze die Türe, wedelt aufgeregt mit ihrem Schwanz und schaut mich tollpatschig, freudig und voller Erwartung an. Sonst hab’ ich in solchen Momenten jeweils mit ihr gespielt; ganz egal, ob ich gerade in einem Buch gelesen habe, oder mit was auch immer ich beschäftigt war; ausser vom Saxophonüben, davon konnte sie mich weder abhalten, noch ablenken. Wenn sie doch nur reden könnte, in unserer, menschlichen Sprache sich mitteilen könnte; nur zu gerne wüsste ich, was sie mir gerade jetzt in diesem Moment sagte. So, wie sich mich anschaut; sie scheint nicht auch nur im Geringsten mit zu bekommen, was hier gerade abgeht. Auch gut so. Ich knie mich auf den Fussboden, den roten Teppich und umarme die Lana, die sich wie selbstverständlich auf den Rücken legt. Na ja, kann er mir doch grad noch so den Bauch kraulen, wenn er schon kuscheln will, oder!? Ein Lächeln huscht über mein Gesicht.
Hach, Lana, entwicht es mir, du bist mir eine.
Also, Ivan, wir müssen; s’ist langsam Zeit, zu gehen, höre ich Ileanas
Stimme sagen. Wie klang sie, diese Stimme? Ja, wie? Ganz tief in meinem Innern höre ich sie sehr genau, spüre ich sie beim Reden vibrieren, aber sie kommt nicht hoch, ich höre sie nicht mehr deutlich, vermag sie kaum zu beschreiben. „Schön!“ lässt sich so leichtsinnig dahinsagen. Klar, war sie schön! Was denn sonst!? Aber wie schön? Wie genau? Vermag ich ihre Stimme zu beschreiben, ohne mich später der gewählten Worte wegen schämen zu müssen? Ich wage den Versuch und das Scheitern. Leise war sie sehr oft, Ileanas Stimme, vorsichtig sich vorwärts tastend; von Satz zu Satz, zuweilen gar von Wort zu Wort bis hin zum Fünkchen sprudelnden Wortschall, ertönte sie in der hohen Küche an der Karl-Marx-Allee. Besonders intensiv mag ich mich ihrer erinnern, vermischt mit Alleerauschen und Deckenrascheln. Wie ich auf dem Rücken lag und sie ihren Kopf an meine Schulter legte; gerührt weil dieser Platz wie speziell für sie geschaffen schien, sie – ihr Kopf – passte da so angegossen perfekt hin. Gerührte, sanfte Stimme. Oder wie sie mich mitten auf der Party mit aufgerissenen, tränenfeuchten Augen anschaut:
Ist das alles wahr, Ivan? Gibt es so was tatsächlich? Sind wir wirklich? Na los, sag! Ist das alles wahr? Die Umsitzenden begannen für einen Moment betreten zu schweigen, mit Blicken, die nicht wussten, wohin. Einige schweiften den Bücherrücken entlang, währenddem andere sich verlegen auf den Boden richteten; wieder andere versuchten währenddessen einen nichtsahnenden Anschein zu bewahren; alle jedoch waren sie sich bewusst, bei ihren jämmerlichen Versuchen entlarvt, ertappt worden zu sein; gefolgt vom Rettenden „Hoch! Auf die Frischverliebten!“ Was für ein brillanter, rettender Geistesblitz von einem Einfall! Wovor wir uns dann vorübergehend in die vermeintliche Ruhe der Küche gerettet haben, bis wir auch da wieder Gesellschaft bekamen, welche uns angeheitert erzählte, wie schön es doch ist, so frisch verliebt zu sein; war sicher lieb gemeint, nun denn: wir liessen uns gerne in dem belehren, was wir ohnehin gerade erlebten und wussten damals.
Aber Ileanas Stimme scheint sich einer genauen Beschreibung entziehen zu wollen. Viel präsenter hingegen ist mir da das helle Läuten ihres Lachens, welches sich später so ganz zu verstummen entschloss.

...wie damals am Tegel...wortlos, weil es sein muss und ein Zurück jeglicher Existenz entbehrt...ein zögern...wie sie mich entschuldigend anschaut...ihre Augen, fast weint sie „...lebwohl, Ivan...“ wie sie sieht, dass ich nichts mehr kann...nichts...wie mir die Tränen in den Augen gefrieren...sie den Kopf schüttelt...mich nochmals drückt „...ach, Ivan..es tut mir alles, alles so leid...“ wir uns anschauen...sich unsere Lippen den letzten Kuss zuhauchen...sie nochmals über ihre Schultern zurückschaut, ins Auto steigt, dieses losfährt...so war das damals...das war wenigstens ein Abschied. Wie lange ich da gestanden habe? Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich, wie ich mit dem Rücken zum Tegel stand und noch immer dem, längst in Berlins Strassenwirrwar verschwundenen, Auto nachschaute...Himmel über Berlin...dass die Tränen liefen und die Leute schauten... wie ich langsam wieder zu funktionieren begann...eincheckte...abhob...wie Berlin lichterblinkend im Dunkel der Startkurve verschwand...entglitt.

Hier also, hier soll sie geschehen, die Geschichte Ileanas?

Ivan

Ich habe keine Worte mehr. Klebrig, wie Langeweile beschleicht mich das Schweigen, vermag ich die Augen kaum noch zu öffnen, so hell ist der Tag. Ich halte mir panisch die Ohren zu, so rücksichtslos fällt der Alltag durch das halbgeöffnete Fenster über mich her; drückt mich auf mein Bett zurück, wann immer ich versuche aufzustehen und das Fenster endlich zu schliessen – vergebens.

Wenn es draussen wenigstens schneite, so würde mich der Anblick der leise und langsam herabtanzenden Schneeflocken ein bisschen beruhigen. So aber, so wird das Nichts nur immer grösser, und es lohnt sich gar nicht erst, den Blick zum Fenster hinaus zu richten. Wozu auch? Es schneit ja doch nicht. Schnee hat etwas Beruhigendes. Egal, ob er einfach nur da liegt, oder aus den Wolken rieselt. Er vermag die Geräusche des Alltags zu dämpfen; liegt einfach nur still da. Rein und friedlich umhüllt er das Leben und lässt es ein wenig ruhiger treten. Und trotzdem deckt er das Leben gleichsam auf, kann man in ihm Spuren lesen; von wo der Wind geweht hat, oder wo Kinder Schlitten gefahren, wo genau Zeitungsverträger, Katzen entlang gegangen sind – auch, wo Salz gestreut worden ist. Manchmal ist der Schnee auch heimtückisch. Wenn er auf dem Trottoir eine Eisfläche unsichtbar werden lässt. Er reduziert auch, wo er Farben schwächt. Er hellt dunkle Waldhänge auf. Schnee hat etwas Beruhigendes. Auf Tannenästen regt er zudem unsere Phantasie an, in dem er dort Krokodile oder Gespenster lauern lässt; wie im Sommer die über den Himmel ziehenden Wolken aus Elefanten menschliche Fratzen werden lassen und manchmal – wenn die Kumuluswolken in die Höhe steigen – sieht das aus, wie eine von der Erde zum Himmel rasende Staublawine. Er verwandelt einzelne, blattlos auf den Feldern stehende Obstbäume ins Kondolenzkartenhafte; viel mehr noch, als der Herbst dies tut, finde ich.

Und trotzdem finde ich keine Worte mehr. Irgendwie gibt es einfach nichts mehr zu sagen. Es gibt Zeiten, da schweigt es halt. Ich kann mich zwar vom Rücken auf die Seite drehen und von dort auf den Bauch; aber am Wesentlichen ändert sich dadurch nichts. Ich liege halt einfach auf dem Bett und schweige. Klar lässt sich das Denken nicht per Knopfdruck ausschalten; aber irgendwie denkt es ja doch nichts. Und wenn es denkt, so ändert sich dadurch auch weiter nichts. Es denkt halt einfach so vor sich hin, weil es sich nicht ausschalten läst, das Denken – jedenfalls wüsste ich nicht wie. Soll es halt denken. Ich jedenfalls schweige! Was sollte ich auch sagen? Mal ganz abgesehen davon, dass ich keine Worte mehr habe. Und was hatte ich vom Sprechen, damals als da noch die Worte ertönten, die es zu sagen gab? Nichts. Das ganze Reden hat ja doch nur dazu geführt, dass ich nun auf dem Bett liege, weil mir die Worte abhanden gekommen sind.

Manchmal, wenn es draussen schneit, bleiben die Schneeflocken am Zugfenster kleben, wo sie sogleich zu schmelzen beginnen. Dann lässt sie der Fahrtwind von den dadurch entstehenden Schneematchhäufchen vereinzelnde Wassertropfen sich lösen und treibt diese ruckartig zitternd schräg über das Fenster vor sich hin. Man meint dann auf den ersten Blick, es würde regnen – draussen – aber man muss halt eben schon richtig hinschauen.

Worte gibt es viele im Zug. Nicht nur in den Lautsprechern. Aber auch dort, in all den Durchsagen gibt es unendlich viele Worte, welche einem immer wieder ans Ohr dringen. Oftmals nimmt man dieselben gar nicht mehr bewusst wahr, vor allem dann, wenn man eine Strecke regelmässig fährt; aber auch sonst ist man vielleicht in geschriebene Worte vertieft und überhört dabei die Durchsagen. Zudem liest man viele Worte in den Büchern, und zum Bücherschreiben braucht es ja auch Leute, mit Worten. Viele Worte werden auch gesprochen. Manchmal möchte man sie gar nicht alle hören, weil sie einem Handygespräch entstammen, welches mitzuhören man gezwungen wird. Oder es stehen die Leute zum Aussteigen bereit an der Türe und man hört zwar, dass dort geredet wird, versteht aber nichts davon; was aber auch nicht weiter schlimm ist. Es brabbelt und murmelt dann halt einfach so dahin. Dann wird’s ruhig, die Türen knallen zu, und man weiss dadurch, dass diese Leute nun ausgestiegen sind; sich wohl mit netten Worten voneinander verabschieden, oder sich freundlich unterhaltend auf den - zumindest teilweise - gemeinsamen Heimweg machen.

Im Tunnel dann, werden die Schneewassertröpfchen plötzlich schneller und heftiger und in einem viel flacheren Winkel über die Scheibe gepeitscht. Manchmal beinahe wagrecht. Sie hinterlassen dann dunkle Streifen auf dem nun nebelgleich beschlagenen Fenster. Es sieht aus, als würden Spermien den Scheiben entlang schwänzeln. Und Spermien haben übrigens auch keine Worte.

Bis vor kurzem, da sprudelten sie nur so aus mir heraus, diese Worte. Nun aber, nun ist Stille eingekehrt. Nur die Stille ist geblieben, jene tiefe Stille, die man singen hört, wenn man in sie hineinlauscht, und das unmerkliche, brennende Beben eines menschlichen Sehnens, eine Sehnsucht nach etwas, was ein Mensch niemals erleben und niemals ergründen wird. Eine tiefe wortlose Stille hat mich ergriffen, hält mich fest umklammert; gefangen.



Oftmals ist einfach alles leer, wobei es sich in Wirklichkeit dann doch wieder nicht um eigentliche Leere handelt, da man seinen, sich im Kreis drehenden, Danken hilflos ausgeliefert ist. Leer vielleicht, weil man die Gedanken nicht selber führt, den Gang, die Richtung derselben nicht beeinflussen kann; weil sich das Denken verselbständigt hat, ziel-, und orientierungslos geworden ist.

Oder da ist eine Melodie. Sie tönt im Innern, sie beginnt immer wieder von vorne. Man sitzt im Zug und hat aufgegeben, Herr über seine Gedanken zu werden. So ertönt in einem Immerfort diese Melodie. Da kann man noch lange versuchen, die ertönende Melodie durch eine andere zu ersetzen; die Erstertönte hat und behält die Oberhand. Wenigstens aber finden die Gedanken nun nicht nur ein Ziel – nämlich das Ändern dieser Melodie – sondern man ist unversehens wieder in der Lage den Gedanken eine selbstgewählte Richtung zu geben. Doch auch hier ist man zum Scheitern verurteilt. Die erste Melodie, entstanden in Zeiten tiefster Liebe, sie ist nicht nur unauslöschbar, sondern sie scheint zudem unübertönbar zu sein; sie mag nicht weichen.


Aber: Ich habe keine Worte mehr. Schwermütig, wie am Grab stehende Trauergemeinden, schleichen die Worte um mein Bett; vermögen sie nicht mehr zu mir vor zu dringen. Geblendet vom grellen Licht des Alltag verlieren sie an Bedeutung. Die Hände drücken sich an meinen Kopf, schmerzlich spüre ich den Druck auf meinen Ohren, die Panik weicht einer unausweichlichen Sturheit; ich will ihn gar nicht hören, den Alltag dort draussen, der an meinem Fenster vorbeirauscht, als gäbe es all die Worte noch. Selbst wenn ich könnte, rührte ich mich keinen Millimeter weg von meinem Bett. Ich fleh sie an, die Worte, doch endlich das Fenster zu schliessen. Ich fleh sie an mit meinem Blick, dem sie ausweichen; nun, da ich keine Verwendung mehr für sie habe. Und ich sehe, wie sie – ein Wort nach dem anderen – sich hinsetzten auf dem Fussboden rund um mein Bett, die traurigen Blicke durch mich hindurch gerichtet, als sässen sie in einer Kirche und warteten auf die tröstenden Worte des Pfarrers. Die Worte aus meinem Munde. Aber ich habe keine Worte mehr und war noch nie ein Pfarrer. Nein: Ich halte mir panisch die Ohren zu, so rücksichtslos fällt der Alltag durch das halbgeöffnete Fenster über mich her; drückt mich auf mein Bett zurück.

Viele Worte werden auch gebrochen. Sie stehen da, wie Engel mit gebrochenen Flügeln – unfähig zu fliegen.

Und immer, wenn es einem gut geht; immer dann, wenn man das Gefühl in sich hochkommen spürt, was sich jeweils einzustellen pflegt, wenn es einem gut zu gehen scheint – immer dann kommt alles anders; noch schlimmer.
Ivan sitzt an dem kleinen, weissen Tisch, welcher sich zwischen den beiden hohen Fenstern an die Wand zu schmiegen scheint. Die rote Kerze, sie flackert manchmal etwas nervös. Zugluft. Gardinen. Es dämmert. Die Luft duftet nach Kaffee. Das Surren der Heizung. Mit Ochsenblut gestrichene Dielen und Musik. Jazz. Das Saxophon von Stan Getz spielt I Remember Clifford, ein ruhiges Stück. Lied. Ballade. Die sentimental ruhige Musik dringt an sein Ohr, durch ihn hindurch – und da ist sie wieder, die Grossstadtmelancholie; dicht gefolgt von Erinnerungen. Ileana.
Berlin-Alexanderplatz. Angekommen vom Zoo. Runter zur U5 in Richtung Hönow. In der Nase den beissenden Geruch, welcher für Ivan bedeutet: Berliner U-Bahn. Seltsam und manchmal gar ekelerregend – trotzdem ein Gefühl von Heimat auslösend. Die Musik Berlins: „Zurücktreten bitte!“. Das litaneibetende Murmeln der anonymen Masse. Das altbekannte Rattern und Quietschen der sich nähernden Bahn. Ivan steht bei der Türe. „Schillingstrasse! Ausstieg links!“ Die Übernächste muss er raus. Türen auf, Türen zu. Neue Gesichter. „Zurücktreten bitte!“ Das gemütlich schaukelnde Rumppeln durch das Dunkel. Überirdisch hätte man nun das „International“ links hinter sich liegen gelassen. „Strausberger Platz! Ausstieg links!“ Sein Koffer mit dem Airlinekleber verrät den Reisenden. Besucher? Heimkehrer? Sein Gesicht verrät nichts. Scheinbar teilnahmslos, liest Ivan in der taz ; faltet diese nun zusammen, und steckt sie in die linke Aussentasche seines schwarzen Sakkos. Zum Aussteigen bereit steht er an der Türe.

Raphaela

Ziellos geht Raphaela auf und ab in ihrem Zimmer und versucht sich zu erinnern, wie sie leuchteten, seine Augen. Wie seine Anwesenheit berührte. Sie schüttelt den Kopf, schnaubt verzweifelt durch ihre Nase aus und setzt sich auf die Kante ihres Bettes, den Kopf in ihre Hände gestützt. So saß er immer da, fährt es ihr durch die Gedanken, die wirren, irrenden Gedanken. Wenn sie nur wüsste, wo er ist. Niemand weiß Bescheid. Seine Eltern nicht. Nicht seine Freunde. All seine Emailaccounts hat er gelöscht. Agenden weggeschmissen und ist dann einfach verschwunden. Hat sich nirgends abgemeldet. Erst ist er nicht mehr zur Arbeit erschienen, dann kochte er kein Mittagessen für seinen Sohn, bis die Polizei seine Wohnungstür aufgebrochen hat. Alles schön aufgeräumt hat er hinterlassen. Ergebnisloses Suchen der Polizei. Berlin? Na, da können sie lange suchen, sag ich mal, da kann einer für den Rest seines Lebens untertauchen. Untertauchen. Diese Wort hallt nach. Schallt mit jedem Nachhallen noch lauter durch ihren Kopf. Untertauchen, in Berlin. Soll ich es wagen. Soll ich ihn suchen gehen? Würde ich in seinen Texten genug Konkretes finden, um mich in Berlin nach ihm um zu sehen? Finde ich da Leute? Wie und wo soll ich zu suchen beginnen, ich die ich noch nie in Berlin war? Über den Tegel hat er oft geschrieben, den dortigen Himmel über Berlin. Scheint mir ein trister Ort zu sein, weit draussen, hat er mir zumindest so beschrieben. Selbst wenn ich den Imbiss am Bahnhof Zoo fände; er erzählte doch, wie er da jeweils den ersten Kaffe trinkt, in Berlin angekommen, er die Gegend ansonsten gar nicht mag. Berlin Alexanderplatz. Aber ich kenne den Platz nicht. Soll gross sein. Aber zumindest den Zufall könnte ich dort herausfordern oder das Schicksal ein wenig provozieren. Ist er nicht ständig dort? Hat er nicht immer vom Alex erzählt? Doch! Genau! Die Schlossbrücke: da zieht es ihn doch immer zu seinem Engel. Ob das weit weg vom Alex ist? Ihre Gedanken beginnen sich zu überschlagen - geöffnete Schleusen, wildsprudelnde Erinnerung. Und doch: So viele Orte gäbe es. Ab und zu geht er am Schiffbauerdamm zum Brecht. Begrüsst ihn und schlendert weiter. Wohin? Manchmal, so erinnert sie sich, geht er kurz in die Volksbühne, einfach schauen, und wieder Raus. Orte der Kultur. Kraftorte. Geschichtssorte - was sie für ihn sind. Gibt es ein Kaffee, von wo aus sie die Karl-Marx-Buchhandlung sehen könnte? Das wäre genial! Und Ileana? Was, wenn er bei ihr untergetaucht ist? Das wäre dann ja vis-a-vis der Buchhandlung. Karl-Marx-Alle irgendetwas mit 80 oder so. Gut möglich, dass er die Nähe von Ileana sucht, nun, da scheinbar alles keinen Sinn mehr macht. Sie hätte es abwenden können. Ein kleines Ja und den Mut das zu leben, was sie zusammen erlebten, das zu leben, als was sie für die Aussenwelt galten. Ich hätte nicht an seiner Konsequenz zweifeln dürfen. Ileana? Ob er dort ist? Oder er mietet sich wieder an der Schönhauserallee ein. Irgend in einem Hinterhaus muss das sein. Da hat es ihm auch gefallen. Der Kiosk mit Jazzradio an der Ubahnstation. Sie hört seine warme, melancholische Stimme, wie er von Ileana erzählt. Immer und immer wieder. 3 Monate die sein Leben ändern sollten. Die ihn zu dem machten, was er heute ist. Wie froh er war, als er aus Berlin zurückkam. Er hat’s geschafft. Nach dem er während zweier Jahren mehrmals jährlich in Berlin war, jedes Mal um die Klingel schlich, hat er geklingelt, hat er sie aus dem Bett geklingelt. Sie, die Ileana, von der er so schmerzlich überzeugt war, dass sie ihn aus ihrem Leben und ihren Gedanken unwiderruflich gelöscht hat, sie öffnete ihm die Türe. Später dann, er musste mal, sah er den Hesse-Gedichtband auf dem Fensterbrett liegen, ungläubig. Zieht den Reissverschluss hoch. Doch da liegt der Hesse. Er nimmt ihn sorgfältig hoch, öffnet ihn...und tatsächlich sieht er seine Handschrift „Liebe ist, wenn man sich lieb hat! Von Deinem Ivan“. Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. Sie erinnert sich, wie er beim Erzählen an dieser Stelle etwas verlegen hochschaute, mit den Schultern zuckte; mit einem feinen Grinsen. Als wollte er sich entschuldigen für die Worte der Liebe, im Hesse-Band. Er legte das Buch wieder an seinen Platz hin. Schaute sich im Bad um. Das war einmal unser Bad. Früher. Die Badewanne, wie sie das Wasser eingelassen, die Kerzen anzündete, das Licht ausmachte, seine Stirn küsste. Geniesse es. Die Türe hinter sich zuzog. Gut möglich, dass er bei ihr untergetaucht ist. War sie es doch, die ihn verstanden, wie keine zweite.

Ivan

Ich müsse dringendst mitkommen, sagte sie mit weit aufgerissenen Augen, er sei hier und es ginge so nicht weiter. Vergisses! Vergisses! Vergisses einfach, ich wolle ihn unter keinen Umständen sehen, nie und nimmer, vergisses!

Dann Standen wir auf einer Eisenbrücke. Schwarzes Wasser, nebeldampfend. Aus dem Nebel löste sich ein Schatten und begann auf uns zu zu kommen. Ivan, Ivan! Das ist er, das ist er, ach Ivan, da kommt er. Raphaela rennt in seine Richtung. Ich stehe mit tiefgefrorenem Herzen mitten auf der Brücke.

Er lässt sie nicht an sich heran. Er schubst sie immer wieder von sich weg, vor sich hin. Den Blick starr auf mich gerichtet. Trauriger, verweinter Blick aus unrasiertem, tränenschwammigem Gesicht. Es geht nicht, da ist der Ivan. Ich halte das nicht aus, Ivan. Verlorener Blick. Ich halte dich nicht aus, Ivan. Es tut so weh, es tut so sehr weh, ich halte das nicht aus. Er lässt die Hand des kleinen Jungen los und springt ins Wasser. Raphaela schaut mich verzweifelt an, schreit seinen Namen. Sie springt ihm nach, nachdem sie sich mühevoll das Brückengeländer hochgezogen hat. Sie stand da. Der Wind spielte mit ihrem Haar. Sie hielt sich an einem Eisenpfeiler fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Schaute kurz zu uns, dem Jungen und mir, und sprang.

Ich stehe teilnahmslos mitten auf der Brücke. Der kleine Junge lehnt sich sanft an die Eisenbrüstung und umarmt ein Rohr; als kuschelte er mit der Eisenbrücke - den Blick fassungslos verträumt auf das fliessende Wasser gerichtet. Er schaut mich traurig an. Ich wusste nicht, dass wir schwimmen gehen, weißt du, ich wollte heute auch gar nicht schwimmen gehen. Ich habe doch noch gesagt, dass ich nicht schwimmen gehen möchte heute, sagte er erst auf Französisch dann, als er sah, dass ich ihn nicht verstehen kann, auf Deutsch. Ich wollte heute gar nicht schwimmen gehen, weißt du. Er schaut mich an mit dem Blick, der kleinen Jungen, kurz bevor sie weinen, obwohl sie doch eigentlich tapfer sein und das Weinen unterdrücken wollten. Ich wusste nicht, dass wir heute...Da kullerte es.

Komm zu mir, bei mir wirst du es gut haben, komm her, kleiner Junge. Ich nehme ihn in meine Arme, den Jungen des Anderen. Komm zu mir, wir schaffen das schon, du und ich. Hm!? Ich streiche ihm über seine feinen Haare, knie vor ihm nieder, sein Kopf an meiner Schulter, seine kleinen, unschuldigen Arme drücken mich.

Lass meinen Jungen in Ruhe!. Höre ich. Er ist plötzlich wieder auf der Brücke. überall Gefahr, mehr weiß ich nicht. Erinnerung an ein Von-der-Brücke-Stossen. Danach der Junge und Raphaela in meinen Armen.

Raphaela

Fröstelnd sucht Raphaela in ihrer Jackentasche nach dem Schlüssel zum Atelier. Dann eine Tatsache, die ihren Atem auch nach all den Jahren noch immer stocken lässt; der Schlüssel lässt sich nicht im Schloss bewegen. Das Schloss scheint kaputt und ihr somit der Gang ins Atelier verwehrt zu sein. Dabei weiß sie ganz genau, dass sie nun den Schlüssel lediglich sachte nach links und nach rechts, hin und her drehen, ihn dabei einen klitzekleinen Millimeter nur herausziehen muss, um die Zunge des Türschlosses unter den nun reibungslosen Umdrehungen des Schlüssels schnalzen zu hören.
Erleichtert stösst sie die Türe zum Atelier auf, mit einem Lächeln auf ihren Lippen schüttelt sie leicht den Kopf, ob ihres immer wieder erlebten Schlüsselschreckens; und sie schliesst die Türe von innen wieder zu. Eine Angewohnheit. Eine Marotte. So fühlt sie sich wohler und kann zudem sicher gehen, dass nicht plötzlich ungebetener Besuch im Atelier auftaucht. Sie weiß zwar nicht, wer sie unangemeldet besuchen kommen sollte; aber sicher ist sicher; zumal sie grundsätzlich etwas gegen unangemeldete, spontane Besuche hat. Sie mag es einfach nicht, dadurch von ihrer Arbeit abgehalten zu werden. Besuche wären doch so einfach planbar, sagt sie ihren Freunden, auf das Thema angesprochen. Warum sich spontan besuchen? Oder die Anrufe mitten in der Nacht. Kommst mal eben rasch auf nen Kaffee vorbei? Nein, kommt sie nicht, weil sie noch am Arbeiten ist. Oder: Ja, kommt sie, weil sie fertig gearbeitet hat. Enttäuschung deswegen, wenn sie nicht kommt, möchte sie sich gefälligst verbitten.
Sie nestelt nach einem Taschentuch und schnäuzt sich kräftig die eisig kalte Nase. Hält einen Moment, mit durchs Atelier schweifendem Blick, inne; die Nase gleichsam mit dem Papiertaschentuch wärmend, um – ein Ruck geht durch ihren von der Kälte noch steifen Körper – nochmals kräftig auszuschnaufen; in rascher Abfolge einmal das eine, einmal das andere Nasenloch zudrückend. Ein flüchtiger Kontrollblick ins Taschentuch ist ihr zur Gewohnheit geworden, bevor sie dieses mit raschen Bewegungen ihrer Hand zerknüllt und tief in ihrer Hosentasche verschwinden lässt.

So wirklich wohl fühlt sie sich nicht, sie scheint zu kränkeln. Jedenfalls ist ihr, seit sie aufgestanden, unwohl; flimmert es vor den Augen, erscheint ihr die Welt irgendwie unscharf, was sie ihrem Unwohlsein zuschreibt, welches gar hormonbedingt sein könnte, fällt ihr ein.

Also doch!? Hat sie sich auf dem Weg hierher doch nicht getäuscht, lag es nicht am Wetter, dass ihr alles so Grau in Grau vorgekommen ist? Das unangenehme Gefühl der diffusen Angst begann sie von Neuem zu beschleichen. Sie sah einfach nichts mehr. Doch, sie sah schon noch, aber sie konnte keine Farben mehr sehen. Grau in grau erschien ihr alles, was sie erblickte; selbst beim Träumen erblassten die Farben allmählich. Das Leben begann an ihr vorbei zu leben. Nicht nur, dass die Farben verblassen. Nein, seit über einem Monat hat sie nichts mehr von Ivan gehört. Konnte sich auch nicht vorstellen, dass sich dies ändern wird; er plötzlich, wie gewohnt an ihrer Türe klingeln würde, worauf sie ihm jeweils den Hausschlüssel hinunterwarf - aus dem Fenster gelehnt, sehend, wie er, mit ausgestreckter Hand nach oben blickt, in ihre Augen, sein Lächeln, seine Schönheit und wie er den Schlüssel auffängt; wie sie ihn die Treppe hochsteigen hört, der Schlüssel sich im Schloss dreht, seine warme Stimme. Der Brummbär ist wieder da! Die Wärme der Begrüssungsumarmung, seiner Augen, seiner Hände, die Nähe seiner Seele, Sätze und Gedanken. Aber der Brummbär wird nicht mehr da sein. Er geht weiter seinen Weg der Einsamkeit; unbeirrt, weder nach rechts, noch nach links schauend. Mit gebrochenem Herz, gewiss, aber unbeirrt.
Hat das Verblassen der Farben mit dem Verschwinden Ivans zu tun? Aber die Ärzte fanden nichts. Ab und an mitleidige Blicke, als wie Verrückte angeschaut werden, die behaupten wer und was auch immer sie seien, wie bei Bulgakov, vielleicht, den Ivan in Berlin aufgeführt gesehen und danach gelesen hat; vielleicht, ja. Vielleicht aber auch nicht. Jedenfalls fand niemand etwas heraus und die Farben scheinen ihr allmählich abhanden zu kommen.
Nachdem Ivan ihr für kurze Zeit wie auf zu blühen begann, welkte er vor Raphaelas Augen gleichsam dahin. Ja, sie hätte es ändern können und wollen. Hätte sie wissen sollen, dass er so plötzlich verschwunden sein wird? Ja, sie hätte aus ihrem selbst gewählten Gefängnis ausbrechen und über ihren Schatten springen können; er wär’s wert gewesen - wenn, dann er; ganz bestimmt. Das Schmerzlichste: zu wissen, dass es kein Zurück mehr gibt, nach allem, was gewesen. Nachdem er lediglich konsequent auf ihr Verhalten reagierte. Wie oft er ihr, erst fein und schüchtern, später flehend kundtat, dass er diese Situation nicht mehr leben können. Eine Beziehung zu erleben, ohne dieselbe auch tatsächlich leben zu dürfen. Sie weiß, wie sehr es ihn immer mehr innerlich zu zermürben, zerreissen begann; hat es geschehen lassen. Manchmal an seinen Worten zweifelnd. Oder hoffend, er würde sich schon beruhigen. Und doch immer wissend, wie recht er hat. Wär’ da wieder Ivan, da wären auch die Farben wieder, das Leben kehrte zurück.

Aber Ivan ist weg. Raphaela hat ihn nicht zugelassen.

Ivan

Abenddämmerung. Im Rücken: Berlin-Alexanderplatz. Im Herzen: Erinnerungen an einen hellen, sonnig warmen Sommertag. Wie er auf den Stufen zum roten Rathaus sitzt und in „Berlin-Alexanderplatz“ liest. Der Realität weit entrückt ins Berlin Franz Biberkopfs. Heute aber friert es ihn. Wie er da auf dem Gehsteig steht; leicht benommen von Erinnerungen. Nun rauscht sie wieder, die Allee.
„Was habe ich eigentlich hier zu suchen?“ fragt er sich; schaut sich fröstelnd nach dem Fernsehturm um, dessen Kuppel halb im Nebel versinkt.
„Ist das nun symbolisch? Hach!!! Scheiss Symbole die ganze Zeit! Ich kann doch ganz einfach wie jeder andere Mensch auf dieser Karl-Marx-Allee flanieren!“ Kann Ivan aber nicht, weil hinter jedem der bedrohlich dunklen Fenster ein Stückchen Erinnerung hämisch grinsend zu sitzen scheint. Leicht amüsiert, schüttelt er den Kopf.
„Immer diese Tagträume!“ und beginnt, wie all die anderen Leute um und neben ihm, einen Fuss vor den anderen zu setzen. Irgendwie will ihm dies aber nicht so recht gelingen; viel zu bewusst nimmt er wahr, wie erst sein Fersen den Boden berührt, wie der Fuss dann abrollt, für einen kurzen Moment hinter ihm stehen zu bleiben scheint, um dann von seinem Bein in die Höhe gehoben zu werden, worauf er sich vor dem anderen Fuss wieder auf den Boden stellt; seitlich leicht verschoben; mit dem Fersen zuerst. Er bleibt stehen. Etwas hat ihn in seinen Bann gezogen. Die Türme. Strausberger Platz.
„Ivan! Hey! Ivan!“ hört er die Stimme Ileanas rufen. Nur zu genau ist er sich bewusst: Ileana ist nicht meh! Es stockt der Atem. Wildrasendes Herz.
„Ileana? Aber wo? Wooo???“ Eine unsichtbare Kraft scheint ihn zu den Türmen zu ziehen, ohne dass sich seine Füsse bewegen; er schwebt gleichsam. Da: ein Sog! Die Türme: Ein riesiger, saugender, alles verschlingender Schlund!
„Ivan!“ verzweifelt geschrieen. Er versucht ruhig zu bleiben.
„Jetzt nur nicht die Contenance verlieren!!! Uiuiuiui! Tief durchatmen! Schau dir all die Leute an, die saugt auch nichts in die Allee hinein. Ileanas Stimme haben die auch nicht gehört...“ Ob er sich verhört hat, wie so oft auf der Allee? Wie er schon unzählige Male Ileana um eine Ecke biegen zu sehen glaubte, um aus seinen Tagträumen hochzuschrecken, wie eine verscheuchte Taube. Keine Spur von Ileana. Kein Ort, nirgends. Nichts. Ileana ist nicht mehr! Langsam dreht er den beiden Türmen seinen Rücken zu. Als wolle er sich von der Alle verabschieden, steht er da. Seine Hände tief in die Hosentaschen gesteckt. Steht einfach nur da. Schaut hoch, zur halb im Nebel verschwindenden Kugel vom Fernsehturm. Steht da und schaut. Staunend, wie ein Kind. Das Rauschen der Allee entschwindet allmählich aus seinen Ohren; ebenso die Schritte der an ihm vorbeigehenden Menschen. Ihm scheint, als würde er sich langsam verabschieden, um hinüber zu schreiten, hin zu Ileana; hinein in eine Welt, in welcher er nichts zu suchen hat – die fast schon unrealistisch schmerzlos irgendwo da draussen im oder über dem Nebel zu liegen scheint. Himmel über Berlin. Unsichtbar, hinter Nebel verborgen; hinter dicken Nebeldecken, welche sich über die Stadt legen, als wollten sie die irgendwo dahinterliegende, schmerzlose Welt wenigstens für eine einzige Nacht vor den grellen Grossstadtlichtern und dem nervösen Lärm des grauen Molochs bewahren. Faraway, so close. Ivan schlägt den Kragen hoch, steckt die Hände noch tiefer in die Taschen.

Raphaela

Raphaela kann sich nicht erinnern, wie es soweit kommen konnte. Sie liegt nackt da. Über ihr ein ebenfalls nackter, gesichtsloser Mann. Sie stellt fest. Gerade dringt er mit seinem Glied in sie ein; mit seltsam gequältem Gesichtsausdruck. Sie spürt kaum etwas. Stellt lediglich Tatsachen fest. Vermag seine Gegenwart nur wie durch dicke Nebelschwaden zu erahnen. Es scheint ihr, als wäre dieser Körper engelsgleich schwerelos, als gälten diese Stösse und die Kräftig zupackenden Hände nicht ihr. Sie stellt fest, wie ihr das Leben abhanden kommt. Zum Feststellen gesellt sich der Gedanke daran, was nun wohl von ihr erwartet wird. Ihn von sich stossen? Sich umdrehen und murmeln, es gehe nicht; entschuldigend und mit vielsagendem Blick an die Wand starren, es täte ihr Leid, aber es habe doch alles keinen Sinn, du wirst das eh nicht verstehen, weißt du, es sei eine viel zu lange Geschichte, aber mach dir keine Sorgen, denn es hätte sicher nichts mit ihm zu tun. An die Wandstarren also? Wie starrt es sich am besten an die Wand nach solchen Worten? Mit verschränkten Armen. Ganz sicher ohne Tränen, sonst kommen ihm Gedanken des Tröstens. An die Wandstarren also. Aber selbst dazu fehlt ihr die Kraft. Zur Wahrheit. So bemüht sie sich ihrer Erinnerung und beginnt Erwartungen zu erfüllen. Sie weiß, was nun in dieser Situation von ihr erwartet wird. Erinnert sich der lüsternen Blicke, rhythmischen Bewegungen. Es fällt ihr schwer, diese Rolle zu spielen. Ihre Rolle zu spielen. Sich selber zu spielen. Die zu spielen, welche sie gerne noch immer wäre. Die darzustellen, welche ihr abhanden gekommen. Sie beginnt zu schwitzen, ob all der Erinnerungsarbeit. Wenn er nur nicht fragt, wie er gewesen wäre. Nur das nicht bitte. Ich möcht’s hinter mich bringen, ohne zu verletzen, ohne beim Verleugnen ertappt zu werden. Unverbindlich. Doch, doch, ja, ja. Man siehst sich. Montag? Du, ganz spontan, weißt du. Und der Ärmste hat nichts von allem gemerkt. Schreitet entspannt die Treppe runter, trällert vor sich hin. Türe zu und aufs Sofa gefallen. Weg und tschüss und adieu und überhaupt, oder was und wie auch immer. Nur weg. Es ist gegangen, weggegangen, nachdem er gekommen.

Was war das? Was war das bloss? Sie schmeckt nichts von seinen Küssen. Er aber hat ihr sehr wohl seine Zunge in den Mund gesteckt. Sie stellt fest. Sie schmeckt seine Küsse nicht mehr. Erinnert sich, wie sie früher solche Küsse noch am nächsten Tag geschmeckt hat. Noch eine Woche später, wie der Geschmack solcher Küsse beim kleinsten Gedanken an dieselben wieder im Mund herumzugeistern begann. Nun? Sofa. Sitzen. Nicht verstehen. Feststellen. Sie sitzt auf dem Sofa. Die Füsse auf dem kalten Fussboden. Mit ihrer rechten Hand dreht sie ihr schwarzes Haar um den Zeigefinger herum. Denkt nach. versucht nach zu denken, aber da ist nur Leere. Feststellen. Mehr nichts. Plötzlich spürt sie bewusst und stechend deutlich, wie ihr Herz immer schneller zu schlagen beginnt. Wie still es in ihrer Wohnung ist und der in ihrem Kopf hörbare Puls zu schreiender Lautstärke anschwillt; in bedrohlich langsamen Zeitlupentempo, mit jedem Schlag noch intensiver und deutlicher Hörbar wird. Das Blut rauscht in ihrem Kopf, gewitterregenhaftes Anschwellen. Immerzu das schleppende Pochen ihres Pulses; das Zittern ihres Herzens so deutlich gespürt. Bewusstsein. Vor ihre Füsse achtlos hingeworfenes Bewusstsein. Wie klein sie ist. Wie unbedeutend klein ihre Existenz in den Weiten des unendlichen Universums ist, wie wenig ihr Leben von Bedeutung. Um so bedeutsamer hingegen das grelle Pfeifen in ihrem Kopf. Sie starrt in die Dunkelheit und hat das Gefühl, inexistent zu werden. Alles ist leer. Grau in Grau. So schmerzhaft leer. Es beginnt sie zu zerreissen; so klein und leer zu sein. Sie spürt, wie sich an ihren Zehen die ersten Risse bilden; wie diese zu zerbröckeln beginnen – die grauen, staubigen Zehen, die unbrauchbar und ihrer Bedeutung enthoben sind, sie zerfallen. Nicht, dass sie lediglich zerfallen. Nein, die klobigen Stümpfe ihrer Füsse, sie schmelzen dahin, zehenlos, versinken langsam im Fussboden. Panik der Gewissheit, ihrer Füsse bald folgen zu müssen; wie sich dieser Boden blubbernd um ihr Schienbein wabbert, nach ihren Knien lechzt, schneller, als ihr lieb ist.

Sie schaut in den Spiegel. Im Bad, wohin Sie vor diesen Gedanken und unerwartet zurückgekehrten Gefühlen geflohen ist. Bewegen. Bewegen - bewegen, um nicht denken und schon gar nicht Fühlen zu müssen. Nur einfach bewegen, ins Bad rennen, um so das Leben zu spüren und dass man doch eine Bedeutung hat und wenn diese lediglich darin bestehen sollte, von Panikattacken ergriffen durch eine am Stadtrand gelegene Altbauwohnung zu rennen. Vom Sofa aufs Bad. Sie schaut in den Spiegel. Sieht ihr schmerzverzogenes, tränenüberströmtes Gesicht. Ihre aufgedunsenen, roten Augen schauen sie entgeistert an. Nur nicht wieder unbeweglich im Fussboden versinken. Sie dreht den Kaltwasserhahn bis zu dessen Anschlag auf und lauscht dem sprudelnden Wasserstrahl. Erleichtert. Denkt hinein in dieses Sprudeln. Taucht ein ins Nass ihrer Gedanken und Gefühle.

„Mir ist, als ob ich alles Licht verlöre.
Der Abend naht und heimlich wird das Haus;
ich breite einsam beide Arme aus,
und keiner sagt mir, wo ich hingehöre...“

Beinahe schien es ihr, als huschte da ein Lächeln über ihr Gesicht. Erinnerungen. Da kommen sie wieder, die Verlorengeglaubten. Farbige Erinnerungen, farbiger, als die verlorenen Farben ihrer Bilder, leuchtend farbig. Viel farbiger, als sie jeh zu malen in der Lage war. Leuchtender, als...

Sie schrickt auf. Stellt fest. Hört Wasser fliessen. Steht auf und hält beide Hände in den fliessenden Strahl, der die dadurch gebildete Schale sogleich füllt und über dessen Rand hinwegströmt. Sie taucht ihr Gesicht in diese kühle Wasserschale, streicht sich mit den nasskalten Händen über Nacken, netzt ihre Arme damit an und wieder ihr Gesicht; so, als könnte sie damit ihre Verzweiflung abwaschend loswerden, hinunter spülen, den Abfluss hinunter. Weg und von dannen. Sie dreht den Hahn wieder zu und setzt sich erschöpft auf den Rand ihrer Badewanne. Den Kopf noch immer in ihre eiskalten Hände gestützt. Stellt fest, dass wenigstens das Surren und Zirpen der Einsamkeit verklungen und das Universum nicht mehr pfeifend ist in ihrem Kopf. Ein letzter Blick mit Kopfschütteln in den Spiegel. Ohne die Zähne geputzt zu haben, lässt sie sich erschöpft auf ihr Bett fallen, schläft ein mit dem Gedanken: Raphaela, wenn das bloss gut kommt. (...)
 



 
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