Die Sache mit dem ersten Satz

J.P. Saager gehört zu denen, die Worte suchen, aber nicht finden. Das trifft nicht auf die kompletten Texte seiner zahlreichen Bestseller zu. Es ist ein guter erster Satz, der ihm nicht einfallen will. Der Plot für den neuen Roman steht. Die Handlungsstränge, Erzählperspektive, Charaktere, das ist alles in trockenen Tüchern, J.P. Saager könnte jederzeit loslegen. Und nun so etwas. Schon seit Wochen hat er diesen Hänger, ihm fällt kein perfekter erster Satz ein. Dabei wäre ein gelungener Einstieg das ideale Entrée für den Leser, der Anreiz, sich direkt in die Geschichte zu begeben.

Stark frustriert ruft J. P. einen befreundeten Kollegen an, der für seine Formulierungsstärke bekannt ist. Dieser ist hocherfreut, von seinem berühmten Kollegen um Rat gefragt zu werden. Nach einem brutal langen Telefongespräch ist J.P. bestens über den Vorrat an guten ersten Sätzen des Kollegen informiert. Dieser besitzt offensichtlich unzählbar viele davon, kann bezeichnenderweise aber nur einen einzigen fertigen Roman in vierunddreißig Jahren vorweisen. Allerdings scheint der Kollege auch ein Problem zu haben, eben an anderer Stelle. Seine Ratschläge mögen gut gemeint sein, aber helfen können sie J.P. nicht, denn er möchte sein neues Werk nicht mit einem Plagiat beginnen. Der frustrierte Erfolgsautor wählt eine andere Option, um so die Blockade zu lösen. Zunächst stellt er seine Lebensgewohnheiten um. Statt ausschließlich spät am Abend, will er nun schon morgens, direkt nach dem Frühstück mit dem Schreiben beginnen. Die bisher obligatorischen abendlichen zwei bis drei Gläser Rotwein streicht er ersatzlos; einen Erfolg erzielt er dadurch nicht. Im Gegenteil, er hat den Eindruck, eher noch stärker blockiert zu sein. Inzwischen kommt ihm der Gedanke, es könne an seinem Alter liegen, seine vierundsiebzig Jahre fühlen sich nun auf einmal fürchterlich alt an. Aber das kann es doch nicht gewesen sein, nach siebenundzwanzig international erfolgreichen Romanen einfach so zu scheitern? Und überhaupt, er versteht seine jetzige Verbohrtheit nicht, er wähnt sich längst im Zustand einer altersmilden Gelassenheit. Wie auch immer, er will diesen verfluchten ersten Satz.

Und J.P. unternimmt weitere Versuche, den Durchbruch zu schaffen. Zuerst versucht er es mit Sport, er war früher ja ein beachtlicher Schwimmer. Aber den Unterschied zwischen Früher und Heute stellt er schnell fest. Es müsste wohl eher etwas Ruhigeres sein, etwas, das von innen heraus wirkt. Und so landet er erst bei Tai-Chi und dann bei Yoga. Siehe da, schon nach wenigen Wochen kann er feststellen, er ist entspannter. Seine Blockade ist jedoch nicht überwunden; nur stört ihn diese jetzt nicht mehr. Doch das war es nicht, was er erreichen wollte.

An einem seiner erfolglosen Tage voller vergeblicher Schreibversuche, es ist ein milder Samstagabend im Herbst, verlässt J.P. seine Wohnung, um sich ins Kneipenleben zu stürzen. Das hat er schon lange nicht mehr getan, vielleicht hilft ihm das ja weiter. Fußläufig zu seiner Wohnung gibt es zahlreiche Gaststätten, in denen er Ablenkung finden könnte. Hier, am Rande des Hamburger Uni-Viertels, steuert er ein Lokal an, aus dem Gesprächsfetzen und Lachen in verträglicher Lautstärke an sein Ohr dringen. Er betritt die gut besuchte Kneipe und nimmt am hinteren Ende des Tresens platz. Die Entspannung setzt zügig ein. Nach ein, zwei Gläsern Bier fühlt er sich deutlich wohler. Hat ihm möglicherweise eine solche Umgebung mit einem gepflegten Getränk gefehlt? J.P. will es nicht ausschließen und gönnt sich noch einen seiner Lieblingsgetränke, einen Ron Botucal, einundzwanzig Jahre im Fass gereift – ein Genuss. In dem Moment, als er sich nach einem möglichen Gesprächspartner umsieht, schlängelt sich eine Frau an ihm vorbei und nimmt auf dem Hocker neben ihm platz. J.P. kann in seinem Alter mit solch einer Situation entspannter umgehen, seit er nicht mehr den Reflex verspürt, ansehnliche Weiblichkeit automatisch anzuflirten. Er bietet der Dame, wesentlich jünger als er, aber keine ganz junge Frau mehr, ein Getränk an. Von seiner ungezwungenen Art angetan, nimmt diese die Einladung an und deutet auf sein Glas Botucal Rum. Gemeinsame Vorlieben bei Getränken, so etwas verbindet, denkt der nun entspannte Literat. Und so kommt es völlig unverkrampft zu einem anregenden Gespräch zwischen den beiden.

Wie sich herausstellt, ist Elena Kastor an diesem Abend aus einem ähnlichen Grund unterwegs wie er. J.P. erfährt, dass sie Werbetexterin in einer großen Agentur ist und eine Hemmung sie aktuell in ihrer Kreativität blockiert; ihr will der passende Slogan für die Werbekampagne eines wichtigen Kunden partout nicht einfallen. Beider ähnliche Ausgangssituationen lassen das Gespräch schnell intensiv werden; bald können sie über die verbindende Zufälligkeit ihrer Probleme lachen. J.P. und Elena verbringen einen sehr unterhaltsamen Abend miteinander; ihre beruflich bedingten Blockaden lösen sich allerdings nicht. Etwas angetrunken, aber noch unter Kontrolle, verabschieden sie sich in den frühen Morgenstunden voneinander. Auch dieses Auseinandergehen verläuft locker, aber herzlich. Nicht einmal Telefonnummern oder E-Mailadressen tauschen sie aus, vielleicht trifft man sich ja wieder einmal, rein zufällig, einfach so, wie an diesem Samstagabend im Oktober.

Ziemlich genau ein Jahr später. J.P. Saagers neuer Roman ist soeben erschienen. Passend zu diesem Zeitpunkt kommt es zu einer Duplizität der Ereignisse. Der Tag der Erstveröffentlichung von J.Ps neuem Roman ist auch exakt der Tag, an dem eine große Hamburger Werbeagentur, unter der Federführung einer Elena Kastor, eine bundesweite Werbekampagne für eine japanische Automarke mit einem viel beachtetem Werbespruch startet. Der Slogan besteht aus den gleichen Worten wie der erste Satz aus J.P. Saagers neuem Buch: „Nichts ist unmöglich.“
 



 
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