Die schwarze Eliza

Die schwarze Eliza
oder
Der alte Mann und der Mississippi

Erwin war Teilnehmer eines VHS-Kurses, in dem sich eine Gruppe von Hobbydichtern zusammen gefunden hatte. Die Leiterin, eine ehemalige Deutschlehrerin, überraschte die Truppe mit der Mitteilung, dass sie sich selbständig machen und eine Privatschule gründen wolle. Die Räume seien schon angemietet und ein paar Lehrer hätte sie auch schon an der Leine.
„Das nächste Mal treffen wir uns an meiner zukünftigen Wirkungsstätte. Wir können da noch nicht rein, aber wir versammeln uns im Hof“.


Wir – das waren zwölf Personen – überwiegend Frauen – hatten sich an einem hübsch dekorierten langen Tisch niedergelassen und erwarteten die Chefin. Sie kam nicht allein sondern in Begleitung einer dunkelhäutigen Schönheit, die uns Isolde als Jackie vorstellte.
Allerliebst sah sie aus, die Jackie – mit ihren gepflegten Rasta-Zöpfchen. Sie saß Erwin genau gegenüber und verwirrte ihn höchst angenehm. Isolde kam zur Sache: „Jetzt erst mal zur Eröffnungsfeier meiner Schule. Die findet am Samstag den 30. Juli um 10 Uhr statt. Ich erwarte eine ganze Menge Gäste. Den Ablauf stelle mir so vor: Nach meiner kleinen Ansprache trägt jeder von euch ein Gedicht oder eine Kurzgeschichte vor. Und auf dich, Erwin, habe ich ein Attentat. Du bist doch Keyboardspieler. Und Jackie ist Gospel- und Musicalsängerin. Du verstehen, was ich meinen?“
Erwin war sprachlos. Sie beide sollten also den musikalischen Rahmen der Eröffnungsfeier liefern. Jackie ergriff das Wort:
„Du musst keine Angst haben, ich werde was singen, was die allermeisten von euch kennen“. (was für herrlich weiße Zähne sie hatte!).
Erwin hatte sich schon entschieden. Die Aussicht, mit dieser exotischen Perle allein zu sein, war einfach zu verlockend. “Ihr beide könnt euch nachher noch miteinander absprechen“, sagte Isolde, „jetzt erst mal zurück zum Normalprogramm. Wer hat was Neues auf Lager?“ Erwin trug seine neueste Kreation vor, Jackie spitzte die Ohren.
Zwischendurch stärkte sich die Gemeinde an leckeren Wurst- und Käseplatten. Wer nicht fahrtüchtig sein musste, genoss auch den Bergsträßer Wein.
Am Ende der Veranstaltung nahm Erwin Jackie beiseite und sagte ihr, dass auch in seinem Notenschatz eine ganze Reihe von Songs verborgen seien, die ihr zusagen könnten. Er wollte die Initiative behalten und sich nicht auf etwas einlassen, was nachher doch nicht klappte.
„Bring mit“, sagte Jackie. „Wenn’s dir recht ist, können wir ubermorgen Nachmittag um 15 Uhr unsere erste Probe abhalten.“
„Passt mir gut Jackie, also bis ubermorgen“. Ein herrlicher Sprachfehler! „Deine Adresse?“ „Jaqueline Blacksmith, Promenadenstraße 5, mein Name steht an der Klingel“.

Ein mächtig verwinkelter Wohnblock! Sie hatte sich gut versteckt. Nun stand er mit seinem Keyboard vor der Tür ihres Apartments.
Bei Durchsicht seiner Noten war er auf Gershwins 'Summertime' gestoßen, und dann hatte er noch etwas gefunden, was sie ganz sicher kannte: zwei Gospels, die eine ausdrucksstarke Interpretation verlangten. Ein Naturtalent wie Jackie würde damit keine Schwierigkeiten haben, und mit ' Ol' man river' wohl auch nicht.
Die Tür ging auf. "Hallo, Erwin, komm rein, du bist so punktlich wie der Maurer". Sie strahlte ihn an. Er registrierte es mit gespielter Zurückhaltung. Die kleine sprachliche Unebenheit war ihm natürlich nicht entgangen. Für so was war er besonders empfänglich. Schätzungsweise war sie gut dreißig Jahre jünger als er.
Man wurde sachlich. Er packte sein Keyboard aus, eine passende Steckdose wurde gefunden, und dann kam Erwin mit seinen Vorschlägen. Summertime? O ja, das ist gut! Go down Moses? Das ist auch gut! Das machen wir! Ol' man river? Das nicht. Das ist was für Männerstimme.
Er hatte sich unauffällig ein wenig umgesehen. Da stand ein Barren. Er sah Jackie fragend an. „Ja, ich bin auch Tänzerin. Den brauche ich fur meine täglichen Reck- und Streckubungen“.
Nun ging es um die Tonart. Für eine Sängerin gibt es immer nur eine beste. Er machte ein paar Blindübungen, und dann sang sie mit. Welch ein kräftiges warmes Organ! Damit würde sie den Ol' man spielend meistern. Aber den wollte sie ja nicht haben.
„Womit fangen wir an?“, fragte Erwin.
„Am besten starten wir mit ’Oh when the saints go marching in’. Das ist was Flottes und immer wieder schön“.
Auf einmal sang sie so merkwürdig gegen den Rhythmus. Musste er sich etwa anpassen? Sie erriet seine Gedanken. "Weitermachen", befahl sie. Natürlich: Nur sie und ihresgleichen, ihre Brüder und Schwestern, sind wohl in der Lage, metronomgenau zu fühlen und gleichzeitig gegen den Takt zu singen, wenn es zur Stimmung passt. Er fühlte sich an den Mississippi versetzt.
Nach drei Durchgängen waren sie fast perfekt. Auch 'Go down Moses', was sie mit besonderer Inbrunst vortrug, war abgehakt.
'Summertime', einer von Erwins Lieblingsohrwürmern kam an die Reihe. Nach einigen Anlaufschwierigkeiten klappte es schon recht gut. Aber dann ... 'Wo bist du mit deinen Gedanken, Erwin?" Es waren nur drei Sekunden, doch Jackie hatte seine Abwesenheit bemerkt.
Er lächelte sie an. Er hatte mit ihr im Mississippi geplanscht. Ein schöner Traum ...
Jackie überlegte. Bis jetzt hatten sie gerade mal drei Stücke für ihr Programm. Etwas wenig für einen Auftritt. Jackie schlug eine Pause vor.
Wieder fiel sein Blick auf den Barren. "Soll ich mal, Erwin?" Das war eine rhetorische Frage, denn schon schwang sie sich geschmeidig wie eine Katze daran empor. Er war hingerissen von ihrer Kür. Danach war sie aber doch aus der Puste. "Jetzt stärken wir uns erst mal", meinte sie, "du magst doch einen Snack?" Als er dankend ablehnte, fragte sie schelmisch "Oder Rosinen?" Das war wohl nicht ernst gemeint, aber nun bestand er darauf. Lachend ging sie in die Küche und holte welche. Nun futterten sie beide aus einer Schüssel und grinsten sich an.
Und dann erzählte er ihr von seinen geräteturnerischen Leistungen, die er während seiner Schulzeit vollbracht hatte, wie er lieber auf Bock und Pferd sitzen geblieben war, anstatt rüberzuspringen. Auch hätte er Jahre gebraucht, bis es ihm gelang, die schulischen Kletterstangen zu erklimmen. Jackie kicherte vor Vergnügen.
Die Pause war zu Ende. Jackie breitete ihre gesamten Notenschätze auf dem Fußboden aus. Sie brauchten unbedingt noch was Flottes als eventuelle Zugabe. Bei der gemeinsamen Wühlerei merkte sie gar(?) nicht, dass sie ihn ein wenig berührte ... Dann hatten sie das Richtige gefunden: 'When you're smiling'. Für Erwin was Neues, aber nicht allzu schwierig. Immerhin dauerte es fast eine halbe Stunde, bis sie mit seinem Spiel einverstanden war.
„Wann sehen wir uns wieder? Vielleicht wieder ubermorgen um 15 Uhr?“
„Ja du Schuft“. Sie hatte geschaltet.
Als er sich - schon draußen vor der Türschwelle - von ihr verabschiedete, hatte er das sichere Gefühl, dass sie genau wusste, dass sie ihm einen unvergesslichen Nachmittag bereitet hatte. Ihr spitzbübisches Lächeln verriet es.


Die Generalprobe verlief nicht ganz nach Wunsch. An ’Summertime’ mussten sie noch ziemlich feilen. Jackie war ein Perfektionist. „Erwin, du spielst schon wieder zu schnell“.
Sie hatte recht. Damit sie ihre herrliche Stimme richtig entfalten konnte, musste man ihr Zeit lassen.
’Go down Moses’ entsprach auch noch nicht ganz ihren Wünschen. Hier gehörten noch ein paar Spezialeffekte rein, die Erwins Anpassungsvermögen auf eine harte Probe stellten. Und die Saints mussten noch ein paar Mal einmarschieren, ehe sie den richtigen Tritt hatten.
Geschafft! „Jetzt machen wir Schluss mit der Uberei“, verkündete Jackie, aber du bleibst doch noch ein bisschen?“
Erwin grinste.
„Komm setz dich zu mir auf die Couch“. Das ließ sich Erwin nicht zweimal sagen. Er zupfte sie an einem Zöpfchen.
„Ich soll dich wohl verführen?“, schäkerte Jackie.
„Du bist schon mitten drin“.
„Was heißt das?“
„Das heißt, du bist schon dabei“.
„In der Mitte drin, wo dabei?“.
„Oh Eliza, oh Piroschka!“ Erwin kriegte einen Lachanfall.
„Was soll das? Eliza, Piroschka – ich verstehe nicht, was Du meinst.
Er setzte sich an das noch eingeschaltete Keyboard.
Jackie strahlte. Sie hatte verstanden und schmetterte
’Es grünt so grün, wenn Spaniens Blüten blühn’
Na so was!
„Jackie, ich denke du kannst kein ’Ü’ sprechen?“
„Kann ich auch nicht, und es hat lange gedauert, bis ich es singen konnte“.
Pause.
„Erwin, du bist ein Lump.“ Sie knuffte Erwin in die Seite.
„Was ist mit der Piroschka?“
„Das ist ein ganz liebes, lustiges üngarisches Mädchen“, frotzelte Erwin.
Jetzt fiel sie über ihn her und balgte sich mit ihm. Dann ließen sie sich auf die Couch fallen. Jackie kuschelte sich an ihn und spitzte die Lippen.
Er tippte auf seinen Ehering. „Lass uns vernünftig sein“.
„Du bist ein Feigerling“.
Nun war’s um Erwin geschehen. Er wollte kein Feigerling sein. Er nahm sie fest in die Arme und dann verfielen sie in den Rausch der Sinne. Ihre fordernden Lippen verschmolzen mit seinen Küssen. Er ergab sich ihr vollkommen, der Vulkan war ausgebrochen. Aber als sie die Knöpfe seines Oberhemds lösen wollte, wurde es ihm doch zu heiß und er flüchtete sich an sein Keyboard.
Jackie war wie versteinert. Und dann schwebten die Töne des ’O’l man river’ durch den Raum.
Jackie war erwacht. Sie umfasste ihn von hinten und fragte zärtlich: „Erwin, bist du ein o’l man?“
„Ja, das bin ich – und für dich viel zu alt“.
„Und ich bin in vierzehn Tagen in New Orleans – fur immer. Die Container fur meine Möbel sind schon bestellt“.
Erwin fiel aus allen Wolken, er musste schlucken.
„Wusste Isolde davon, als wir uns zum ersten Mal begegneten?“
„Ja, ich hab’s ihr erzählt“.
„ Dann sehen wir uns wohl am 30. Juli zum letzten Mal – bei unserm Auftritt?“
„Ja, Erwin, und den werden wir nie vergessen“.

Der große Tag war gekommen. Erwin war sehr aufgeregt. Als Isolde ihre Ansprache gehalten hatte (die Zahl der Gäste war deutlich niedriger als sie sich erhoffte), wurden die ersten Gedichte verlesen. Aber Erwin war völlig auf Jackie fixiert, hoffentlich enttäuschte er sie nicht.
Mit ’When the saints go marching in’ war der Bann gebrochen, und die Veranstaltung lief reibungslos über die Bühne. Noch zwei Gruppenfotos, und Erwin packte sein Keyboard ein.
Alles war im Aufbruch. Da aber zog ihn Jackie in einen Nebenraum und sie fielen sich um den Hals. Sie versprachen sich, immer aneinander zu denken.
 
Die schwarze Eliza
oder
Der alte Mann und der Mississippi

Erwin war Teilnehmer eines VHS-Kurses, in dem sich eine Gruppe von Hobbydichtern zusammen gefunden hatte. Die Leiterin, eine ehemalige Deutschlehrerin, überraschte die Truppe mit der Mitteilung, dass sie sich selbständig machen und eine Privatschule gründen wolle. Die Räume seien schon angemietet und ein paar Lehrer hätte sie auch schon an der Leine.
„Das nächste Mal treffen wir uns an meiner zukünftigen Wirkungsstätte. Wir können da noch nicht rein, aber wir versammeln uns im Hof“.

Wir – das waren zwölf Personen – überwiegend Frauen – hatten sich an einem hübsch dekorierten langen Tisch niedergelassen und erwarteten die Chefin. Sie kam nicht allein sondern in Begleitung einer dunkelhäutigen Schönheit, die uns Isolde als Eliza vorstellte.
Allerliebst sah sie aus, die Eliza – mit ihren gepflegten Rasta-Zöpfchen. Sie saß Erwin genau gegenüber und verwirrte ihn höchst angenehm. Isolde kam zur Sache: „Jetzt erst mal zur Eröffnungsfeier meiner Schule. Die findet am Samstag den 30. Juli um 10 Uhr statt. Ich erwarte eine ganze Menge Gäste. Den Ablauf stelle mir so vor: Nach meiner kleinen Ansprache trägt jeder von euch ein Gedicht oder eine Kurzgeschichte vor. Und auf dich, Erwin, habe ich ein Attentat. Du bist doch Keyboardspieler. Und Eliza ist Gospel- und Musicalsängerin. Du verstehen, was ich meinen?“
Erwin war sprachlos. Sie beide sollten also den musikalischen Rahmen der Eröffnungsfeier liefern. Eliza ergriff das Wort:
„Du musst keine Angst haben, ich werde was singen, was die allermeisten von euch kennen“. (was für herrlich weiße Zähne sie hatte!).
Erwin hatte sich schon entschieden. Die Aussicht, mit dieser exotischen Perle allein zu sein, war einfach zu verlockend. “Ihr beide könnt euch nachher noch miteinander absprechen“, sagte Isolde, „jetzt erst mal zurück zum Normalprogramm. Wer hat was Neues auf Lager?“ Erwin trug seine neueste Kreation vor, Eliza spitzte die Ohren.
Zwischendurch stärkte sich die Gemeinde an leckeren Wurst- und Käseplatten. Wer nicht fahrtüchtig sein musste, genoss auch den Bergsträßer Wein.
Am Ende der Veranstaltung nahm Erwin Eliza beiseite und sagte ihr, dass auch in seinem Notenschatz eine ganze Reihe von Songs verborgen seien, die ihr zusagen könnten. Er wollte die Initiative behalten und sich nicht auf etwas einlassen, was nachher doch nicht klappte.
„Bring mit“, sagte Eliza. „Wenn’s dir recht ist, können wir ubermorgen Nachmittag um 15 Uhr unsere erste Probe abhalten.“
„Passt mir gut Eliza, also bis ubermorgen“. Ein herrlicher Sprachfehler! „Deine Adresse?“ „Eliza Blacksmith, Promenadenstraße 5, mein Name steht an der Klingel“.

Ein mächtig verwinkelter Wohnblock! Sie hatte sich gut versteckt. Nun stand er mit seinem Keyboard vor der Tür ihres Apartments.
Bei Durchsicht seiner Noten war er auf Gershwins 'Summertime' gestoßen, und dann hatte er noch etwas gefunden, was sie ganz sicher kannte: zwei Gospels, die eine ausdrucksstarke Interpretation verlangten. Ein Naturtalent wie Eliza würde damit keine Schwierigkeiten haben, und mit ' Ol' man river' wohl auch nicht.
Die Tür ging auf. "Hallo, Erwin, komm rein, du bist so punktlich wie der Maurer". Sie strahlte ihn an. Er registrierte es mit gespielter Zurückhaltung. Die kleine sprachliche Unebenheit war ihm natürlich nicht entgangen. Für so was war er besonders empfänglich. Schätzungsweise war sie gut dreißig Jahre jünger als er.
Man wurde sachlich. Er packte sein Keyboard aus, eine passende Steckdose wurde gefunden, und dann kam Erwin mit seinen Vorschlägen. Summertime? O ja, das ist gut! Go down Moses? Das ist auch gut! Das machen wir! Ol' man river? Das nicht. Das ist was für Männerstimme.
Er hatte sich unauffällig ein wenig umgesehen. Da stand ein Barren. Er sah Eliza fragend an. „Ja, ich bin auch Tänzerin. Den brauche ich fur meine täglichen Reck- und Streckubungen“.
Nun ging es um die Tonart. Für eine Sängerin gibt es immer nur eine beste. Er machte ein paar Blindübungen, und dann sang sie mit. Welch ein kräftiges warmes Organ! Damit würde sie den Ol' man spielend meistern. Aber den wollte sie ja nicht haben.
„Womit fangen wir an?“, fragte Erwin.
„Am besten starten wir mit ’Oh when the saints go marching in’. Das ist was Flottes und immer wieder schön“.
Auf einmal sang sie so merkwürdig gegen den Rhythmus. Musste er sich etwa anpassen? Sie erriet seine Gedanken. "Weitermachen", befahl sie. Natürlich: Nur sie und ihresgleichen, ihre Brüder und Schwestern, sind wohl in der Lage, metronomgenau zu fühlen und gleichzeitig gegen den Takt zu singen, wenn es zur Stimmung passt. Er fühlte sich an den Mississippi versetzt.
Nach drei Durchgängen waren sie fast perfekt. Auch 'Go down Moses', was sie mit besonderer Inbrunst vortrug, war abgehakt.
'Summertime', einer von Erwins Lieblingsohrwürmern kam an die Reihe. Nach einigen Anlaufschwierigkeiten klappte es schon recht gut. Aber dann ... 'Wo bist du mit deinen Gedanken, Erwin?" Es waren nur drei Sekunden, doch Eliza hatte seine Abwesenheit bemerkt.
Er lächelte sie an. Er hatte mit ihr im Mississippi geplanscht. Ein schöner Traum ...
Eliza überlegte. Bis jetzt hatten sie gerade mal drei Stücke für ihr Programm. Etwas wenig für einen Auftritt. Eliza schlug eine Pause vor.
Wieder fiel sein Blick auf den Barren. "Soll ich mal, Erwin?" Das war eine rhetorische Frage, denn schon schwang sie sich geschmeidig wie eine Katze daran empor. Er war hingerissen von ihrer Kür. Danach war sie aber doch aus der Puste. "Jetzt stärken wir uns erst mal", meinte sie, "du magst doch einen Snack?" Als er dankend ablehnte, fragte sie schelmisch "Oder Rosinen?" Das war wohl nicht ernst gemeint, aber nun bestand er darauf. Lachend ging sie in die Küche und holte welche. Nun futterten sie beide aus einer Schüssel und grinsten sich an.
Und dann erzählte er ihr von seinen geräteturnerischen Leistungen, die er während seiner Schulzeit vollbracht hatte, wie er lieber auf Bock und Pferd sitzen geblieben war, anstatt rüberzuspringen. Auch hätte er Jahre gebraucht, bis es ihm gelang, die schulischen Kletterstangen zu erklimmen. Eliza kicherte vor Vergnügen.
Die Pause war zu Ende. Eliza breitete ihre gesamten Notenschätze auf dem Fußboden aus. Sie brauchten unbedingt noch was Flottes als eventuelle Zugabe. Bei der gemeinsamen Wühlerei merkte sie gar(?) nicht, dass sie ihn ein wenig berührte ... Dann hatten sie das Richtige gefunden: 'When you're smiling'. Für Erwin was Neues, aber nicht allzu schwierig. Immerhin dauerte es fast eine halbe Stunde, bis sie mit seinem Spiel einverstanden war.
„Wann sehen wir uns wieder? Vielleicht wieder ubermorgen um 15 Uhr?“
„Ja du Schuft“. Sie hatte geschaltet.
Als er sich - schon draußen vor der Türschwelle - von ihr verabschiedete, hatte er das sichere Gefühl, dass sie genau wusste, dass sie ihm einen unvergesslichen Nachmittag bereitet hatte. Ihr spitzbübisches Lächeln verriet es.

Die Generalprobe verlief nicht ganz nach Wunsch. An ’Summertime’ mussten sie noch ziemlich feilen. Eliza war ein Perfektionist. „Erwin, du spielst schon wieder zu schnell“.
Sie hatte recht. Damit sie ihre herrliche Stimme richtig entfalten konnte, musste man ihr Zeit lassen.
’Go down Moses’ entsprach auch noch nicht ganz ihren Wünschen. Hier gehörten noch ein paar Spezialeffekte rein, die Erwins Anpassungsvermögen auf eine harte Probe stellten. Und die Saints mussten noch ein paar Mal einmarschieren, ehe sie den richtigen Tritt hatten.
Geschafft! „Jetzt machen wir Schluss mit der Uberei“, verkündete Eliza, aber du bleibst doch noch ein bisschen?“
Erwin grinste.
„Komm setz dich zu mir auf die Couch“. Das ließ sich Erwin nicht zweimal sagen. Er zupfte sie an einem Zöpfchen.
„Ich soll dich wohl verführen?“, schäkerte Eliza.
„Du bist schon mitten drin“.
„Was heißt das?“
„Das heißt, du bist schon dabei“.
„In der Mitte drin, wo dabei?“.
„ Oh my darling , oh Eliza!“ Erwin kriegte einen Lachanfall.
„Was soll das? Ich verstehe nicht, was Du meinst“.
Er setzte sich an das noch eingeschaltete Keyboard. Nach den ersten drei Takten brach er ab und schaute Eliza erwartungsvoll an. Eliza zuckte mit den Schultern. Erwin setzte noch einmal an. Ein Strahlen ging über ihr Gesicht und dann schmetterte sie
’Es grünt so grün, wenn Spaniens Blüten blühn’
Na so was!
„Eliza, ich denke du kannst kein ’Ü’ sprechen?“
„Kann ich auch nicht, und es hat lange gedauert, bis ich es singen konnte“.
Pause.
„Erwin, du bist ein Lump.“ Sie knuffte ihn in die Seite, fiel über ihn her und balgte sich mit ihm. Dann ließen sie sich auf die Couch fallen. Eliza kuschelte sich an ihn und spitzte die Lippen.
Er tippte auf seinen Ehering. „Lass uns vernünftig sein“.
„Du bist ein Feigerling“.
Nun war’s um Erwin geschehen. Er wollte kein Feigerling sein. Er nahm sie fest in die Arme und dann verfielen sie in den Rausch der Sinne. Ihre fordernden Lippen verschmolzen mit seinen Küssen. Er ergab sich ihr vollkommen, der Vulkan war ausgebrochen. Aber als sie die Knöpfe seines Oberhemds lösen wollte, wurde es ihm doch zu heiß und er flüchtete sich an sein Keyboard.
Eliza war wie versteinert. Und dann schwebten die Töne des ’O’l man river’ durch den Raum.
Eliza war erwacht. Sie umfasste ihn von hinten und fragte zärtlich: „Erwin, bist du ein o’l man?“
„Ja, das bin ich – und für dich viel zu alt“.
„Und ich bin in vierzehn Tagen in New Orleans – fur immer. Die Container fur meine Möbel sind schon bestellt“.
Erwin fiel aus allen Wolken, er musste schlucken.
„Wusste Isolde davon, als wir uns zum ersten Mal begegneten?“
„Ja, ich hab’s ihr erzählt“.
„ Dann sehen wir uns wohl am 30. Juli zum letzten Mal – bei unserm Auftritt?“
„Ja, Erwin, und den werden wir nie vergessen“.

Der große Tag war gekommen. Erwin war sehr aufgeregt. Als Isolde ihre Ansprache gehalten hatte (die Zahl der Gäste war deutlich niedriger als sie sich erhoffte), wurden die ersten Gedichte verlesen. Aber Erwin war völlig auf Eliza fixiert, hoffentlich enttäuschte er sie nicht.
Mit ’When the saints go marching in’ war der Bann gebrochen, und die Veranstaltung lief reibungslos über die Bühne. Noch zwei Gruppenfotos, und Erwin packte sein Keyboard ein.
Alles war im Aufbruch. Da aber zog ihn Eliza in einen Nebenraum und sie fielen sich um den Hals. Abschied für immer.
 



 
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