Rolf-Peter Wille
Mitglied
Die rote Blume
von Rolf-Peter Wille
zurück: zu Teil 2[ 5] zum Anfang der Erzählung (Teil 1)
[Teil 3]
Fishing
Plötzlich standen sie auf der Straße. Auf dem Bürgersteig patroullierte noch immer der Polizist auf seinem Motorad. Sein Gesicht verkrampfte sich zu einem Grinsen als er den Ausländer am Arm Michaels sah. Und seltsmerweise war es dieses Grinsen, welches W. in die Wirklichkeit zurückrief nach dem entsetzlichen Vorfall im Krankhaus.
[ 8] "This is Sam." sagte Michael zu W. und zeigte auf den Polizisten. Dieser hatte bereits das Motorrad geparkt und kam auf W. zu. "My name is Sam." sagte Sam und hielt dem Ausländer die Hand hin. Es blieb W. nichts anderes übrig, als sie zu schütteln.
[ 8] Dann war er verschwunden, und W. zögerte. Sollte er sich von Michael verabschieden?
[ 8] "I love fishing!" sagte Michael. Aber W. konnte nichts verstehen im Lärm der T. South Allee. Er war eben im Begriff, sich in seinem Anzug fehl am Platz zu fühlen, bemerkte jedoch, daß Michael einen ganz ähnlichen Anzug trug. Beide wirkten wie zwei Geschäftspartner, die auf ihren Driver warten, um zum Business Lunch zu fahren.
[ 8] Übrigens erschien dieser Driver in der Tat, und W. erkannte, daß es Sam war in einem recht schäbigen Auto. Sam stieg aus und öffnete dienstbeflissen die Tür. W. erkannte jetzt seinen Irrtum. Sam war offensichtlich der Driver von Michael und nur als Polizist getarnt. ‘Wenn er schon einen Driver hat, warum kauft er sich kein besseres Auto?’ dachte W.
[ 8] Michael schien die Gedanken des Ausländers zu erraten. Das Auto war eigentlich neu und seine schäbige Erscheinung lediglich Tarnung. Michael erzählte W. mit großer Unbefangenheit seine Privatgeschichte. Als bekannter Arzt war er stets ein Erpressungsopfer der ‘Mafia’ gewesen. Er hatte sich deshalb kurzerhand entschlossen, auf äußere Eleganz zu verzichten. Seine Familie war schon lange in Kalifornien in Sicherheit gebracht. Er fuhr nur noch ein schäbig aussehendes Auto, und um die ‘Mafia’, wie er die Unterwelt nannte, zu besänftigen, hatte er einfach einen Gangster als Driver angestellt. Dieser tarnte sich als Polizist, und so konnte auch die Polizei etwas profitieren. "Es ist eine Art Sozialstaat." erklärte Michael, und Sams Gesicht verkrampfte sich zu einem Grinsen. W. erblickte im Rückspiegel die rote Narbe, welche dieses Grinsen durchzuckte. ‘Vielleicht ist auch diese Narbe nur eine Tarnung.’ dachte er.
[ 8] Michael war in jeder Hinsicht ein ungewöhnlicher Arzt. Da er aus praktischen Gründen auf einige elegante Gebräuche verzichten mußte, hatte er auch mit dem Golfspielen aufgehört. "I hate golf." sagte er. Aber Sam hatte ihn das Fischen gelehrt, und dies war nun seine Leidenschaft geworden. "I love fishing!" sagte Michael. "Just relax."
[ 8] Sam hatte nun das Auto in der Nähe einer Subway Station geparkt, und der Ausländer verstand nicht. Sam öffnete den Kofferraum und entnahm ihm Angeln, Kescher, Lunch Boxes in Plastiktüten und diverse andere Utensilien.
[ 8] "Wir fahren in die Berge. Es ist sehr nah." sagte Michael, und der Ausländer verstand nicht. Die Subway Station war neu und geräumig, und die Klimaanlage funktionierte hier wesentlich besser als die Airconditioning im Auto. Michael und der Ausländer setzten sich einander gegenüber, und Sam stellte sich mit den Angeln dazwischen. Er lehnte sich an eine Metallstange und war bald eingeschlafen. Michael und W. sagten nichts, und W. begann, aus dem Fenster zu schauen. Der Zug hatte die Innenstadt bereits verlassen und durchschnitt nun über der Erde die schäbigen Außenbezirke der Stadt. Tatsächlich konnte man die Berge sehen und bereits nach einer halben Stunde hatte man das Fahrziel erreicht.
[ 8] Die drei Männer verließen wortlos die Subway Station und nahmen ein Taxi, welches sie zusammen mit den Angeln, Keschern, Lunch Boxes und anderen Utensilien in die Berge fuhr.
In einer Kurve bremste der Fahrer jäh ab und bog in eine unscheinbare Landstraße, die plötzlich steil hinabschoß und als Sackgasse vor einem protzigen Metalltor endete. Sam zückte seine Remote Control und schien recht stolz über dieses magische ‘Sesam öffne Dich’. Die exklusiven Schätze des Sultans bestanden jedoch nur aus einem recht trüben Swimming Pool sowie einer äußerst schäbig wirkenden Baracke aus grau verwaschenen Betonwänden und einem verrosteten Wellblechdach. Direkt dahinter befand sich ein Gehöft, welches als Schweinestall fungierte. Dies folgerte der Ausländer, als er aus dem Auto stieg, da die stickige Luft von einem Geruch geschwängert war, in dem sich das Schweinische mit dem Fischigen vermischt hatte. Die letztere Komponente entstieg übrigens der Kloake, in der W. fälschlicherweise einen Swimming Pool gesehen hatte, die jedoch ein künstlich angelegter Fischteich war. Um dieses Betonbecken mit der grünlich trüben Flüssigkeit kauerten einige Gestalten, die wohl Angler zu sein schienen. Sie erweckten einen recht schmierigen Eindruck, der eher durch ihre Gestik als durch die Kleidung hervorgerufen wurde. Die Bewegungen dieser Männer hatten etwas negativ Erotisches. Die lässig lutschenden Bewegungen ihrer Betelnuß kauenden Mäuler hatte etwas Fischiges. Hin und wieder spuckten sie in die Kloake, und es war widerlich anzuschauen, wie die Fische nach diesem rötlichen Speichel schnappten und sogar sich schlängelnd darum bekämpften.
[ 8] ‘Wahrscheinlich werden auch diese Fische einen Betelnußgeschmack haben.’ dachte W., der sich in seinem Anzug fehl am Platz fühlte. Er bemerkte, daß Michael sich in dem schäbigen Betonhaus umgezogen hatte und bereits ein Angler geworden war. Sam war ohne weitere Umstände zur Sache gekommen. Er benahm sich, als wäre er der Boß des Unternehmens, welches man übrigens nicht ausschließen konnte.
[ 8] Michael näherte sich dem Ausländer mit einer komplizierten Metallapparatur. "Relax." sagte er. "Here is your gentler." W. setzte sich in die Hocke und zwar so, daß sein Hosenboden die eigenen Hacken, nicht jedoch den dreckigen Beton, berührte. Der Gentler in seinen Händen war ein mörderisches Gerät und wirkte wie eine überdimensionale Mausefalle mit einem polyphonen Gewirr von Drähten und rasiermesserscharfen Widerhaken, an denen sich der Fisch selbst zerfetzen sollte.
[ 8] W. überlegte, warum ein so entsetzliches Gerät ausgerechnet ‘Gentler’ hieß, aber sein Finger hatte sich bereits in dem Gentler verfangen. W. geriet in Panik, da er sich nicht von dem Gentler befreien konnte und sein Finger bereits blutig war. Zum Glück hatte Michael seine Notlage beobachtet und den Gentler mit einer geschickten Bewegung auseinandergeklappt. W. besah sich seinen Finger, konnte jedoch keine Wunde und kein Blut erkennen. Wahrscheinlich hatte der schweinisch fischige Gestank sein Wahrnehmungsvermögen getrübt. "Warum heißt es Gentler?" fragte er Michael. Dieser jedoch schaute ihn verwundert an. "I said: Use it gently." sagte er.
[ 8] Aber nun rief Sam, daß die Lunch Boxes bereit seien. Man begab sich in das kahle Betonhaus, wo eine Plastiktüte mit den Lunch Boxes lieblos in eine Ecke geworfen war. Sam offerierte Zigaretten, die der Ausländer annahm, obwohl er eigentlich ein Nichtraucher war. Michael erzählte von seiner Villa, die sich angeblich in unmittelbarer Nähe befand. Es war ein Traumhaus, aber W. war inzwischen recht skeptisch geworden. Michael jedoch liebte seine Villa. Früher hatte er regelmäßig dort übernachtet, aber in letzter Zeit erlaubte ihm seine Arbeit im Krankenhaus nicht mehr, seine Villa zu besuchen.
[ 8] "Let’s go." sagte er, und W. war froh, den ekelhaften Fischteich verlassen zu können.
Sie durchquerten das schweinische Gehöft, in dessem Lehmhaus jedoch weder Schweine noch Menschen zu erkennen waren. Nur eine offene Tür und ein Fernsehapparat verrieten, daß es bewohnt war. Über eine Hintertreppe gelangten Michael und der Ausländer auf die betonierte Landstraße, und von dort führte ein Kletterweg in den Urwald. "A short cut." sagte Michael. Nichts jedoch ließ auf ein modernes Villenviertel schließen, und W. fühlte sich beklemmt. Der Urwald, der nur an einigen Stellen von verfallenen Gräbern unterbrochen wurde, erschien nur wie eine Fortsetzung der Stadt mit anderen Mitteln. Die schwüle Luft und ein Geruch verwesender Organismen erstickten jedes Gefühl von Besinnlichkeit. An Stelle der Menschen lärmten hier die Zikaden, und statt der Motorräder schlängelten sich giftige Gewächse umeinander. Die ruckartigen Bewegungen der Insekten erschienen als nervöse Verzierungen entzündeter Blüten. Der Ausländer fühlte seinen von Mückenstichen juckenden Körper als eine blühende Entzündung. Er hatte sein Jackett ausgezogen und das Hemd klebte ihm auf der schwitzenden Haut. Auch der Dschungel schwitzte in seiner ewigen Agonie des Lebens und Sterbens. Wäre plötzlich ein Saurier vor ihnen erschienen, so hätte sich W. vielleicht erschreckt, nicht jedoch verwundert.
[ 8] "I love nature." sagte Michael und warf seine Zigarettenkippe auf ein Grab. Der Ausländer schwieg in der stickigen Luft, und Michael informierte ihn über die Grundstückspreise in den Bergen. Im Moment war alles noch recht preisgünstig, aber bestimmt würde sich alles verdoppeln, wenn die neue Autobahn fertig war. Sie war übrigens so gut wie fertig, und da Michaels Villa eine große Garage besaß, hatte er bereits eine Auffahrt aus Beton gießen lassen, die er nun inspizieren wollte.
[ 8] In der Tat hatten die beiden nun wieder die Hauptstraße erreicht, die jedoch keineswegs wie eine Autobahn wirkte. Sie mündete in einen Kreisel, dessen Mitte ein rundes Betonbecken mit grünlicher Flüssigkeit bildete. Es war dies aber kein Fischteich sondern eine Fontaine, die jedoch nur angestellt wurde, wenn jemand ein Haus kaufen wollte, wie Michael mit ironischem Lächeln erklärte. Auch um dieses Becken saßen verschiedene grinsende Gestalten, die Michael auf recht vertrauliche Art grüßte. Den Ausländer stellte er als seinen besten Freund vor.
[ 8] Von dem Kreisel führte ein Schotterweg wieder nach unten und W. erblickte eine Backsteinmauer, hinter der in der Tat eine Villa hervorragte. Diese Villa entsprach in keiner Weise den Vorstellungen W.’s. Er hatte ein weißes exotisches Haus in mediterranem Stil vermutet, fand jedoch eine etwas klobige Festung aus fels-artigem Naturstein vor.
[ 8] Das Innere des Hauses war recht spartanisch eingerichtet, und eine Wand des Wohnzimmers erschien als Imitation eines Weinkellers. Michael präsentierte auch ohne weitere Umstände die besten Chateaus seiner Rotweinsammlung. Er entkorkte sofort die teuerste Flasche, in der sich eine rote Flüssigkeit von essigartigem Geschmack befand.
[ 8] "Chateau de la Cleau 1837." sagte Michael. "I love wine."
[ 8] Übrigens war der Ausländer recht froh, dem Dschungelklima entronnen zu sein. Denn, um seinen Rotwein zu schützen, hatte Michael die Klimaanlage in seinem Chateau 24 Stunden am Tag in Betrieb. Es war so kalt, daß W. sein Jackett wieder anziehen konnte und vielleicht sogar gefroren hätte, wenn er nicht den antiken Weinessig getrunken hätte. Selbst die Imitation eines zünftigen Kamins mit elektrischem ‘Flackern’ erschien nicht unvernünftig gegen diese elekrische Kälte.
[ 8] "Do you like the house?" fragte Michael, und der Ausländer beteuerte es. "Du kannst hier jederzeit wohnen." sagte Michael und legte die Schlüssel auf den Tisch. W. war etwas beschämt und lehnte dies allzu großzügige Angebot ab. Michael jedoch bestand darauf. Es sei eine Verschwendung, daß dieses wunderbare Haus immer leer stünde. Als Arzt habe man nun einmal kein Leben. W. könne jederzeit kommen zum Wandern oder Fischen. Und wenn er sich entspannen wolle, gäbe es Rotwein im Überfluß. Da W. immernoch protestierte, zeigte ihm Michael kurzerhand das Versteck für die Schlüssel. "Just come over." sagte er und beschrieb die genaue Lage seines Chateaus.
[ 8] "Was ist Mycosis Fructoides?" fragte W.
[ 8] "Eine Art Fungoides." sagte Michael nach einer Weile.
[ 8] "Wie ist die Prognose? Gibt es Heilungschancen?"
[ 8] Michael machte eine eigenartige Geste mit seinem Zeigefinger. Er krümmte ihn und streckte ihn wieder, als wenn er eine Pistole abfeuern wollte, und W. erinnerte sich, diese Geste gesehen zu haben, wenn man vom Abkratzen sprach.
[ 8] "Wieso kennst Du diese Krankheit? Sie ist unglaublich selten." fragte Michael.
[ 8] "Eine Schülerin von mir. Sie ist im 89. Stock."
[ 8] "B?" fragte Michael skeptisch. "Ist das nicht Psychiatrie-Neurologie?"
[ 8] Aber W. glaubte zu bemerken, daß Michael in seiner Freizeit nur unwillig von Krankheiten sprach, und schwieg. Michael wollte noch eine zweite Flasche entkorken, aber W. erinnerte sich nun daran, daß er ein Seminar im Kulturzentrum habe und vielleicht vor dem Verkehrsstau in die Stadt zurückfahren müsse.
[ 8] Michael führte den Ausländer zurück zum Kreisel, und dort wartete bereits ein Taxi mit geöffneter Tür.
[ 8] "Kulturzentrum." sagte Michael zum Fahrer. "Kulturzentrum." sagte der Fahrer.
Bereits auf der Hauptstraße, die Michael eine Autobahn genannt hatte, gab es den ersten Stau. Als sie die Außenbezirke der Stadt verlassen hatten, war der Verkehr vollständig zum Erliegen gekommen. Da sie sich jedoch in der Nähe der Subway Station befanden, entschied sich der Ausländer, das Taxi zu verlassen. Um den Fahrer nicht zu verärgern, gab er ihm ein erhöhtes Trinkgeld und drängte sich durch die dschungelartige Masse von Menschen, Motorrädern und Autos zur Subway Station.
[ 8] Auch diese Station war von Menschen gefüllt. Aber ihre Bewegungen hatten das Urwaldartige abgestreift und wirkten zielgerichtet. Die Sterilität der Station schien sich auch durch das Benehmen der Menschen auszudrücken.
[ 8] Da es eine Endstation war, stand der Zug schon bereit. W. begab sich in den vordersten Wagen und war überrascht, noch einen freien Platz zu finden. Bald durchschnitt der Zug wieder die schäbigen Außenbezirke der Stadt. Es entstand ein Gemurmel in dem Wagen, und alle Insassen schienen gleichzeitig miteinander zu sprechen.
[ 8] Doch W. erkannte allmählich, daß niemand miteinander sprach. Jeder redete in ein winziges Handy. Jeder war allein und nur mit einer unsichtbaren Person verbunden. Und trotzdem entstand durch die Gleichheit des Getrenntseins eine Art übergeordneter Rhythmus, dem die Telephonierenden unterworfen schienen.
[ 8] Der Ausländer überlegte, ob er diesen Rhythmus unterbrechen könne und starrte auf ein gegenübersitzendes Mädchen, welches ihn eigenartig beobachtete, während es in sein Handy kicherte.
[ 8] Plötzlich erhob sich das Mädchen und überreichte W. sein Handy. "It’s for you." sagte es, und W. vernahm eine ihm vertraute Stimme. Es war die Stimme von Pa-Yueh, der Freundin Marias. "Herr Lehrer," sagte Pa-Yueh, "Maria läßt grüßen."
[ 8] "Du weißt von ihrer Krankheit?"
[ 8] "Sie ist im Success-Krankenhaus." sagte Pa-Yueh.
[ 8] "Hast Du sie besucht?" fragte W.
[ 8] "Nein. Gehen wir nicht morgen wandern?"
[ 8] "Morgen? Ist es nicht in einem Monat?"
[ 8] "Oh — Herr Lehrer. Du bist wohl betrunken."
[ 8] "Nur eine Flasche Rotwein." Pa-Yueh und W. verabredeten den Treffpunkt für die Wanderung. Offensichtlich hatte Maria bereits alles telephonisch geregelt.
[ 8] Der Ausländer wollte dem Mädchen das Handy zurückreichen, aber das Mädchen saß nicht mehr auf seinem Platz und war offensichtlich bereits ausgestiegen.
[ 8] Die anderen Insassen sprachen ausdruckslos in ihre Handys und kümmerten sich nicht um den Ausländer. W. steckte das Handy in seine Jackettasche
weiter: (Teil 4)
von Rolf-Peter Wille
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[Teil 3]
Fishing
Plötzlich standen sie auf der Straße. Auf dem Bürgersteig patroullierte noch immer der Polizist auf seinem Motorad. Sein Gesicht verkrampfte sich zu einem Grinsen als er den Ausländer am Arm Michaels sah. Und seltsmerweise war es dieses Grinsen, welches W. in die Wirklichkeit zurückrief nach dem entsetzlichen Vorfall im Krankhaus.
[ 8] "This is Sam." sagte Michael zu W. und zeigte auf den Polizisten. Dieser hatte bereits das Motorrad geparkt und kam auf W. zu. "My name is Sam." sagte Sam und hielt dem Ausländer die Hand hin. Es blieb W. nichts anderes übrig, als sie zu schütteln.
[ 8] Dann war er verschwunden, und W. zögerte. Sollte er sich von Michael verabschieden?
[ 8] "I love fishing!" sagte Michael. Aber W. konnte nichts verstehen im Lärm der T. South Allee. Er war eben im Begriff, sich in seinem Anzug fehl am Platz zu fühlen, bemerkte jedoch, daß Michael einen ganz ähnlichen Anzug trug. Beide wirkten wie zwei Geschäftspartner, die auf ihren Driver warten, um zum Business Lunch zu fahren.
[ 8] Übrigens erschien dieser Driver in der Tat, und W. erkannte, daß es Sam war in einem recht schäbigen Auto. Sam stieg aus und öffnete dienstbeflissen die Tür. W. erkannte jetzt seinen Irrtum. Sam war offensichtlich der Driver von Michael und nur als Polizist getarnt. ‘Wenn er schon einen Driver hat, warum kauft er sich kein besseres Auto?’ dachte W.
[ 8] Michael schien die Gedanken des Ausländers zu erraten. Das Auto war eigentlich neu und seine schäbige Erscheinung lediglich Tarnung. Michael erzählte W. mit großer Unbefangenheit seine Privatgeschichte. Als bekannter Arzt war er stets ein Erpressungsopfer der ‘Mafia’ gewesen. Er hatte sich deshalb kurzerhand entschlossen, auf äußere Eleganz zu verzichten. Seine Familie war schon lange in Kalifornien in Sicherheit gebracht. Er fuhr nur noch ein schäbig aussehendes Auto, und um die ‘Mafia’, wie er die Unterwelt nannte, zu besänftigen, hatte er einfach einen Gangster als Driver angestellt. Dieser tarnte sich als Polizist, und so konnte auch die Polizei etwas profitieren. "Es ist eine Art Sozialstaat." erklärte Michael, und Sams Gesicht verkrampfte sich zu einem Grinsen. W. erblickte im Rückspiegel die rote Narbe, welche dieses Grinsen durchzuckte. ‘Vielleicht ist auch diese Narbe nur eine Tarnung.’ dachte er.
[ 8] Michael war in jeder Hinsicht ein ungewöhnlicher Arzt. Da er aus praktischen Gründen auf einige elegante Gebräuche verzichten mußte, hatte er auch mit dem Golfspielen aufgehört. "I hate golf." sagte er. Aber Sam hatte ihn das Fischen gelehrt, und dies war nun seine Leidenschaft geworden. "I love fishing!" sagte Michael. "Just relax."
[ 8] Sam hatte nun das Auto in der Nähe einer Subway Station geparkt, und der Ausländer verstand nicht. Sam öffnete den Kofferraum und entnahm ihm Angeln, Kescher, Lunch Boxes in Plastiktüten und diverse andere Utensilien.
[ 8] "Wir fahren in die Berge. Es ist sehr nah." sagte Michael, und der Ausländer verstand nicht. Die Subway Station war neu und geräumig, und die Klimaanlage funktionierte hier wesentlich besser als die Airconditioning im Auto. Michael und der Ausländer setzten sich einander gegenüber, und Sam stellte sich mit den Angeln dazwischen. Er lehnte sich an eine Metallstange und war bald eingeschlafen. Michael und W. sagten nichts, und W. begann, aus dem Fenster zu schauen. Der Zug hatte die Innenstadt bereits verlassen und durchschnitt nun über der Erde die schäbigen Außenbezirke der Stadt. Tatsächlich konnte man die Berge sehen und bereits nach einer halben Stunde hatte man das Fahrziel erreicht.
[ 8] Die drei Männer verließen wortlos die Subway Station und nahmen ein Taxi, welches sie zusammen mit den Angeln, Keschern, Lunch Boxes und anderen Utensilien in die Berge fuhr.
In einer Kurve bremste der Fahrer jäh ab und bog in eine unscheinbare Landstraße, die plötzlich steil hinabschoß und als Sackgasse vor einem protzigen Metalltor endete. Sam zückte seine Remote Control und schien recht stolz über dieses magische ‘Sesam öffne Dich’. Die exklusiven Schätze des Sultans bestanden jedoch nur aus einem recht trüben Swimming Pool sowie einer äußerst schäbig wirkenden Baracke aus grau verwaschenen Betonwänden und einem verrosteten Wellblechdach. Direkt dahinter befand sich ein Gehöft, welches als Schweinestall fungierte. Dies folgerte der Ausländer, als er aus dem Auto stieg, da die stickige Luft von einem Geruch geschwängert war, in dem sich das Schweinische mit dem Fischigen vermischt hatte. Die letztere Komponente entstieg übrigens der Kloake, in der W. fälschlicherweise einen Swimming Pool gesehen hatte, die jedoch ein künstlich angelegter Fischteich war. Um dieses Betonbecken mit der grünlich trüben Flüssigkeit kauerten einige Gestalten, die wohl Angler zu sein schienen. Sie erweckten einen recht schmierigen Eindruck, der eher durch ihre Gestik als durch die Kleidung hervorgerufen wurde. Die Bewegungen dieser Männer hatten etwas negativ Erotisches. Die lässig lutschenden Bewegungen ihrer Betelnuß kauenden Mäuler hatte etwas Fischiges. Hin und wieder spuckten sie in die Kloake, und es war widerlich anzuschauen, wie die Fische nach diesem rötlichen Speichel schnappten und sogar sich schlängelnd darum bekämpften.
[ 8] ‘Wahrscheinlich werden auch diese Fische einen Betelnußgeschmack haben.’ dachte W., der sich in seinem Anzug fehl am Platz fühlte. Er bemerkte, daß Michael sich in dem schäbigen Betonhaus umgezogen hatte und bereits ein Angler geworden war. Sam war ohne weitere Umstände zur Sache gekommen. Er benahm sich, als wäre er der Boß des Unternehmens, welches man übrigens nicht ausschließen konnte.
[ 8] Michael näherte sich dem Ausländer mit einer komplizierten Metallapparatur. "Relax." sagte er. "Here is your gentler." W. setzte sich in die Hocke und zwar so, daß sein Hosenboden die eigenen Hacken, nicht jedoch den dreckigen Beton, berührte. Der Gentler in seinen Händen war ein mörderisches Gerät und wirkte wie eine überdimensionale Mausefalle mit einem polyphonen Gewirr von Drähten und rasiermesserscharfen Widerhaken, an denen sich der Fisch selbst zerfetzen sollte.
[ 8] W. überlegte, warum ein so entsetzliches Gerät ausgerechnet ‘Gentler’ hieß, aber sein Finger hatte sich bereits in dem Gentler verfangen. W. geriet in Panik, da er sich nicht von dem Gentler befreien konnte und sein Finger bereits blutig war. Zum Glück hatte Michael seine Notlage beobachtet und den Gentler mit einer geschickten Bewegung auseinandergeklappt. W. besah sich seinen Finger, konnte jedoch keine Wunde und kein Blut erkennen. Wahrscheinlich hatte der schweinisch fischige Gestank sein Wahrnehmungsvermögen getrübt. "Warum heißt es Gentler?" fragte er Michael. Dieser jedoch schaute ihn verwundert an. "I said: Use it gently." sagte er.
[ 8] Aber nun rief Sam, daß die Lunch Boxes bereit seien. Man begab sich in das kahle Betonhaus, wo eine Plastiktüte mit den Lunch Boxes lieblos in eine Ecke geworfen war. Sam offerierte Zigaretten, die der Ausländer annahm, obwohl er eigentlich ein Nichtraucher war. Michael erzählte von seiner Villa, die sich angeblich in unmittelbarer Nähe befand. Es war ein Traumhaus, aber W. war inzwischen recht skeptisch geworden. Michael jedoch liebte seine Villa. Früher hatte er regelmäßig dort übernachtet, aber in letzter Zeit erlaubte ihm seine Arbeit im Krankenhaus nicht mehr, seine Villa zu besuchen.
[ 8] "Let’s go." sagte er, und W. war froh, den ekelhaften Fischteich verlassen zu können.
Sie durchquerten das schweinische Gehöft, in dessem Lehmhaus jedoch weder Schweine noch Menschen zu erkennen waren. Nur eine offene Tür und ein Fernsehapparat verrieten, daß es bewohnt war. Über eine Hintertreppe gelangten Michael und der Ausländer auf die betonierte Landstraße, und von dort führte ein Kletterweg in den Urwald. "A short cut." sagte Michael. Nichts jedoch ließ auf ein modernes Villenviertel schließen, und W. fühlte sich beklemmt. Der Urwald, der nur an einigen Stellen von verfallenen Gräbern unterbrochen wurde, erschien nur wie eine Fortsetzung der Stadt mit anderen Mitteln. Die schwüle Luft und ein Geruch verwesender Organismen erstickten jedes Gefühl von Besinnlichkeit. An Stelle der Menschen lärmten hier die Zikaden, und statt der Motorräder schlängelten sich giftige Gewächse umeinander. Die ruckartigen Bewegungen der Insekten erschienen als nervöse Verzierungen entzündeter Blüten. Der Ausländer fühlte seinen von Mückenstichen juckenden Körper als eine blühende Entzündung. Er hatte sein Jackett ausgezogen und das Hemd klebte ihm auf der schwitzenden Haut. Auch der Dschungel schwitzte in seiner ewigen Agonie des Lebens und Sterbens. Wäre plötzlich ein Saurier vor ihnen erschienen, so hätte sich W. vielleicht erschreckt, nicht jedoch verwundert.
[ 8] "I love nature." sagte Michael und warf seine Zigarettenkippe auf ein Grab. Der Ausländer schwieg in der stickigen Luft, und Michael informierte ihn über die Grundstückspreise in den Bergen. Im Moment war alles noch recht preisgünstig, aber bestimmt würde sich alles verdoppeln, wenn die neue Autobahn fertig war. Sie war übrigens so gut wie fertig, und da Michaels Villa eine große Garage besaß, hatte er bereits eine Auffahrt aus Beton gießen lassen, die er nun inspizieren wollte.
[ 8] In der Tat hatten die beiden nun wieder die Hauptstraße erreicht, die jedoch keineswegs wie eine Autobahn wirkte. Sie mündete in einen Kreisel, dessen Mitte ein rundes Betonbecken mit grünlicher Flüssigkeit bildete. Es war dies aber kein Fischteich sondern eine Fontaine, die jedoch nur angestellt wurde, wenn jemand ein Haus kaufen wollte, wie Michael mit ironischem Lächeln erklärte. Auch um dieses Becken saßen verschiedene grinsende Gestalten, die Michael auf recht vertrauliche Art grüßte. Den Ausländer stellte er als seinen besten Freund vor.
[ 8] Von dem Kreisel führte ein Schotterweg wieder nach unten und W. erblickte eine Backsteinmauer, hinter der in der Tat eine Villa hervorragte. Diese Villa entsprach in keiner Weise den Vorstellungen W.’s. Er hatte ein weißes exotisches Haus in mediterranem Stil vermutet, fand jedoch eine etwas klobige Festung aus fels-artigem Naturstein vor.
[ 8] Das Innere des Hauses war recht spartanisch eingerichtet, und eine Wand des Wohnzimmers erschien als Imitation eines Weinkellers. Michael präsentierte auch ohne weitere Umstände die besten Chateaus seiner Rotweinsammlung. Er entkorkte sofort die teuerste Flasche, in der sich eine rote Flüssigkeit von essigartigem Geschmack befand.
[ 8] "Chateau de la Cleau 1837." sagte Michael. "I love wine."
[ 8] Übrigens war der Ausländer recht froh, dem Dschungelklima entronnen zu sein. Denn, um seinen Rotwein zu schützen, hatte Michael die Klimaanlage in seinem Chateau 24 Stunden am Tag in Betrieb. Es war so kalt, daß W. sein Jackett wieder anziehen konnte und vielleicht sogar gefroren hätte, wenn er nicht den antiken Weinessig getrunken hätte. Selbst die Imitation eines zünftigen Kamins mit elektrischem ‘Flackern’ erschien nicht unvernünftig gegen diese elekrische Kälte.
[ 8] "Do you like the house?" fragte Michael, und der Ausländer beteuerte es. "Du kannst hier jederzeit wohnen." sagte Michael und legte die Schlüssel auf den Tisch. W. war etwas beschämt und lehnte dies allzu großzügige Angebot ab. Michael jedoch bestand darauf. Es sei eine Verschwendung, daß dieses wunderbare Haus immer leer stünde. Als Arzt habe man nun einmal kein Leben. W. könne jederzeit kommen zum Wandern oder Fischen. Und wenn er sich entspannen wolle, gäbe es Rotwein im Überfluß. Da W. immernoch protestierte, zeigte ihm Michael kurzerhand das Versteck für die Schlüssel. "Just come over." sagte er und beschrieb die genaue Lage seines Chateaus.
[ 8] "Was ist Mycosis Fructoides?" fragte W.
[ 8] "Eine Art Fungoides." sagte Michael nach einer Weile.
[ 8] "Wie ist die Prognose? Gibt es Heilungschancen?"
[ 8] Michael machte eine eigenartige Geste mit seinem Zeigefinger. Er krümmte ihn und streckte ihn wieder, als wenn er eine Pistole abfeuern wollte, und W. erinnerte sich, diese Geste gesehen zu haben, wenn man vom Abkratzen sprach.
[ 8] "Wieso kennst Du diese Krankheit? Sie ist unglaublich selten." fragte Michael.
[ 8] "Eine Schülerin von mir. Sie ist im 89. Stock."
[ 8] "B?" fragte Michael skeptisch. "Ist das nicht Psychiatrie-Neurologie?"
[ 8] Aber W. glaubte zu bemerken, daß Michael in seiner Freizeit nur unwillig von Krankheiten sprach, und schwieg. Michael wollte noch eine zweite Flasche entkorken, aber W. erinnerte sich nun daran, daß er ein Seminar im Kulturzentrum habe und vielleicht vor dem Verkehrsstau in die Stadt zurückfahren müsse.
[ 8] Michael führte den Ausländer zurück zum Kreisel, und dort wartete bereits ein Taxi mit geöffneter Tür.
[ 8] "Kulturzentrum." sagte Michael zum Fahrer. "Kulturzentrum." sagte der Fahrer.
Bereits auf der Hauptstraße, die Michael eine Autobahn genannt hatte, gab es den ersten Stau. Als sie die Außenbezirke der Stadt verlassen hatten, war der Verkehr vollständig zum Erliegen gekommen. Da sie sich jedoch in der Nähe der Subway Station befanden, entschied sich der Ausländer, das Taxi zu verlassen. Um den Fahrer nicht zu verärgern, gab er ihm ein erhöhtes Trinkgeld und drängte sich durch die dschungelartige Masse von Menschen, Motorrädern und Autos zur Subway Station.
[ 8] Auch diese Station war von Menschen gefüllt. Aber ihre Bewegungen hatten das Urwaldartige abgestreift und wirkten zielgerichtet. Die Sterilität der Station schien sich auch durch das Benehmen der Menschen auszudrücken.
[ 8] Da es eine Endstation war, stand der Zug schon bereit. W. begab sich in den vordersten Wagen und war überrascht, noch einen freien Platz zu finden. Bald durchschnitt der Zug wieder die schäbigen Außenbezirke der Stadt. Es entstand ein Gemurmel in dem Wagen, und alle Insassen schienen gleichzeitig miteinander zu sprechen.
[ 8] Doch W. erkannte allmählich, daß niemand miteinander sprach. Jeder redete in ein winziges Handy. Jeder war allein und nur mit einer unsichtbaren Person verbunden. Und trotzdem entstand durch die Gleichheit des Getrenntseins eine Art übergeordneter Rhythmus, dem die Telephonierenden unterworfen schienen.
[ 8] Der Ausländer überlegte, ob er diesen Rhythmus unterbrechen könne und starrte auf ein gegenübersitzendes Mädchen, welches ihn eigenartig beobachtete, während es in sein Handy kicherte.
[ 8] Plötzlich erhob sich das Mädchen und überreichte W. sein Handy. "It’s for you." sagte es, und W. vernahm eine ihm vertraute Stimme. Es war die Stimme von Pa-Yueh, der Freundin Marias. "Herr Lehrer," sagte Pa-Yueh, "Maria läßt grüßen."
[ 8] "Du weißt von ihrer Krankheit?"
[ 8] "Sie ist im Success-Krankenhaus." sagte Pa-Yueh.
[ 8] "Hast Du sie besucht?" fragte W.
[ 8] "Nein. Gehen wir nicht morgen wandern?"
[ 8] "Morgen? Ist es nicht in einem Monat?"
[ 8] "Oh — Herr Lehrer. Du bist wohl betrunken."
[ 8] "Nur eine Flasche Rotwein." Pa-Yueh und W. verabredeten den Treffpunkt für die Wanderung. Offensichtlich hatte Maria bereits alles telephonisch geregelt.
[ 8] Der Ausländer wollte dem Mädchen das Handy zurückreichen, aber das Mädchen saß nicht mehr auf seinem Platz und war offensichtlich bereits ausgestiegen.
[ 8] Die anderen Insassen sprachen ausdruckslos in ihre Handys und kümmerten sich nicht um den Ausländer. W. steckte das Handy in seine Jackettasche
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