Die Rente vor dem Sturm

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Die Rente vor dem Sturm

(Eine Beobachtung in der Gaststätte Kastanie in D-Stockum am Abend des 9. Juni)

„Genießen! Genießen, Leute! Ich sag euch eins: Lasst liegen, kommt zur Ruhe und genießt die Zeit, die ihr noch habt!“

Der weißhaarige hornbebrillte circa Siebzigjährige mit dem steif gebügelten Hemdkragen lehnt erhaben in seinem Outdoor-Flechtstuhl und schaut in die Runde. Sein stierer, feucht schimmernder Blick und seine tiefe und unverhältnismäßig laute Stimme versprüht den Charme eines Hauptmanns der Bundeswehr. Ähnlich zackig erhebt er sich, um nach drei kleinen Füchschen Alt Platz für weitere zu schaffen.

„Vierundvierzig Jahre hab‘ ich gearbeitet. Und was kommt dabei rum? Hab‘ doch nüscht verdient nach dem Krieg. Und die ganzen Jahre in der DDR, da krieg ich nullkommafünf Punkte für jedes Jahr angerechnet. Nullkommafünf! Könnt ihr euch das vorstellen?“
Die gedrungene ebenfalls knapp über dem Rentenalter angesiedelte weibliche Erscheinung trägt ihr kurzes Haar blond und großlockig dauergewellt. Ihr eckig geformter Kopf nickt im Takt eines jeden Wortes nach vorn über den Tisch, als wolle sie ihrem Beitrag auf diese Weise besonderen Nachdruck verleihen. Dabei wippen die starren Locken hin und her, so dass das Gesamtbild wie das Picken einer Henne nach mehrtägigem Futterentzug wirkt.

Ruwan, der Wirt, der gelegentlich inmitten seiner Gäste Platz nimmt, hört gespannt zu. Aus Sri Lanka war er gekommen, vor mehr als zwanzig Jahren. Hat sich so durchgeschlagen, zuerst als Hilfskraft in Autowaschanlagen, dann als Koch in diversen Schnellrestaurants, bis er den Thekendienst in der Kneipe seines mittlerweile verstorbenen Chefs übernehmen durfte. Der hatte keine Erben gehabt und Ruwan war zum ersten Mal in seinem Leben am richtigen Platz. Den kleinen Biergarten rund um eine mächtige Kastanie, in dem sie gerade sitzen, hat er erst vor zwei Monaten nach langen Querelen mit Nachbarn und Stadtverwaltung eröffnet; es ließ sich gut an – kein Wunder bei dem Wetter!

„Du hast es ja wohl geschafft, Ruwan. Kann man ja mal sagen!“ Der den anderen in Jahresringen etwas unterlegene hagere Kerl mit dem weißen Stoppelhaar prostet seinem Wirt flüchtig zu, richtet seinen Blick aber eher ins Glas, als dem Adressaten seine Aufrichtigkeit zu vermitteln. Sein nach unten wie ein Halbmond gekrümmter Mund mutet an, als gönne er ihm weder die Kneipe, noch den Profit, den Ruwan heute auch mit seinem Beitrag am Umsatz erwirtschaften wird.

„War lange Weg“, sagt Ruwan schmallippig und prostet ebenso zurück. Dabei trinkt er Wasser, hat schließlich den längsten Abend von allen vor sich und muss den Überblick behalten.

„Vierundvierzig Jahre, ist das etwa kein langer Weg? Und was heute dabei rauskommt, kann man ja wohl nich mit dem vergleichen, was deine Kneipe hier abwirft, oder?" Die Henne schüttelt heftig ihr Haupt, so dass die Locken kaum ihre Balance halten können. „Hätte ja auch gerne weitergearbeitet, aber die wollten mich ja nich mehr.“

„Sei du mal froh, dass du es zu uns rüber geschafft hast. Da drüben wär’s dir ja wohl noch schlechter gegangen, sach ich mal“. Vielleicht um zu prüfen, ob noch was da ist, streicht sich der mit dem Stoppelhaar über seinen Kopf, während er sich erneut einen Schluck genehmigt und seinen Satz wirken lässt.

„Das ist ja wohl der Gipfel, Harry! Die Zeiten sind doch wohl vorbei. Muss ich mich jetzt auch noch bei euch entschuldigen, oder was?“ Sichtlich erregt will die Henne nachlegen, als ihr die bis dahin äußerst wortkarge und etwa gleichaltrige Frau mit schwarzgrauem Bürstenschnitt zuvorkommt.

„Ich! Also ich habe siebenundvierzig Jahre geschuftet! Das ist ja mal auch genug, will ich euch sagen“. Ihr spitzer Mund und ihre noch spitzere Nase hatten etwas von einem Fuchs. Ihrer Schlauheit gab sie weiter Vorschub: „Ich! Also ich hab mit dreiundsechzig gewusst, dass Schluss ist und ich genieße jeden Tag, kann ich euch sagen. Ich! Ich weiß wann Schluss ist.“

„Amen!“ Der Hauptmann war zurückgekommen und guckt zwischen Henne und Füchsin hindurch direkt in die mannshohe Hecke, als wolle er für keinen der beiden Partei ergreifen.

„Sagst Du!“ giftet die Henne, ohne ihre Nachbarin anzusehen. „Und was hab ich davon? Das ist doch alles ungerecht. Egal ob Ost oder West. Nullkommafünf Punkte! Möcht euch mal hören, wenn ihr genauso behandelt würdet. Ich sag nur vierundvierzig Jahre, und was bleibt übrig?“

„Nüscht“, bleckt die Füchsin, zieht ihr halbleeres Glas Altbier an sich und leert es in einem Zug.

„Noch ne Runde?“ Ruwan ist dressiert auf solche Signale. Muss er ja auch. Leere Gläser müssen unverzüglich in volle getauscht werden, sonst stimmt’s später mit der Rente nicht.

„Immer man her damit! Lange bleiben wir nicht so jung.“ Der Hauptmann klatscht sich vor Freude über seinen eigenen Kalauer auf beide Oberschenkel und sieht dem Stoppelhaarigen direkt ins Gesicht. „Oder nicht, Sportsfreund? Du auch noch einen, oder muss ich jetzt alleine ...?“

„Nee nee, noch ne Runde geht klar“, erwidert der und gibt Ruwan das Zeichen aller Zeichen, das ohne jeden Zweifel auskommt: Daumen hoch.

Die Henne leert ebenfalls ihr Glas, stellt es ab und blickt zuerst dem Stoppelhaarigen und dann der Füchsin fragend in die Augen, als wolle sie sich vergewissern, ob dieser Beschluss ein einstimmiger gewesen sei. Der Hauptmann springt ein und tönt: „Ja nun bleibt mal ganz ruhig und freut euch, dass ihr überhaupt was habt im Alter. Stellt euch vor - Hartz 4 seit Jahren und dann eine Rente, die du mit der Lupe suchen musst. Ich sag’s euch, die paar Bierchen wären dann nicht drin. Deshalb ...“

„Genießen, genießen, ja ja, tun wir ja!“ vervollständigt die Henne, angenehm überrascht über ein weiteres Gratisgläschen; da ließe sich der Hauptmann wohl nicht lumpen.

„Siebenundvierzig Jahre“, nuschelt die Füchsin.
Das will niemand kommentieren. Auch die Henne nicht, sie wartet lieber stumm auf Nachschub.

Der mit dem Stoppelhaar greift sich ans Kinn, reibt es. Scheinbar macht er sich Gedanken über die Diskrepanzen und Wechselwirkungen zwischen Genuss und Einkommen, Gerechtigkeit und Auskommen und über das Leben dazwischen.

„Genau!“, schießt er unvermittelt in die Runde. „So soll es sein. Und außerdem, wenn man bedenkt, dass jeder von uns – ich wiederhole – jeder von uns! ruck zuck weg sein kann. Einfach so weg!“

„Wie?“, fragt die Henne.
„Wie?“, fragt die Füchsin.
„Klar!“, sagt der Hauptmann.

„Ja sicher! Unfall. Herzinfarkt. Tsunami. Unwetter. Oder alles hintereinander, was weiß ich. Kommt doch eh immer anders, als man es plant“, erklärt der Stoppelige. „Und deshalb ... aaah, wird auch Zeit!“

Die Freude ist groß. Ruwan kommt mit fünf Bieren an den Tisch, eines offenbar für sich.
„Dann mal Prost, geht auf Haus“, stimmt er gönnerhaft an und schaut dabei in den Himmel, an dem sich ein tiefschwarzer Wolkenkeil über die Kastanie erhebt. „Harry hat Recht, kommt immer anders als man denkt. Glaube musse gleich Sache wegräumen.“

„Nun mal langsam“, bläst der Hauptmann. „Erstmal ein Hoch auf unsern Wirt.“

Sie erheben die Gläser und prosten sich zu. „Ob jung oder Alt, Hauptsache kein Kölsch“, johlt der Hauptmann und schlägt sich mit der freien Hand auf seinen Oberschenkel. Er hat’s einfach drauf.

Ruwan nippt nur kurz, stellt das Glas ab und ruft seine Leute herbei. Der dunkle Keil am Himmel scheint ihm nicht geheuer.

„Genießen!“, kräht die Henne noch einmal auf, bevor das Unheil seinen Lauf nimmt.
 

flammarion

Foren-Redakteur
Teammitglied
oh,

was für ein Idyll!
meine westberliner cousine sagte: "Die Ossies ham ja keen Anschpruch uff Rente! Die ham ja nich in unse Kasse injezahlt! Un außadem hättn se ja den bolschewistischen Scheiß nich mitmachn müssen".

zurück zu deinem text - ich glaub, das gewitter am schluss irritiert.
gern gelesen.
lg
 



 
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